Alan Turing: Der Geist in der universellen Rechenmaschine
Im Mai 1926 legte ein Generalstreik Großbritanniens Eisenbahnen lahm. Doch das brachte den 13-jährigen Alan Turing nicht um den ersten Tag an seiner neuen Schule: Er radelte die 60 Meilen von Southampton nach Sherborne und erwarb sich unter Mitschülern prompt den Ruf eines Exzentrikers.
Diese Reputation blieb ihm noch lange erhalten. Als schäbig gekleideter, Nägel kauender und mitunter stotternder "Prof" kannte man ihn rund zwölf Jahre später in Bletchley Park, einem Landsitz nahe London, wo im Zweiten Weltkrieg der deutsche Nachrichtenverkehr entschlüsselt wurde. Der etwas schräge Mathematiker trug dort maßgeblich zum Knacken des deutschen Enigma-Kodes bei.
Geknackt hatte er zuvor aber auch ein mathematisches Jahrhunderträtsel. Und weil er die Lösung nicht in Form unanschaulicher Formeln niederschrieb, sondern als einen Bauplan für eine Art Mathematikmaschine, legte er wie nebenbei einen entscheidenden Grundstein für moderne Computer. "Informatiker nutzen die Turing-Maschine bis heute als Modell, um zu verstehen, ob und wie sich Probleme möglichst effizient mit Computerprogrammen lösen lassen", sagt Till Tantau, Informatiktheoretiker an der Uni Lübeck.
Schwierige Entscheidung
Am Anfang dieser Erfolgsgeschichte steht der Frust der Mathematikerelite der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Allzu oft versuchten sie, einen mathematischen Satz zu beweisen, nur um nach endlosen Disputen aufgeben zu müssen. Nie wussten sie im Voraus, ob der Satz überhaupt beweisbar ist. Einer der Frustrierten, der deutsche Mathematiker David Hilbert, wünschte sich daher ein Testverfahren, das nach Schema F ablief und mit wenig Rechenaufwand vorab beschied, ob das Theorem beweisbar ist oder nicht.
Der am King's College in Cambridge forschende Turing wagte sich an dieses so genannte Entscheidungsproblem. Er hatte eine originelle Idee: Was wäre, wenn man eine Maschine hätte, welche alle elementaren Rechenschritte, die ein Mensch ausführen kann, in einer programmierten Reihenfolge abarbeiten und somit alles, was überhaupt berechenbar ist, berechnen könnte – auch mathematische Beweise? Eine solche Maschine müsste auch ausrechnen können, ob ein Satz beweisbar ist – falls sich das überhaupt berechnen lässt.
Was macht ein Mensch, wenn er rechnet, fragte sich Turing. Was sind die elementaren Schritte dieses Vorgangs? Der "Computer", wie man in England damals Menschen nannte, die in Ingenieurbüros monotone Rechenarbeit erledigten, las, schrieb und löschte Symbole auf Papier. Zwischendurch verarbeitete er die gelesenen Zeichen im Gehirn und bewegte den Bleistift oder Radiergummi zu der Stelle auf dem Papier, an der er das nächste Symbol setzte oder es löschte.
Daten und Befehle auf einem Band
Turing entwarf gedanklich eine Maschine, die all das auch konnte. Sie erinnert entfernt an einen Kassettenrekorder: Ein Schreib- und Lesekopf liest ein Symbol auf dem Band, löscht es, schreibt ein neues und bewegt sich dann nach links oder rechts zum nächsten Symbol auf dem Band. Diese Schritte führt er gemäß Instruktionen aus, die er in seinem Innern gespeichert hat – der Schreib- und Lesekopf entspricht somit dem Gehirn. Am Ende des Vorgangs steht das Ergebnis in Form einer kodierten Symbolkette auf dem Band.
Turing erkannte sofort die Tragweite seiner Idee: Die Befehle für den Schreib- und Lesekopf lassen sich, genauso wie die Daten, in Form von Symbolen kodieren und in einem für Befehle vorgesehenen Bereich auf das Band schreiben. Die Turing-Maschine lässt sich daher mit Instruktionen für alle denkbaren Rechenjobs füttern. Der universelle Rechner war erfunden. Was für heutige Computernutzer selbstverständlich ist – nämlich ein Programm in den Hauptspeicher zu laden und damit aus ein und derselben Maschine ein Textverarbeitungssystem, einen Spielautomaten oder einen Internetbrowser zu machen –, nahm 1936 in Cambridge seinen Anfang.
Für Hilbert hingegen hielt Turings Gedankenexperiment eine Enttäuschung bereit: Mit Hilfe seiner Maschine konnte Turing beweisen, dass es kein Programm gibt, das berechnen kann, ob ein anderes Programm eine Rechenaufgabe in endlicher Zeit lösen oder sich in einer Endlosschleife verfangen würde. "Das wäre auch zu schön", sagt Tantau. Eine solche Entscheidungsmaschine würde Softwareentwicklern sagen, in welchen Endlosschleifen sich ein neu entwickeltes Programm im Praxiseinsatz verfangen wird. "Es gäbe dann deutlich weniger Computerabstürze", sagt Tantau.
Turing konzentrierte sich aber nicht auf das, was seine Maschine nicht konnte, sondern darauf, was sie konnte. "Er war ein hoch begabter Mathematiker und hatte gleichzeitig einen scharfen Blick für das praktisch Machbare", sagt Wolfgang Thomas, Informatikprofessor an der Uni Aachen. Turing wollte seine universelle Rechenmaschine aus der Gedankenwelt in die reale Welt holen. Doch zunächst kam der Zweite Weltkrieg.
Während des Kriegs arbeitete Turing in Bletchley Park. Dort kam er erstmals mit elektronischer Technik in Kontakt, die für Dechiffriergeräte wie die polnische Kodeknackmaschine "Bombe" eingesetzt wurde. Turing entwickelte die Bombe weiter.
Vision späterer Computer
Obwohl er es vorzog, für sich allein über einem Problem zu brüten, arbeitete er prächtig mit den Ingenieuren in Bletchley Park zusammen. Seine brillante Fähigkeit, feinsinniges logisches Denken in Technik zu verwandeln, sei der entscheidende Erfolgsfaktor beim Knacken deutscher Kodes gewesen, schreibt Turing-Biograf Andrew Hodges. Turings statistische Methoden lagen den elektronischen Dechiffriermaschinen vom Typ "Collossus" zu Grunde, die ab 1944 in rasantem Tempo deutsche Geheimnachrichten entschlüsselten.
Ihre Geschwindigkeit beeindruckte Turing. Die Computer in Bletchley Park kannten aber nur einen Zweck: entschlüsseln. Turing wollte mehr: Für das National Physics Laboratory (NPL) in London entwarf er 1945 einen Plan für einen elektronischen Universalcomputer. Dieser war "eine komplette Vision, wie Computer später einmal sein würden", schrieben neuseeländische Informatikhistoriker im Jahr 1975. Doch den NPL-Ingenieuren seien Turings Pläne nicht umsetzbar erschienen, so die Historiker. Die mangelnde Kooperation der Ingenieure frustrierte Turing, und er distanzierte sich von dem Projekt. Eine stark abgespeckte Umsetzung seiner Pläne führte ihr erstes Programm 1950 aus. Zu dem Zeitpunkt war diese "Automatic Computing Engine" immerhin der schnellste Rechner der Welt.
Der erste Universalcomputer der Welt entstand zwei Jahre zuvor an der Universität Manchester, allerdings ohne Turings direktes Zutun. Aber seine Ideen dürften den Anstoß gegeben haben. Es war der erste Leser von Turings Arbeit über das Entscheidungsproblem, der den Röhrencomputer "Manchester Mark I" baute: der Mathematiker Max Newman. Newman holte Turing, der zuvor eine Programmiersprache entwickelt hatte, nach Manchester, um den neuen Computer zu programmieren. Er hätte die Welt in die Ära der Softwareentwicklung führen können, schreibt Hodges. Doch er sei daran gescheitert: Sein Benutzerhandbuch für den Mark I sei dafür zu knapp gewesen.
Mensch und Maschine im Test
Stattdessen betätigte sich Turing wieder als Visionär, nämlich in Sachen künstlicher Intelligenz (KI). "Ich will ein Gehirn bauen", soll er einmal gesagt haben. Schon 1930 habe ihn der frühe Tod seines Jugendfreundes Christopher Morcom über das Verhältnis von Geist und Körper nachdenken lassen, schreibt Hodges. Turing kam zu einer materialistischen Sicht: Das Gehirn mache nur berechenbare Operationen, die prinzipiell auch ein Computer ausführen könnte, wenn er nur leistungsfähig genug sei. Früher oder später werde es denkende Computer geben, davon war Turing überzeugt. Um die Intelligenz von Maschinen beweisbar zu machen, entwarf er einen Test, bei dem Personen abwechselnd mit einem Computer und mit einem Menschen Textbotschaften austauschen. Wenn mindestens 30 Prozent der Teilnehmer nicht zuordnen können, mit wem sie gerade kommunizieren, sollte der Computer nach Turings Meinung als intelligent gelten. Bis heute wird dieser so genannte Turing-Test als Kriterium für das Denkvermögen von Computern verwendet, ist aber umstritten.
Darüber hinaus hat Turing der KI-Forschung noch weitere Impulse gegeben. "Er hat, inspiriert von der biologischen Evolution, die wichtige Rolle des Zufalls in der KI erkannt, lange bevor Informatiker Zufallselemente erstmals in so genannten genetischen Algorithmen angewandt haben", sagt Ulrich Furbach von der Uni Koblenz.
Turing hätte die Informatik sicher noch weiter inspiriert. Doch es kam anders. 1952 wurde er wegen seiner Homosexualität angeklagt, sah aber keinen Grund, sich zu verteidigen. Er musste sich einer Hormonbehandlung unterziehen, die seinen Körper verweiblichte. Den Leistungssportler – einer der besten Marathonläufer seines Landes – trieb das in eine Depression und womöglich in den Selbstmord. Im Juni 1954 fand man ihn tot in seiner Wohnung. Er war an einer Blausäurevergiftung gestorben. Neben seinem Bett lag ein angebissener Apfel.
Mehr zum Thema finden Sie auch in einem vierteiligen Spezial über Alan Turing aus der aktuellen Ausgabe von "Spektrum der Wissenschaft".
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