Amazonien: Der letzte weiße Fleck
Mitten aus dem grünen Meer der Bäume erhebt sich El Cono – der Kegel. In den Weiten Amazoniens ist der 500 Meter hohe Berg ein Unikat, der letzte Rest eines erloschenen Vulkans, der hier vor vier bis fünf Millionen Jahren Feuer spuckte: Nirgendwo sonst im riesigen Amazonasbecken findet sich etwas Vergleichbares. An klaren Tagen kann man den "Cono" sogar von den mehrere hundert Kilometer entfernten Anden ausmachen. Bezwungen hat den Gipfel aber wohl noch niemand, eine weglose Wildnis umgibt die Vulkanruine.
Und wenn es nach Paul Salaman von der US-amerikanischen Naturschutzorganisation Rainforest Trust geht, soll das auch so bleiben: "Wir haben jetzt die einmalige Gelegenheit, diese Naturlandschaft zu erhalten." Für weniger als einen Euro lässt sich hier ein Hektar Regenwald schützen, weil die peruanische Regierung mit an Bord ist. Das Land muss nicht gekauft werden, wie es der Rainforest Trust sonst erfolgreich in Südamerika praktiziert. Stattdessen soll ein amtlicher Erlass die Region als Nationalpark ausweisen, der von weiteren Natur- und Indianerreservaten sowie einer Pufferzone flankiert wird. "Peru ist stark daran interessiert, das Gebiet zu schützen. Dem Nationalparkservice fehlen allerdings die Mittel, um die letzten Hürden aus dem Weg zu räumen und die ersten aktiven Schutzmaßnahmen einzuleiten", so Salaman.
Bislang bewahrte die extreme Unzugänglichkeit das Sierra del Divisor genannte Mittelgebirge mit dem "El Cono" und die umliegenden Regenwälder. Die Flüsse lassen sich nur mit kleinen Booten befahren, Straßen fehlen – noch – völlig. Nur mit dem Helikopter können Wissenschaftler einigermaßen schnell in das Herz dieser knapp 25 000 Quadratkilometer großen Urlandschaft vordringen. Deshalb hatte sich bisher auch nur eine einzige Expedition in die Sierra del Divisor vorgewagt: 2005 besuchte ein Team um den Biologen Thomas Schulenberg vom Chicagoer Field Museum im Rahmen eines so genannten Rapid Biological Inventory die Wildnis, um innerhalb von weniger als drei Wochen einen möglichst guten Überblick über die vorhandene Artenvielfalt zu bekommen.
El Dorado – aber nicht nur für Affen
Was sie fanden, beeindruckt Paul Salaman bis heute: "Sie entdeckten zahlreiche unbekannte Arten, obwohl sie nur einen kurzen Blick werfen konnten. Doch der genügte, um zu erkennen, dass die Region etwas Besonderes ist." Die Biologen verschiedenster Fachrichtungen wiesen während ihres Crash-Sammelkurses mehr als 1000 Arten nach, obwohl sie sich auf wenige Gruppen wie Bäume, Vögel, Fische oder Säugetiere konzentrierten und diverse Gruppen wie Insekten oder Spinnen gar nicht beachteten. Allein im Umfeld eines der Camps bemerkten die Forscher mehrere hundert Vogelarten und zwölf Affenspezies: eine Dichte, wie sie noch nirgendwo in Amazonien zuvor festgestellt worden war. Andernorts wegen der Jagd oder Abholzung seltene Tiere und Pflanzen wie Tapire, Riesengürteltiere oder Mahagoni fanden sie ebenso zahlreich wie kommerziell genutzte Fische, die für die Menschen der Region eine wichtige Eiweißquelle darstellen. Weitere Überraschungen sind nicht ausgeschlossen, da noch weite Abschnitte der Sierra del Divisor völliges Neuland für Taxonomen darstellen.
Ihren überwältigenden biologische Reichtum verdankt die Region dem Zusammenspiel verschiedener geologischer und klimatischer Faktoren. "Die Sierra del Divisor liegt mitten im Flachland Amazoniens und ist von den Anden als nächstgelegenem Gebirgszug isoliert. Dadurch besitzt sie ihre ganz eigenen endemischen Arten, die nur hier vorkommen", so Salaman. Für feuchtigkeitsgesättigte Wolken aus dem Osten bildet das Mittelgebirge die erste nennenswerte Barriere auf ihrem Weg nach Osten, weshalb es hier noch häufiger und heftiger regnet als in anderen Teilen Amazoniens. Zugleich kühlen sich die höheren Lagen der Sierra del Divisor immer wieder stark ab, wenn frische Luft aus Süden zuströmt – mitten in den heißen Tropen kann man schon in relativ niedriger Höhe frösteln. Genau deshalb entwickelte sich aber auch ein einzigartiges Ökosystem aus gedrungenen, mit Bromelien und Orchideen beladenen Bäumen und Mooren. Im Windschatten hingegen herrscht des Öfteren Trockenheit, so dass hier ganz andere Pflanzen und Tiere dominieren. Dazu kommen noch Wälder auf weißem Flusssand, die ein eigenes Biotop mit wenigen Spezialisten bilden, da ihre Böden extrem nährstoffarm sind, und die Vulkankegel, die ebenfalls einmalige ökologische Nischen schaffen.
Völlig unbesiedelt ist die Region allerdings nicht: Sie beheimatet mehrere Indianervölker, darunter die Matsés, die bekannt dafür sind, ihr Land heftig gegen andere Stämme oder Kolonisatoren von außerhalb zu verteidigen. "Die Matsés gelten als besonders grimmige Ethnie", so Salaman, was dazu beigetragen habe, dass die Regenwälder rund um die Sierra del Divisor als weißer Fleck auf den Landkarten verblieben. "Außerdem vermuten wir weitere Gruppen in dem Gebiet, die noch keinen Kontakt zur Außenwelt hatten oder in freiwilliger Isolation leben, um sich zu schützen", so der Biologe. 2008 sorgten aus einem Flugzeug heraus fotografierte Bilder für Aufruhr: Sie zeigten eine bislang unbekannte Gruppe an Indigenen, die mit Pfeilen auf den vermeintlichen Eindringling schossen – entstanden waren die Aufnahmen im Grenzbereich zwischen Brasilien und Peru etwas südlich vom nun geplanten Nationalpark.
Für Mensch und Natur
Der Nationalpark und angrenzende Reservate für die Völker sollen auch die unkontaktierten Menschen und ihre Lebensweise schützen, so der Geschäftsführer vom Rainforest Trust: "Wir wollen dazu beitragen, dass ihre Landrechte anerkannt werden. Das blockiert die Landnahme von außen und zieht einen Schutzwall um die Wildnis der Sierra del Divisor und ihrer Bewohner." Dass gerade Indianerschutzgebiete das Ökosystem bewahren, zeigte im März eine Studie aus Brasilien von Arun Agrawal von der University of Michigan in Ann Arbor. "Indianerland schneidet am besten ab, wenn es darum geht, den Wald zu schützen, wenn das Umfeld unter starkem Abholzungsdruck steht", so der Professor für natürliche Ressourcen. Lange hatte man gedacht, dass das Gegenteil eintreten würde, wenn die Bewohner der Gebiete diese autonom verwalten dürfen. "Viele Beobachter waren davon ausgegangen, dass die Indigenen ihre Naturschätze selbst zu Geld machen würden. Doch diese Befürchtungen haben sich als falsch erwiesen", sagt Agrawal.
Stattdessen bewahren sie den Wald auf ihrem Land besser als reine Naturschutzgebiete. Und die Angriffe auf diese Flächen mehren sich auch in Peru. "Die Suche nach Gold gehört zu den wichtigsten Bedrohungen. Außerdem überlappen einige Öl- und Gasförderlizenzen mit dem Reservat", erzählt Salaman. Weiter südlich in der Region Madre de Díos verwüsten illegale Goldsucher den Regenwald und verpesten den Fluss mit giftigen Chemikalien, seit dort vor wenigen Jahren Gold entdeckt wurde. Um 400 Prozent habe die jährliche Entwaldung dort seit der Jahrtausendwende zugenommen, beschreibt Greg Asner von der Carnegie Institution of Science die fatale Entwicklung, die er aus der Luft erfasst hat: "Der Goldrausch in Madre de Díos übertrifft alle anderen Ursachen des Waldverlusts zusammen. Die unglaubliche Artenvielfalt der Region fällt dem Goldfieber zum Opfer." Die größte Gefahr für die Sierra del Divisor lauert jedoch vorerst im Straßenbau, der die Region für Auswärtige überhaupt erst zugänglich machen könnte: "Holzfäller warten darauf, denn hier wachsen noch wertvolle Bäume. In anderen Provinzen Perus wurden sie längst ausgebeutet." Erschwerend kommt hinzu, dass auf der anderen Seite der Grenze in Brasilien bereits eine Piste Richtung Westen vorangetrieben wird – ihre Fortsetzung würde mitten in die Sierra del Divisor führen. 90 Prozent der Entwaldung findet zum Beispiel in Brasilien in einem etwa 100 Kilometer breiten Streifen entlang der Straßen statt. Gleichzeitig wurden allein in den letzten Jahren mehr als 50 000 Kilometer neue Straßen in Amazonien gebaut, mit entsprechend fatalen Folgen für den Wald.
In dieser Bedrohung liege aber auch eine Chance, so Salaman. Denn: "Die peruanische Regierung ist wegen des Straßenbaus eher besorgt, da sie Landnutzungskonflikte befürchtet." Siedler aus Brasilien dringen in die Grenzregion vor und kolonisieren das Gebiet. Mit einem Schutzgebiet würde dieses Ansinnen hingegen unterbunden oder zumindest erschwert und die Grenze zwischen beiden Staaten gesichert. "Ein Nationalpark 'Sierra del Divisor' würde riesige gesetzliche Hürden gegenüber dem Straßenbau errichten und so Millionen Hektar Wald bewahren", hofft Paul Salaman.
Allgemeine Zustimmung
Die Chancen dafür stehen relativ gut, denn der Rainforest Trust weiß nicht nur die peruanische Regierung, sondern auch lokale Naturschutzorganisationen und die indigene Bevölkerung vor Ort an seiner Seite. "Die Menschen wollen die Kolonisierung verhindern", sagt Paul Salaman und betont: "Wir kaufen das Land nicht – sondern helfen mit, dass es in peruanischem Besitz bleibt." Damit unterscheidet sich das Vorgehen von anderen erfolgreichen Projekten der Organisation in Lateinamerika. Denn normalerweise erwirbt sie zusammen mit einheimischen Partnern wertvolle Biotope und schützen diese als privates Reservat. Mehr als 200 000 Quadratkilometer artenreiche Regen-, Nebel- oder Trockenwälder konnte der Rainforest Trust auf diese Weise bewahren.
Da der Staat nun mit an Bord ist, bleiben die Preise überschaubar, allerdings benötigt die Regierung eine Art Anschubfinanzierung, um die letzten Schritte zum Nationalpark zu gehen. Sie muss feststellen, ob und welche Indianerterritorien vom Schutzgebiet betroffen wären – angesichts der Mobilität der Gruppen kein leichtes Unterfangen. Daneben müssen die wenigen Siedler entschädigt werden, die bereits vor 2005 hier lebten, als die Region zum Reservat erklärt wurde. Und schließlich gilt es die Öllizenzen abzulösen, deren Förderblöcke sich teilweise mit dem Gebiet überschneiden. Sobald dies abgeschlossen ist, entwickelt der Rainforest Trust mit seinem Partner vor Ort, dem Center for the Development of an Indigenous Amazon (CEDIA), und dem peruanischen Nationalparkservice einen Managementplan, bildet Ranger aus und baut die nötige Infrastruktur wie Kontrollposten auf. "Alles in allem benötigen wir für die erste Projektphase 650 000 US-Dollar, um das Vorhaben zu starten", kalkuliert Salaman und hofft auf großzügige Spender, denn allein mit diesem Geld soll die Sierra del Divisor bewahrt werden.
Im Erfolgsfall schließen sich dann weitere Schutzgebiete in der Region an – darunter eines, das explizit die Weißsandwälder zum Ziel hat: einen besonders seltenen und mit einzigartigen Lebewesen ausgestatteten Lebensraum. Gemeindewälder bilden zusätzlich einen Puffer um den Nationalpark. Zusammen mit einem Reservat der Matsés im Nordwesten des geplanten Nationalparks, einem ähnlichen Naturschutzgebiet jenseits der Grenze in Brasilien und dem brasilianischen Indianerterritorium Vale do Javari, das allein so groß wie Österreich ist, könnte somit eines der größten unerschlossenen Wildnisgebiete Südamerikas dem Zugriff von Siedlern, Bergbaufirmen und Holzfällern entzogen werden. Insgesamt drei Millionen Dollar wären für dieses Vorhaben nötig, schätzt Salaman. Doch die Zeit drängt: "Die Bedrohung für die Sierra del Divisor wächst rasch und beständig. Wir müssen also rasch handeln."
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