Das kannst du knicken
In der am 19. Februar im Gießener Mathematikum eröffneten Ausstellung geht es um Origami, die Kunst des Papierfaltens. In ihrer japanischen Urform ist ein charakteristischer Wesenszug die Beschränkung der Mittel. Material: ein quadratisches Blatt Papier; Hilfsmittel: keine. Nur durch Falten stellt der Origami-Künstler seine Objekte her. Das erlaubt es ihm einerseits, seiner Beschäftigung zu jeder Gelegenheit nachzugehen – im Wartezimmer, im Zug … –; andererseits bleibt ihm kaum etwas anderes übrig, wenn er sein Werk binnen erträglicher Zeit vollenden will. Origami erfordert Geduld und Selbstbeherrschung; schließlich muss man für die hundertste Faltung derselben Art dieselbe Sorgfalt aufbringen wie für die 99 davor. Das gilt vor allem für das mathematisch interessantemodulare Origami, bei dem man aus lauter gleichen Bauteilen (jedes aus einem Blatt Papier gefaltet) regelmäßige geometrische Objekte herstellt, von den Sternen von Carmen Sprung bis zu den überaus vielgestaltigen Gebilden von Heinz Strobl.
Die an der Ausstellung beteiligten zwölf Künstler haben nicht etwa Anleitungen aus der Literatur nachgefaltet, sondern ihre Objekte sämtlich selbst entworfen. Manche haben dabei die origami-typische Selbstbeschränkung auf die Spitze getrieben, wie etwa Anya Midori, die mit Papieren der Größe 2 mal 2 Millimeter arbeitet. Da erwachen in mir gemischte Gefühle: Die Anstrengung ist bewundernswert, aber wozu? Damit das Betrachten Anstrengung erfordert? Da kann ich mit dem Zupfbass mehr anfangen, für den Alexander Kurth mehrere Quadratmeter Papier in Form bringen musste.
Häufiger haben sich jedoch die Künstler über die strengen Reinheitsgebote hinweggesetzt. Heinz Strobl arbeitet nicht mit quadratischen Blättern, sondern mit langen Streifen aus ziemlich steifem Papier, einst allgegenwärtig, heute nur noch von historischer Bedeutung und entsprechend schwer zu bekommen: Telexpapier, das Material, in das die Lochstreifen gestanzt wurden. Deswegen sind seine Kunstwerke auch so quietschgelb. Dem staunenden Publikum führt Strobl vor, wie er einen Streifen des Formats 1x6 in sechs kleine Quadratchen faltet und daraus dann ein doppellagiges dreiseitiges Prisma (ohne Boden und Deckel) macht, nicht ohne vorher das Anschlussstück für den gleichartigen Nachbarn eingearbeitet zu haben. Aus diesem Elementarbaustein macht er die kompliziertesten Körper, vorzugsweise solche, bei denen sich in jeder Ecke drei Kanten treffen wie zum Beispiel beim Dodekaeder. Er setzt sogar zahlreiche Dodekaeder aneinander, so wie es bei der Projektion des 120-Zells in den dreidimensionalen Raum angesagt wäre. Aber regelmäßige Dodekaeder passen doch gar nicht lückenlos aneinander? Macht nichts. Das ist das Schöne am Origami, dass kleine Unstimmigkeiten in der unvermeidlichen Faltungenauigkeit untergehen.
Krumme Flächen sind auch nicht so wirklich Bestandteil des reinen Origami. Wie soll man auch ohne weitere Hilfsmittel eine krumme Knicklinie ins Papier bringen? Künstler wie Daniel Chang und Melina Hermsen nehmen dickes, weiches Papier und feuchten es an; dann lässt es sich freihändig zu Formen biegen, die es nach der reinen Lehre (alle Papierflächen sind abwickelbar) nicht geben dürfte. Hans-Werner Guth lässt dem Papier seine Steifigkeit, genehmigt sich aber ein Hilfsmittel, um kreisrunde Knicklinien einzudrücken: den Rand einer Tasse und einen leergeschriebenen Kugelschreiber zum Beispiel.
Robin Scholz erreicht gekrümmte Flächen mit klassischen Mitteln auf (zumindest für mich) überraschende Weise: Er versieht ein quadratisches Blatt Papier (zum Beispiel durch fortgesetztes Halbieren) mit einem gleichmäßigen Gitter aus lauter (längs wie quer verlaufenden) Bergfalten. Dann fügt er zwischen je zwei dieser Bergfalten eine Talfalte ein, aber nicht mittig, sondern auf ungefähr zwei Dritteln der Breite. Schließlich zieht er das Papier wieder einigermaßen glatt und faltet es dann von einer Ecke ausgehend entlang den vorbereiteten Knicken zusammen: immer abwechselnd eine Längs- und eine Querfalte. Und siehe da: Das Papier krümmt sich quasi von selbst zu einer sattelförmig gekrümmten Fläche.
Dirk Eisner hat mich mit großen geometrischen Werken beeindruckt: neben vielen anderen Dingen mit dem "Oktaeder-Diamanten" und dem siebenfachen Ring, in dem das regelmäßige Siebeneck die Hauptrolle spielt.
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