Der biologische Lebensstandard
Die Entwicklung der mittleren Körpergröße der Bevölkerung oder einzelner Teilpopulationen ist ein wichtiger Indikator für die jeweilige sozio-ökonomische Situation.
Nicht nur Sozialwissenschaftler, sondern auch Politiker und die Allgemeinheit sind an der Messung der gesellschaftlichen Wohlfahrt interessiert. Meist werden solche Maße wie Reallöhne, Pro-Kopf-Einkommen oder Sozialprodukt pro Einwohner als Indikatoren für den Lebensstandard herangezogen, häufig auch die Arbeitslosenrate.
Freilich vermag das statistisch ermittelte Einkommen nur unzureichend Aufschluß über das Wohlbefinden zu geben, vor allem, weil es Veränderungen der Einkommensverteilung sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb der Familien nicht erfaßt und somit die Wohlfahrt von Kindern und Hausfrauen, die keine Einkommensempfänger sind, nicht direkt zu messen gestattet.
Die konventionellen Maße haben noch andere Mängel. Sie berücksichtigen nicht, daß der Konsum einer Person Einfluß auf das Wohlbefinden einer anderen haben kann und daß der Produktionsprozeß die Umwelt beeinflußt. In manchen wirtschaftshistorischen Fällen wie etwa dem stalinistischen Rußland liegen außerdem nur wenige verläßliche Einkommensdaten vor. Die Vereinten Nationen haben diese Unzulänglichkeiten erkannt und 1990 einen sogenannten human development index eingeführt, der Maße wie Lebensdauer, Gesundheitsindikatoren, Bildungsstand und natürlich auch das Einkommen umfaßt.
Wirtschaft, Ernährung, Wachstum
Das Problem hatte Ende der siebziger Jahre amerikanische Ökonomen dazu veranlaßt, nach Alternativen zu suchen. Unter anderem analysierte man die Entwicklung der Körpergröße von Männern und Frauen im Zeitverlauf und untersuchte, wie sie von wirtschaftlichen Prozessen beeinflußt wird. An der Universität Chicago entstand in der Folgezeit ein bedeutendes Zentrum für anthropometrische Geschichtsforschung. Die Arbeiten von Robert Fogel, Nobelpreisträger in Wirtschaftswissenschaften 1993, und Richard Steckel, jetzt Professor an der Staats-Universität Ohio, trugen wesentlich zum hohen Bekanntheitsgrad bei. Steckel und ich fertigten in Fogels Gruppe unsere Doktorarbeit an. Zwei Engländer von der Universität London kamen wenig später hinzu: Roderick Floud sowie James Tanner, ein Humanmediziner, der uns viel über die Grundprinzipien der Biologie des Menschen lehrte.
Die Physiologie des körperlichen Wachstums ist von komplizierten Prozessen geprägt, und die Ernährung hat darauf einen wichtigen Einfluß. Deshalb ist von größter Bedeutung, was wir als Säuglinge und Kinder zu uns nehmen. Selbstverständlich spielen auch die Eßgewohnheiten der Mutter während der Schwangerschaft eine Rolle. Da der Nahrungsmittelkonsum in der Familie wesentlich von ihrem Einkommen und von den relativen Preisen der Lebensmittel bestimmt wird, läßt sich ein direkter Zusammenhang zwischen biologischen Parametern und ökonomischen Variablen herstellen.
Gewiß haben im Einzelfalle auch genetische Faktoren einen Einfluß auf die Körpergröße; dieser läßt sich aber vernachlässigen, wenn die untersuchte Population umfangreich genug ist. Skandinavier, Deutsche und Franzosen zum Beispiel haben heute recht ähnliche Maße. Dies war vor hundert Jahren ebenfalls so, doch seitdem hat die Größe im Mittel um etwa 18 Zentimeter zugenommen. Auch die Japaner sind seit dem Zweiten Weltkrieg infolge des deutlich verbesserten Proteinkonsums länger geworden. Dasselbe gilt für die Spanier sowie für die Nachkommen der in die Vereinigten Staaten eingewanderten Lateinamerikaner und Asiaten.
Solche Beobachtungen haben uns ein Gefühl vermittelt für die Plastizität des menschlichen Organismus und dafür, wie er von den jeweils herrschenden sozio-ökonomischen Lebensumständen beeinflußt wird, wie er für gewöhnlich in wirtschaftlich guten Zeiten sich quasi ausdehnt und in schlechten schrumpft. Auf diese Weise werden mittlere Körpergröße und Gewicht einer Population zu einem Zeitdokument für ihren Nahrungsstand: gewissermaßen ein biologischer Lebensstandard im Unterschied zu den konventionellen Standards.
Einkommensverteilungund Körpergröße
Was haben wir daraus gelernt? Zum Beispiel, daß es anthropometrische Aufwärts- und Abwärtstrends gibt. Zuvor dachten wir, die Leute seien einfach kontinuierlich größer geworden. Daß es in der Entwicklung der physischen Statur auch Rückschritte gab, war bis dahin unbekannt. Eine Abnahme der Körpergröße läßt sich für den Beginn der industriellen Revolution im Europa des späten 18. Jahrhunderts (Bild 1) sowie für die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts sowohl in Europa als auch in Nordamerika feststellen. Dieser Befund überrascht, weil man kaum erwartet, daß der biologische Lebensstandard in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs abnimmt; in den USA beispielsweise stieg das Pro-Kopf-Einkommen in den Jahren zwischen 1830 und 1860 um etwa 50 Prozent.
War vielleicht unsere Datenbasis zu klein? Wir erschlossen neue Quellen und fanden doch stets dasselbe Schema: bei Soldaten wie bei Zivilisten, bei Studenten wie bei Kindern, bei männlichen wie bei weiblichen Kriminellen und auch bei befreiten Sklaven und Häftlingen, die in die Kolonien der Neuen Welt transportiert worden waren. Eine halbe Million Datensätze später können wir sicher sein, daß das Standardmaß der Leute mit dem Einsetzen des modernen wirtschaftlichen Wachstums abnahm.
Dafür gibt es offenbar mehrere Gründe, die mit latenten Kosten der Industrialisierung zu tun haben. Zunächst ist die mittlere Körpergröße einer Population um so höher, je gleichmäßiger das Pro-Kopf-Einkommen verteilt ist. Weil die Einkommensverteilung zu Beginn der industriellen Revolution aber zugunsten der oberen Schichten ungleicher wurde, nahm die Körpergröße im Mittel ab. Dies ist darauf zurückzuführen, daß bei gutem Ernährungsstatus ein Mehr an Nährstoffen das menschliche Wachstum nicht wesentlich erhöht, bei schlechtem jedoch ein Mehr beziehungsweise Weniger sich deutlich auswirkt. Infolgedessen nahm zwar die Körpergröße von Kindern der Oberschicht geringfügig zu, die der weitaus zahlreicheren Kinder aus ärmeren Schichten aber ab, so daß der Mittelwert der Körpergröße kleiner wurde.
Wir haben also ein klares Schema: Nicht nur das Einkommen spielt eine Rolle, sondern auch die Einkommensverteilung. Das ist einer der Gründe, warum zum Beispiel die Niederländer größer sind als die US-Amerikaner, obwohl das Durchschnittseinkommen in den Vereinigten Staaten höher ist – es ist nämlich auch ungleicher verteilt (Bild 2). Vor 150 Jahren war es allerdings genau andersherum: Die Niederländer maßen etwa 165, die US-Amerikaner 172 Zentimeter.
Die konventionellen Wohlfahrtsmaße haben weiterhin den Nachteil, daß sie Änderungen der relativen Preise von Nahrungsmitteln und Gesundheitsgütern nicht vollständig in ihrer Bedeutung erfassen können. Derartige Verschiebungen beeinflussen zwar die Höhe des Sozialproduktes nicht wesentlich, können sich aber signifikant auf die Gesundheit auswirken. Das war beispielsweise zu Beginn des modernen ökonomischen Wachstums in Europa der Fall: Der relative Preis von Lebensmitteln stieg beträchtlich, zum Teil wegen des rasanten Bevölkerungswachstums, aber auch weil der technologische Wandel im landwirtschaftlichen Sektor langsamer vonstatten ging als im industriellen. Wegen des Anstiegs der Nahrungsmittelpreise wurden teure "Kalorien" wie Proteine durch Kohlenhydrate substituiert; die europäische Kost wurde im wesentlichen vegetarisch. Das änderte sich natürlich im zwanzigsten Jahrhundert, als die Preise der Nahrungsmittel sanken und die Aufwendungen dafür nur noch einen kleinen Teil der gesamten Konsumausgaben ausmachten. In der gegenwärtigen entwickelten Welt haben Preise für Gesundheitsgüter einen ähnlich bedeutenden Einfluß.
Auch welche Rolle die Variabilität des Einkommens spielt, können die konventionellen Maße überhaupt nicht erfassen. Jemand, dessen Jahreseinkommen konstant 30000 Dollar beträgt, ist jedoch besser dran als jemand, dessen Einkommen zwischen 20000 und 40000 Dollar schwankt, obwohl beide langfristig gesehen gleich viel verdienen. Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution fluktuierte das Einkommen ebenso wie die Arbeitslosenrate stärker als zuvor. Wenn auch die Verminderung des Nahrungsmittelkonsums – eine Folge solcher adversen Entwicklungen – nur vorübergehend war, so beeinträchtigte sie doch das Wachstum der Kinder dauerhaft. Eine Rezessionsphase von drei bis vier Jahren reichte bereits aus, um das "Einholen" des natürlichen Wachstumsprofils nach Normalisierung des Familieneinkommens zu unterbinden.
Die Daten von Studenten aus der Mittel- und Oberschicht zeigen hingegen, daß ihre Körpergröße nicht zurückging, offenbar weil ihre Eltern von Perioden der Arbeitslosigkeit weniger betroffen waren als der Rest der Gesellschaft. Der Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts, der durch Schaffung eines Sicherungsnetzes zyklische Einkommensschwankungen minimierte, trug somit zu höherem Wuchs bei.
Einfluß der Nahrungsversorgung
Weil die Industrialisierung auch half, vormals isolierte Regionen in einen größeren Weltmarkt zu integrieren, wurde auch dort der Ernährungsstatus beeinflußt. Die Selbstversorgung aus den lokalen Erträgen hatte sich tendenziell positiv ausgewirkt. Deshalb waren zum Beispiel Iren größer als Engländer und die Einwohner der Südstaaten in den USA ebenfalls größer als die der Nordstaaten. Dies galt bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sobald aber die dort lebenden Bauern ihre Tier- und Milchprodukte in einem größeren Wirtschaftsraum vermarkten konnten, verkauften sie sozusagen die Proteine, Mineralstoffe und Vitamine, die essentiell waren für die Gesundheit und Ernährung ihrer Kinder. So gesehen war es in der vorindustriellen Zeit ein deutlicher Vorteil, ein selbstversorgender Bauer zu sein. Ohne es zu wissen, handelte man sich mit der Aufgabe der Selbstversorgung im Zuge der Industrialisierung eine Reduktion der Körpergröße ein.
Die Verstädterung beschleunigte das Einsetzen der Industrialisierung. Stadtbewohner waren im allgemeinen wegen der größeren Entfernung von den Nahrungsmittelquellen bei der Beschaffung von Nährstoffen im Nachteil. So konnten beispielsweise Milch und frisches Fleisch vor der Erfindung des Kühlwagens nicht über große Distanzen befördert werden. Als Folge davon war bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die städtische Bevölkerung fast immer kleiner von Wuchs als die ländliche.
Auch Krankheiten beeinflussen das Wachstum des menschlichen Organismus. Doch wenn die beobachteten Zyklen bei der Körpergröße von einer Verschlechterung des epidemiologischen Umfelds verursacht worden wären, hätten eigentlich alle Gesellschaftssegmente davon betroffen sein sollen; denn die Medizin war im 18. und auch im frühen 19. Jahrhundert noch nicht so weit entwickelt, daß man sich wirksamen Schutz vor Krankheiten hätte erkaufen können. Angehörige der oberen Schichten hatten demnach keinen Vorteil.
Daraus, daß der Wuchs bestimmter Gruppen am Beginn der Industrialisierung nicht kleiner wurde, läßt sich eindeutig schließen, daß das "Early-Industrial-Growth-Puzzle" nicht durch ein vermehrtes Auftreten von Krankheiten erklärt werden kann. Schließlich waren viele Jugendliche der Ober- und Mittelschicht demselben epidemiologischen Umfeld ausgesetzt wie der gewöhnliche Bürger. Zudem nahm auch die Körpergröße der männlichen Sklaven, die am unteren Ende der sozialen Hierarchie standen, nicht ab – weil nämlich ihre Halter einen ökonomischen Anreiz hatten, ausreichend Nahrungsmittel zuzuteilen, um ihre Arbeitskraft zu erhalten.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Geschichte des menschlichen Wuchses darauf hinweist, daß der biologische Lebensstandard der gewöhnlichen Bürger sowohl in Europa als auch in Nordamerika sank, als der vom modernen wirtschaftlichen Wachstum verursachte grundlegende sozio-ökonomische Wandel begann. Das bedeutet, daß während der frühen Phasen der Industrialisierung der Fortschritt nicht alle Dimensionen der menschlichen Existenz gleichermaßen betraf. In mancher Hinsicht waren die gewöhnlichen Leute in der Frühzeit der Industrialisierung nicht so gut gestellt wie ihre Eltern. Der menschliche Organismus gedieh in seinem neu geschaffenen sozio-ökonomischen Umfeld nicht immer so gut, wie man aufgrund der aggregierten Kaufkraft erwarten würde. Darum liefert die Untersuchung des biologischen Lebensstandards eine differenziertere Sicht der Wohlfahrt der Bevölkerung, die den mit Einsetzen des modernen Wirtschaftswachstums hervorgerufenen rapiden Strukturwandel durchlebte.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1998, Seite 100
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