Die Kultur der Schimpansen
Die Szene spielt in Westafrika im Taï-Regenwaldgebiet, einem der letzten Urwälder des Staates Elfenbeinküste. Auf einer kleinen Lichtung ist eine Gruppe emsig beschäftigt. Unregelmäßiges Klopfen wie von Hammerschlägen ertönt, dazu immer wieder ein Knacken und Krachen. Auf einer harten Unterlage werden hier mit Hämmern kleine, steinharte Nüsse zerschlagen. Doch diese Arbeit verrichten nicht etwa Menschen, sondern – Schimpansen.
Die Gruppe, die hier Mahlzeit hält, besteht aus mehreren erwachsenen Tieren, einigen Jugendlichen und auch ein paar Kindern. Die Erwachsenen knacken die leckeren, walnussähnlichen "Coula"-Nüsse am geschicktesten. Als "Amboss" dienen flache, breite Wurzeln, als "Hammer" Holzstücke. Wenn einer der Affen eine Portion Nüsse vertilgt hat, sammelt er im Umkreis wieder ein paar Hand voll der nahrhaften Früchte zusammen, den Hammer immer bei sich.
Die Jugendlichen beherrschen den Trick noch nicht so gut. Sie probieren immer wieder, ob sie mit einem anderen Hammer nicht besser zu Rande kommen. Und die Kleinsten der Gruppe, die gerade nicht herumtollen, hocken bei der Mutter und ergattern Brocken von zertrümmerten Nüssen.
Würde ein Anthropologe später diesen Ort aufsuchen, hielte er die zurückgelassenen Geräte vielleicht für Spuren einer primitiven menschlichen Kultur. Noch vor kurzem hätte niemand einem Menschenaffen dergleichen zugetraut. Schon manches Mal haben die Schimpansen Primatologen mit unerwarteten Fähigkeiten verblüfft. In den letzten zehn Jahren mussten die Wissenschaftler wieder einmal feststellen, dass die Ähnlichkeiten mit dem Menschen viel tiefer wurzeln als sie bisher glaubten.
Wenn beispielsweise in Taï Schimpansen Nüsse mit Steinen zerschlagen, vollführen sie nicht etwa ein allgemein schimpansenübliches Verhalten. Denn das machen diese Menschenaffen nur in Westafrika, und auch dort nicht überall. Wir werten dies darum als Ausdruck einer regelrechten Schimpansenkultur. Praktisch das ganze Jahr hindurch beschaffen die Taï-Schimpansen sich Nüsse. An Coula-Nüssen gibt es dort fünf Arten – irgendwelche sind immer gerade reif. Für die härtesten Nüsse benutzen die Affen sehr harte Steine, obwohl diese in der Gegend selten zu finden sind.
Nun verwenden Verhaltensforscher den Begriff "Kultur" zwar häufiger. Im Zusammenhang mit Tieren bezeichnen sie damit aber meist eher elementares Verhalten, etwa regionale Dialekte bei Singvögeln. Doch bei den Schimpansen handelt es sich um mehr. Ihre Vielfalt und Fülle an offensichtlich tradierten Handlungen übertrifft nur noch der Mensch.
Seit zwei Jahren erforschen wir gezielt die Unterschiede zwischen den Schimpansenkulturen in verschiedenen Regionen Afrikas. An diesem in seiner Art beispiellosen Projekt wirken alle bedeutenderen Wissenschaftlerteams mit, die dort einzelne Schimpansenpopulationen beobachten. Schon in dieser kurzen Zeit konnten wir erstaunlich viele und vielfältige spezielle kulturelle Muster dokumentieren. Wir erfassen in der Studie alles: vom Werkzeuggebrauch bis zu Formen der Kommunikation und sozialen Gepflogenheiten. Schon die bisher in diesem großen Projekt gewonnenen Daten zeigen die Schimpansen in einem neuen Licht. Zugleich rütteln die neuen Erkenntnisse an unserem Selbstbild als Menschen, weil sie vielleicht auf die Wurzeln unserer Kulturfähigkeit weisen. Diese Ursprünge könnten deutlich älter sein als bisher vermutet. Wenn das zutrifft, dann stünden wir nicht ganz so einzigartig da wie bisher angenommen.
So nahe uns die Schimpansen genetisch stehen – zu über achtundneunzig Prozent besitzen wir, der Homo sapiens, das gleiche Erbgut wie Pan troglodytes, der "Gemeine Schimpanse" –, wussten wir doch bis vor vierzig Jahren praktisch nichts über ihr Leben in Freiheit. Als dann die Feldforschungen an diesen Menschenaffen einsetzten, überschlugen sich bald die Sensationsmeldungen.
Anfang der sechziger Jahre nahm die Engländerin Jane Goodall in Gombe – inzwischen Tansania – ihre berühmten Pionierstudien auf. Fünf Jahre später gründete Toshisada Nishida von der Universität Kyoto in Japan eine Feldstation in Mahale in Tansania.
Die Tiere an die Anwesenheit von Menschen zu gewöhnen, war für die Forscher äußerst mühsam. Dann aber wurden sie Zeuge vieler unerwarteter Verhaltensweisen, darunter
- Herstellung und Gebrauch von Werkzeug,
- Abgeben von der Jagdbeute an Gruppenmitglieder sowie
- mitunter tödlich ausgehende Fehden zwischen benachbarten Schimpansengemeinschaften.
Den beiden Pionieren folgten weitere Forscher, die in anderen Gebieten Afrikas Camps zum Schimpansenstudium errichteten. Trotz der immensen finanziellen, politischen und organisatorischen Hindernisse hielten einige der Stationen bis heute durch. So verfügen wir nun über langjährige umfangreiche Aufzeichnungen über das Leben von Schimpansen, und dies gleich für mehrere weit voneinander entfernte Gegenden in Afrika.
Schon 1973 äußerte Jane Goodall, dass die Affen in Gombe nicht alles genauso machten wie die anderer Populationen. Sie beschrieb dreizehn Arten von Werkzeuggebrauch und acht soziale Aktivitäten, die in Gombe anscheinend anders waren. Bereits damals vertrat sie die zu der Zeit gewagte Ansicht, dass einige dieser Unterschiede wohl kulturellen Ursprungs seien. Nur – was meinte sie eigentlich mit "Kultur"? Kurz gesagt verstehen Anthropologen darunter das, was Menschen zu einer bestimmten Zeit in einer abgrenzbaren Region an Bräuchen und Errungenschaften hervorbringen.
Eine Kultur des Menschen etwa umfasst Technologien genauso wie Heiratsbräuche, sie reicht von Esssitten bis hin zu Mythen oder Legenden. Tiere haben natürlich keine Erzählungen. Wie Verhaltensforscher gezeigt haben, können manche Tiere aber erlernte, also nicht genetisch bestimmte, Verhaltensmuster an spätere Generationen weitergeben, manche Vögel etwa Gesangsweisen. Aus biologischer Sicht stellt dies das grundlegende Kriterium für ein kulturelles Merkmal dar: Man erwirbt ein populationsspezifisches Verhalten, indem man es bei anderen beobachtet, und gibt es später seinerseits auf gleichem Wege weiter. In diesem schlichten Sinne haben auch Schimpansen sicherlich Kultur. Aber meinte Goodall mit dem Begriff nicht mehr?
Die achtziger Jahre brachten in diesen Forschungen einen Durchbruch. In einer der Schimpansenpopulationen im Taï-Gebiet beobachteten Hedwige Boesch und ich (Christophe Boesch) ein spektakuläres Verhalten: die Verwendung eines "Hammers" beim Zerschlagen von Nüssen. Von den ostafrikanischen Schimpansen-Gruppen war so etwas trotz jahrzehntelanger Beobachtungen unbekannt. Verschiedene Forscher fanden nun die Zeit reif dafür, die Unterschiede zwischen den Populationen einmal systematisch zusammenzustellen. In seinem 1992 erschienenen Buch listete William C. McGrew von der Universität Miami für Schimpansen neunzehn Umgangsweisen mit Werkzeugen auf, die sich lokal unterscheiden. Und zusammen mit dem Psychologen Michael Tomasello, meinem Kollegen am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, trug ich Ende 1998 fünfundzwanzig Verhaltensweisen zusammen, die unseres Erachtens in den Schimpansengemeinschaften kulturell tradiert sein könnten.
Inzwischen konnten wir diese Liste beträchtlich erweitern. Neun führende Schimpansen-Experten haben daran mitgewirkt, darunter beide Autoren dieses Artikels. Wir haben hierfür einen Großteil der Feldbeobachtungen an Schimpansen überhaupt ausgewertet. Insgesamt umfasst dies 151 "Beobachtungsjahre". Unser Katalog enthält nun neununddreißig Verhaltensmuster, denen wir einen kulturellen Hintergrund zuschreiben.
Für weitgehend kulturell geformt halten wir zum Beispiel die verschiedenen Methoden, mit denen Schimpansen mit einem Halm oder Stöckchen nach Ameisen oder auch nach Termiten "angeln". Die "Angel" kann unterschiedlich aussehen: je nach Technik kürzer oder länger, dünner oder dicker, aus weicherem oder härterem Material. Völlig verschieden ist auch die Weise, wie der Schimpanse die Insekten in seinen Mund befördert. Zum Termitenangeln mag er etwa einen ziemlich dünnen, biegbaren Halm benutzen. Den taucht er durch eine kaum sichtbare Öffnung in einen Gang des Termitenhügels. Dann bringt er die Termiten mit einer leichten Bewegung aus dem Handgelenk dazu, sich in das Werkzeug zu verbeißen. Nun zieht er den Halm wieder heraus und frisst die angeklammerte Beute vom Halm. Für Ameisen nimmt er stattdessen vielleicht ein kurzes, steifes Stöckchen. Dieses steckt er in einen Ameisenhügel. Die Ameisen krabbeln daran hoch, er holt die Rute heraus und knabbert die Beute ab. Oder er verwendet ein etwas längeres Werkzeug, zieht dieses dann rasch durch die geschlossene Faust der anderen Hand und schiebt sich gleich einen ganzen Ameisenklumpen in den Mund. Kulturell übermittelt scheint beispielsweise auch die Gewohnheit mancher Gruppen zu sein, sich aus Blättern einen trockenen Sitzplatz herzustellen. Ebenso dürften etliche Verhaltensmuster beim sozialen Lausen tradiert sein. Mit dieser kulturellen Vielfalt sind Schimpansen innerhalb der Tierwelt unerreicht. Man könnte sogar sagen, dass sie in dieser Hinsicht unter den Tieren eine eigene Klasse bilden.
Was aber ihre Ähnlichkeit mit dem Menschen betrifft, so ist der Unterschied natürlich immer noch immens. Die Differenziertheit der menschlichen Kulturen ist schier unermesslich. Doch auch den Reichtum sowie die Komplexität der Schimpansenkulturen haben wir bestimmt noch lange nicht erfasst. Die Forschungen darüber beginnen eigentlich erst. Wahrscheinlich schürfen wir bei diesen Fragen gerade an der Oberfläche.
Wenn Anthropologen beim Menschen von "amerikanischer" oder "chinesischer" Kultur sprechen, fassen sie damit ein Konglomerat von Erscheinungen zusammen: Sprache, Kleidung, Essgewohnheiten, Heiratsbräuche und vieles mehr. Andere bekannte tradierte Verhaltensweisen bei Tieren stehen gewöhnlich für sich allein. Noch nie fanden Ornithologen, dass der Gesangsdialekt eines Singvogels etwa mit einer eigenen Art des Balzens oder Futtersuchens einhergeht.
Bei Schimpansen jedoch ist das anders. Jede der untersuchten Populationen weist ein ganzes Bündel tradierter Verhaltensweisen auf. Wir sprechen inzwischen von einer "Gombe"- oder einer "Taï"-Kultur. Durch diese spezifischen Gesamtmuster lässt jedes Tier erkennen, welcher Gemeinschaft es angehört.
Zwei Beispiele: Ein bestimmter Affe pflegt mit Hilfe eines "Hammers" Nüsse zu knacken; bevor er seine Aufmerksamkeit heischende, laute Trommelshow aufführt, steckt er sich ein hartes Blatt zwischen die Zähne, von dem er geräuschvoll Stücke abreißt; paarungsbereite Weibchen versucht er unter anderem auf sich aufmerksam zu machen, indem er mit den Fingerknöcheln diskret auf einen Baumstamm klopft; zum Ameisenangeln nimmt dieser Affe ein kurzes Stöckchen und frisst die Ameisen, die daran hochkrabbeln, direkt vom Stock ab. Kein Zweifel – dieser Schimpanse lebt in Taï. Von einem anderen Tier wissen wir, dass es mit den Zähnen geräuschvoll kleine Stücke von Blättern abreißt, um sich bemerkbar zu machen. Außerdem hebt der Affe bei der sozialen Fellpflege den Arm des Partners an der Hand hoch. Beide Verhaltensweisen zugleich sind nur in Kibale und Mahale üblich. Des weiteren pflegt dieser Schimpanse manchmal Baumameisen zu "angeln". Dies zusammen mit den anderen beiden Merkmalen weist ihn als Angehörigen der "Mahale-Kultur" aus.
Die Unterschiede zwischen den Schimpansen-Populationen gehen in manchem auch noch ins Detail. Zudem erreichen manche Gruppen den gleichen Zweck auf etwas andere Weise. So beseitigen alle Gruppen Ungeziefer, das sie beim Lausen finden. In Taï zerdrückt man das Tier dann aber manchmal mit dem Finger auf dem Unterarm, während man es in Gombe auf einem Blatt totquetscht und dann erst frisst. Dagegen inspizieren die Schimpansen in Budongo das Insekt zuerst auf einem Blatt und entscheiden dann, ob es gefressen werden soll oder nicht.
Andererseits kann ein Verhalten gleich aussehen, aber in anderem Zusammenhang benutzt werden. Das laute Zerfetzen von Blättern mit Hilfe der Zähne dient in Mahale den Männchen zur Paarungsaufforderung. In Taï ist es Teil der demonstrativen Trommelshow.
Die neuen Befunde über Schimpansenkulturen sind in vieler Hinsicht von recht großer Tragweite. Nicht nur haben die Daten unsere Einschätzung dieser Menschenaffen entscheidend verändert. Vielmehr beleuchten sie auch die Sonderstellung des Menschen in neuer Weise. Als wir diese Erkenntnisse vor zwei Jahren in der englischen Fachzeitschrift "Nature" publizierten, reagierten manche unserer Kollegen ziemlich konsterniert. Offenbar fiel es ihnen recht schwer zu akzeptieren, dass sich der Mensch von den Tieren in puncto Kulturfähigkeit nicht grundsätzlich unterscheidet – dass er nicht mehr die einzige Art sein soll, die Kultur im Sinne des Wortes hervorgebracht hat. Die harsche Kritik erscheint uns jedoch nicht angebracht. Sie dürfte sogar auf einem Missverständnis beruhen. Die menschliche Kulturleistung steht nach wie vor unendlich hoch über dem, was Schimpansen zeigen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen menschlichen Kulturen sind unvergleichlich viel größer, allein schon dank der Sprache, die Fertigkeiten, Sitten und Bräuche tradieren hilft. Das, was wir nun über Schimpansen wissen, lässt besser noch als früher ermessen, wie sehr der Mensch sich von ihnen abhebt. Die neuen Befunde tun unserem Selbstverständnis keinen Abbruch, sondern stellen unsere Einzigartigkeit bloß klarer heraus.
Viele unserer kulturellen Errungenschaften sind der Tatsache zu verdanken, dass der Mensch die Dinge weiterentwickelt und seinen Zwecken immer besser anpasst. Man nehme nur die Idee des Hammers. Von einem unbearbeiteten Stein bis zu einem elektronisch gesteuerten Roboterhammer ist es ein weiter Weg, der viele Neuerungen und Verbesserungsschritte erforderte. Vielleicht deutet sich bei Schimpansen ein allererster Anfang für solch einen kumulativen Kulturprozess an. Beispielsweise verhindern die Schimpansen von Bossou, dass Steinambosse auf unebenem Gelände wackeln, indem sie Steine als Keile darunterschieben. Sie machen das aber auch dort nur selten. Im Vergleich zur menschlichen Kultur nehmen sich derartige Leistungen der Schimpansen höchst bescheiden aus.
Eines machen diese Untersuchungen jedoch deutlich: Unsere Veranlagung, Kultur zu erschaffen, entstand nicht plötzlich mit dem Erscheinen des Menschen aus dem Nichts heraus. Die geistigen Voraussetzungen dafür könnten aus einfacheren Anfängen, aus Vorstufen, entstanden sein und somit sehr frühe Wurzeln haben. Vorstellbar ist zumindest, dass unter anderem soziales Lernen ähnlich dem bei Schimpansen unseren Vorfahren vor zwei Millionen Jahren erlaubte, die ersten Steinwerkzeug-Kulturen zu schaffen.
Ob Schimpansen als einzige Tiere eine Kulturfähigkeit besitzen, die der des Menschen entfernt gleicht, müssen zukünftige Forschungen erweisen. Gerade jetzt liegen Hinweise vor, dass wir auch andere Arten in die Diskussion einbeziehen sollten. Einige Orang-Utans auf Sumatra benutzen gelegentlich mindestens zwei Sorten von Werkzeugen. Dies zeigte eine Studie von Carel P. Schaik und seinen Kollegen von der Duke-Universität in Durham (US-Bundesstaat North Carolina). Bei anderen Orang-Populationen beobachtete das bisher niemand, trotz jahrelanger Feldforschungen. Auch die Wale erscheinen in dieser Hinsicht interessant. Bei diesen Meeressäugern dokumentieren Hal Whitehead und sein Team von der Dalhousie University in Halifax (Kanada) zur Zeit Parallelen zwischen Gesangsdialekten und Methoden der Nahrungsbeschaffung. Natürlich würden wir es begrüßen, wenn sich unser Ansatz, mit dem wir die Schimpansenkulturen vergleichen, für die Erforschung dieser anderen Arten als nützlich erwiese.
Und nicht zuletzt: Was bringen die neuen Erkenntnisse den Schimpansen selbst? Gerade heute, da wir diese uns in vielem so ähnlichen Geschöpfe endlich ein wenig kennen lernen, werden sie in großer Zahl abgeschlachtet. Der Gesamtbestand ging im vergangenen Jahrhundert beträchtlich zurück und nimmt immer noch weiter rasant ab. Schuld daran tragen illegal gestellte Fallen, Waldrodungen und in letzter Zeit besonders auch der Handel mit Wildfleisch aus dem Busch, der bereits alarmierende Ausmaße hat. Er weitete sich aus, weil zur Holzgewinnung angelegte befahrbare Schneisen in die Urwälder hinein den Zugang zu den Wildtieren und ihren Abtransport erleichtern. Schimpansenfleisch wird bereits weltweit vertrieben, auch in Europa. Der Mensch dezimiert aber nicht nur eine Tierart, sondern er vernichtet mit jeder Schimpansenpopulation eine eigene Kultur.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt. Eben diese Vielseitigkeit der Kulturen könnte die Einwohner der betreffenden Länder umstimmen, die letzten Schimpansenbestände zu retten. In einigen wenigen Gegenden verzeichnen Naturschützer mit Aufklärungskampagnen bereits Erfolge. In Zaïre meinte ein Mann, nachdem er an einer Filmvorführung über die geistigen Leistungen dieser Menschenaffen teilgenommen hatte: "Der Affe ist ja wie ich! Den kann ich nicht mehr essen!"
Literaturhinweise
Chimpanzees of the Taï Forest: Behavioral Ecology and Evolution. Von Ch. Boesch und H. Boesch-Aschermann. Oxford University Press, 2000.
Primate Culture and Social Learning. Von A. Whiten in: Cognitive Science, Bd. 24, S. 477, 2000.
Cultures in Chimpanzees. Von A. Whiten et al. in: Nature, Bd. 399, S. 682, 1999.
Vergleich der Gesellschaften
Schon seit Jahrzehnten suchen Wissenschaftler nach Anzeichen von Kultur bei Schimpansen. Leider hatten diese Studien aber allzu oft eine entscheidende Schwäche. Meistens wurden dafür nur die Angaben aus veröffentlichten Arbeiten ausgewertet, welche die einzelnen Feldforscher jeweils über eine bestimmte Schimpansengemeinschaft verfasst hatten. Bei dieser Methode dürfte vieles an kulturellen Unterschieden übersehen worden sein. Aus drei Gründen erscheint das Vorgehen unzureichend:
- Forscher publizieren gewöhnlich keine ausführliche Liste all dessen, was sie nicht gesehen haben. Aber genau das müssen wir wissen. Wir benötigen ebenso gründliche Angaben zu den vorhandenen wie zu den nicht vorhandenen Verhaltensweisen.
- In vielen Arbeiten erfährt man zwar, dass eine bestimmte Handlung vorkommt, aber nicht, wie häufig. Auch das kann in die Irre führen. Es ist ein großer Unterschied, ob das Verhalten regelmäßig auftritt und somit als Teil der Kultur dieser Affen gelten kann oder nur ein einziges Mal vorkam.
- Die Beschreibungen des Verhaltens sind oft nicht sehr präzis. Dies macht es schwierig festzustellen, ob die Schimpansen an einem anderen Ort wirklich das Gleiche tun.
Wir (die Autoren dieses Artikels) sind deswegen anders vorgegangen. Wir baten die einzelnen Freilandteams, alles Verhalten aufzulisten, das ihrer Meinung nach bei den von ihnen beobachteten Schimpansen auf Tradition beruht. Aus den gesamten Angaben erstellten wir einen Katalog von fünfundsechzig Aktivitäten, die als Kulturmerkmale in Frage kamen.
Diesen Katalog verteilten wir an die Leiter der Freilandprojekte. Sie sollten zu jedem aufgelisteten Verhalten angeben, ob es in ihrem Gebiet überhaupt auftritt und wenn ja, wie häufig. Dazu gaben wir folgende Hauptkategorien vor:
- "üblich" – alle oder fast alle Tiere zeigen das Verhalten; bzw. die meisten Angehörigen einer bestimmten Altersklasse oder eines Geschlechts benutzen es;
- "gebräuchlich" – das Verhalten tritt nur gelegentlich auf, aber etliche der Tiere zeigen es immer wieder;
- "vorhanden" – tritt zwar auf, kommt aber recht selten vor;
- "nicht bekannt" – die Daten reichen nicht aus, um eine Entscheidung treffen zu können.
Diese Studie enthält die langjährigen Befunde über sieben Schimpansengesellschaften, die inzwischen an anwesende Menschen gewöhnt sind. Alles in allem fließen die Daten von mehr als 150 Jahren Beobachtung wilder Schimpansen ein.
Am meisten interessierten uns natürlich solche Verhaltensmuster, die an mindestens einem Ort gar nicht vorkommen und an mindestens einem anderen Ort wenigstens gelegentlich. Eine Aktivität, auf die beides zutrifft, werten wir als kulturell. Tätigkeiten, die umweltbedingt an manchen Orten nicht ausführbar sind, können wir nicht einbeziehen. Beispielsweise fischen nur die Bossou-Schimpansen mit Stöcken nach Algen, die sie dann verspeisen. Dies liegt daran, dass nur in ihrem Lebensraum entsprechende algenreiche Gewässer existieren.
Am Ende blieben neununddreißig Verhaltensmuster, die unseres Erachtens als kulturell unterschiedlich eingestuft werden dürfen. Darunter fallen zahlreiche Arten des Werkzeuggebrauchs, viele Methoden der Fellpflege und auch Verhaltensweisen im Bereich der Paarung. Dieser Reichtum an Kultur bei Schimpansen übertrifft bei weitem alles, was Verhaltensforscher hierzu bei anderen Tieren entdeckten.
Können Affen "nachäffen"?
Wer Menschenaffen im Zoo herumtollen sieht, mag ohne weiteres glauben, dass diese geistig beweglichen Tiere in der Lage sind, Verhalten anderer nachzuahmen. Doch Wissenschaftler sind sich in dieser Frage gar nicht einig.
Nehmen wir ein Beispiel vom Taï-Wald in Westafrika: Dort schauen Schimpansenkinder ihrer Mutter manchmal zu, wenn sie Nüsse öffnet. Meistens werden die Sprösslinge irgendwann selbst Nüsse in der gleichen Weise öffnen. Nun ist die Frage: Imitiert der junge Schimpanse wirklich seine Mutter? Es könnte ja sein, dass der konzentrierte Eifer der Mutter beim Nüsseknacken das Kind anregt, sich voller Interesse mit diesem offenbar leckeren Futter zu beschäftigen. Es könnte nun ganz erpicht darauf sein, die Nüsse aufzukriegen und deswegen das Öffnen mit einem Hammer schließlich durch reines Herumprobieren herausfinden.
In den Diskussionen über Schimpansenkulturen ist dieser Unterschied sehr wichtig. Nach Auffassung mancher Wissenschaftler zeichnet sich ein kulturelles Merkmal dadurch aus, dass die jüngere Generation das Verhalten durch Nachahmung der älteren erwirbt. Wenn aber ein junger Schimpanse, sobald er nur einen geeigneten Hammerstein in die Hände bekommt, ganz allein herausfindet, wie er eine Nuss öffnen kann, darf man dies nicht als Kulturmerkmal bewerten. Würden Schimpansen alle Techniken immer nur durch reines Ausprobieren lernen, gewissermaßen also das Rad stets neu erfinden, könnte daraus nie eine kumulative Kultur entstehen.
Ob Schimpansen überhaupt durch Nachahmung lernen können, lässt sich am besten in Experimenten mit Zootieren klären. Dazu erfand ich (Whiten) zusammen mit Deborah M. Custance vom Gold-smith College in London künstliche "Früchte": Behältnisse mit essbarem Inhalt, die nicht ganz leicht zu öffnen sind (Bild). Die vorwiegend jugendlichen Zooschimpansen konnten Menschen beim "Schälen" dieser "Früchte" zuschauen. Und zwar führten wir ihnen zwei völlig verschiedene komplizierte Schältechniken vor, allerdings jedem Einzeltier nur eine davon. Dann durften sie selbst ihr Geschick zeigen. Tatsächlich versuchten die jungen Schimpansen sich tendenziell eher in der ihnen demonstrierten Technik. Ähnliche Tests führten wir mit dreijährigen Kindern durch. Wie sich dabei he-rausstellte, ahmen sechsjährige Schimpansen in sehr ähnlicher Weise nach wie dreijährige Kinder. Allerdings imitieren sie den Ablauf im Allgemeinen etwas ungenauer.
Eine völlig andere Studie führte ich (Boesch) gemeinsam mit Mitarbeitern mit den Schimpansen des Züricher Zoos durch. Wir gaben den Affen Nüsse und zum Hämmern geeignete Steine ähnlich denen in Taï. Im Vergleich zu ihren westafrikanischen Vettern stellten die Zooschimpansen mit den Gegenständen viel mehr Verschiedenes an. In Taï erscheinen die Handlungen eingegrenzter, aber auch zielgerichteter. Wir vermuten, dass die schon kulturell geprägte Umgebung das Verhalten der jungen in der Wildnis aufwachsenden Schimpansen in Richtung der nützlichsten Fertigkeiten lenkt. Im Zoo können sich Schimpansen nicht an Traditionen orientieren. Deshalb probieren sie dort auch viele nicht besonders zweckmäßige Handlungen.
Interessanterweise passt diese Deutung gut zu einigen Ergebnissen der "Schäl"-Experimente. In einer Testreihe mit den "Früchten" übernahmen die Schimpansen eine ganze Handlungssequenz – aber erst nach mehrmaliger Vorführung, und auch erst, nachdem sie zuvor verschiedene selbst ausgedachte Alternativen durchprobiert hatten. Sie verwarfen also ihre eigenen Erfahrungen zu Gunsten des Vorbilds.
Schimpansen können nachäffen – das ist unser Schluss aus diesen Befunden. Nach unserer Ansicht bildet diese Fähigkeit zu imitieren bei ihnen einen der Stränge zur Weitergabe kultureller Inhalte. Wie sonst hätten sich die grundverschiedenen lokalen Traditionen ausbilden können – ob die einzelnen Techniken beim Ameisenangeln oder die Art, wie sie mit Fellparasiten verfahren?
Festzuhalten bleibt jedoch, dass manche Kulturmerkmale – wie beim Menschen auch – zweifellos durch ein Zusammenspiel von Nachahmung und einfacheren Formen des sozialen Lernens vermittelt werden. So mag auch wichtig sein, dass in dem Tier durch andere Interesse für ein augenscheinlich nützliches Werkzeug geweckt wird. In jedem Fall aber lernt der junge Schimpanse von den älteren Artgenossen, was er zum Leben im Urwald braucht.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2001, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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