Freier Wille: Ohne Zufall gibt es keine Freiheit
Herr Prof. Briegel, eine kurze Frage vorab: Stellen Sie sich diesem Gespräch aus freien Stücken?
Hans Briegel: Ja – soweit ich das beurteilen kann.
Was prädestiniert Sie als Physiker, Aussagen über den freien Willen zu machen?
Die Physik liefert die Grundlagen unseres naturwissenschaftlichen Weltbilds. Vor diesem Hintergrund finden viele Diskussionen über die Willensfreiheit überhaupt erst statt. Einige Philosophen argumentieren aber, dass das Phänomen der menschlichen Freiheit auf der Grundlage der heute bekannten Naturgesetze nicht erklärbar sei, John Searle beispielsweise. In der Tat stellt sich die hartnäckige Frage, wie freier Wille überhaupt möglich sein soll, wenn doch alles, was geschieht, universellen Naturgesetzen unterliegt – und zwar auf jeder Skala unseres Körpers. Die Beantwortung dieser Frage kann daher nicht allein der Gehirnforschung oder der Philosophie überlassen werden.
Aber wie kann es Freiheit geben, wenn doch alles durch Naturgesetze vorgegeben ist?
In einem rein deterministischen Weltbild sehe ich in der Tat keinen Raum für einen befriedigenden Begriff von Freiheit. Wir wissen allerdings aus der Quantenphysik, dass in der Natur auch indeterministische Prozesse eine fundamentale Rolle spielen, wie zum Beispiel beim radioaktiven Zerfall oder beim Durchgang von Photonen durch einen Strahlteiler. Zufallsprozesse dieser Art werden heute in Quantenphysiklabors routinemäßig erzeugt und untersucht.
In einer Arbeit zusammen mit meiner Kollegin Gemma De las Cuevas stellen wir ein neues Modell der Informationsverarbeitung vor, bei dem Zufallsprozesse ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Das Modell beschreibt künstliche Agenten mit einer bestimmten Form von Gedächtnis, bei dem Erfahrungen als ein Netzwerk von so genannten Clips abgespeichert werden. Dieses dient dem Agenten als eine Art Simulationsplattform, auf der verschiedene Szenarien durchgespielt werden können, bevor er konkrete Handlungen ergreift. Dabei werden Zufallsprozesse eingesetzt, um abgespeicherte Erfahrungsinhalte – so genannte episodische "Clips" – und ihre Vernetzung spontan zu variieren. Da diese Modifikationen auf der Ebene einer Simulation stattfinden, ist der Agent in seinen Handlungen nicht unmittelbar an den Zufall gekoppelt. Er erzeugt gewissermaßen selbst Optionen. Wichtig ist dabei, dass die Handlungen des Agenten nicht allein durch seine vorausgegangenen Erfahrungen festgelegt sind, sondern die von ihm erzeugten Variationen spielen eine entscheidende Rolle. Dieser vom Agenten erzeugte Spielraum erlaubt eine rudimentäre Form von kreativem Verhalten, das durchaus rational ist, bei dem aber nicht alles vorherbestimmt ist.
Wenn ich das richtig verstanden habe, entsteht Kreativität und Freiheit in dem von Ihnen vorgestellten Modell dadurch, dass abgespeicherte Erfahrungen sich zufällig ändern können oder – mit anderen Worten – dass man sich nicht "richtig" erinnert. Verwechseln Sie in Ihrem Modell nicht die Begriffe Zufall und Freiheit?
Die gespeicherten Erinnerungen sind in der Tat das Material, welches das künftige Verhalten des Agenten beeinflusst. Zufällige Variationen von Erinnerungen könnte man in der Tat als "sich nicht richtig erinnern" bezeichnen. Solche fiktiven Erinnerungen können aber auch eine Vorlage liefern, "wie es auch hätte sein können". Insofern liefern sie das Material für das Denkbare und Vorstellbare auf der Grundlage realer Erfahrungen. Wichtig ist dabei, dass diese Veränderungen nicht beliebig sind, sondern vom bewährten Erfahrungsschatz ausgehen. Werden solche Erinnerungen als Vorlagen für künftige Aktionen des Agenten herangezogen, wie es in unserem Modell der projektiven Simulation der Fall ist, dann definiert dies neue Handlungsoptionen. In unserem Modell erzeugt der Zufall also Optionen, ohne die es in der Tat keine Freiheit geben kann.
Ihr Modell erlaubt also den Akt der Kreativität. Lässt sich darin auch das Maß an Kreativität "einstellen", beispielsweise zwischen den Polen hochkreativ und weniger kreativ?
In gewisser Weise könnte man das so sagen. In dem Modell lässt sich im Prinzip einstellen, wie stark der Agent mit seinen Erinnerungen "spielt", das heißt sie variiert oder neu zusammenstellt. Vermutlich gibt es einen optimalen Bereich, denn zu viel Variation kann für effizientes Lernen auch destruktiv sein. Das haben wir aber noch nicht im Detail untersucht.
Was machen weniger kreative Menschen demnach falsch?
Von richtig und falsch würde ich in diesem Zusammenhang nicht reden. Kreative Menschen zeichnen sich aber zweifellos dadurch aus, dass sich ihnen in einer gegebenen Situation mehr Möglichkeiten eröffnen als anderen und dass sie diese auch nutzen. Einen Parameter, an dem man beim Menschen drehen könnte, gibt es Gott sei Dank nicht. Wer mehr Erfahrung hat, tut sich aber vermutlich leichter, einfach weil dann der Variationsraum größer ist.
Lassen sich künftig eventuell sogar Maschinen entwickeln, die die Kreativität eines Einstein in den Naturwissenschaften oder eines Picasso in der Kunst überflügeln?
Karl Valentin sagte angeblich einmal, "Vorhersagen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen". Aber im Ernst: Wir reden hier über ein theoretisches Modell zur Erzeugung einer rudimentären Form kreativen Verhaltens. Das könnte mittelfristig durchaus zu neuen Implementierungen im Bereich der Robotik führen. Aber in allen mir bekannten Ansätzen zur künstlichen Intelligenz ist man immer noch meilenweit davon entfernt, mit bewusstem menschlichem Verhalten konkurrieren zu können. Auch kreative Maschinen im Sinn unseres Modells werden übrigens kein fertiges Wissen eingepflanzt bekommen, sondern sie werden, ähnlich wie Menschen, viel lernen müssen, um sich in der Welt zurechtzufinden.
Hauchen Sie diesen Maschinen oder Robotern dann eventuell sogar so etwas wie Leben ein?
Ich denke, dass zum Rätsel des Lebens in wissenschaftlichen und philosophischen Debatten schon viel gesagt und verstanden wurde. Unser Modell hat hier wenig beizutragen. Es soll keine Erklärung von Bewusstsein sein oder gar eine Theorie über die Funktionsweise des Gehirns. Allerdings definiert die projektive Simulation und die zu Grunde liegende Art von Informationsverarbeitung in der Tat eine interessante Form von Innenleben beziehungsweise "Innerlichkeit", ohne den Begriff des Bewusstseins vorauszusetzen. Das könnte für philosophische Betrachtungen sehr interessant sein.
Müssen wir dennoch fürchten, dass künstlich geschaffene "Überwesen" künftig die Welt bevölkern und uns Menschen verdrängen?
Ich glaube nicht, dass Roboter uns verdrängen werden, und wir brauchen uns auch nicht zu fürchten. Es liegt immer an uns selbst, wie wir die Welt gestalten wollen und wie sie in Zukunft aussehen wird. Allerdings halte ich es für durchaus wahrscheinlich, dass intelligente Roboter oder Agenten eines Tages ein fester Bestandteil unseres Alltags werden. Sie könnten in Zukunft unser Leben und unsere Welt auf ähnlich dramatische Weise verändern, wie es das Automobil oder der Computer bereits getan haben.
Herr Professor Briegel, wir danken Ihnen für das Gespräch.
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