Fußgängerpsychologie: Die verschlungenen Wege der Menschen
Wer sein Büro hoch über einem Universitätscampus hat, kommt beim Blick aus dem Fenster wohl nicht umhin, den Kopf zu schütteln über die Eigenheiten der Menschen: Er sieht ordentlich angelegte Wege von ausreichender Breite, die rechtwinklig aufeinandertreffen und alle Gebäude des Campus miteinander verbinden – und zwischendrin matschige Trampelpfade quer über Wiesen und durch Parkanlagen, die den Weg vom Institut zur S-Bahn-Station oder vom Studentenwohnheim zur Mensa abkürzen, teilweise nur um wenige Meter.
Der Physiker Dirk Helbing, heute an der ETH Zürich, hatte diesen Blick in den 1990er Jahren aus dem Fenster seines Büros an der Universität Stuttgart – und begann daraufhin ein Phänomen zu erforschen, das jeder kennt und das Stadt- und Landschaftsplanern bisweilen graue Haare wachsen lässt: die Entstehung von Trampelpfaden. Die Forschung verfolgte ein konkretes Ziel: "Simulationsprogramme können zur Planung und Optimierung von Fußgängerzonen und Wegesystemen in öffentlichen Parks genutzt werden", schrieb er in einer seiner damaligen Arbeiten.
Inzwischen gibt es erste Simulationsprogramme für Stadtplaner und Architekten, in die Helbings Erkenntnisse einfließen. Auf der Grundlage neuerer Forschungen wird in diesem Jahr in der Straßburger Altstadt rund um die Pont Kuss eine gemeinsam von Fußgängern und Straßenverkehr genutzte Fläche neu gestaltet. Das Ziel: Fußgänger sollen nicht mehr länger das Nachsehen haben, wenn es eng zugeht – ein Problem, das vielen deutschen Großstädten und insbesondere Altstädten gemein ist. "Fußgänger haben bislang in der Planung häufig eine geringere Aufmerksamkeit erfahren als der Fahrzeugverkehr", sagt Tobias Kretz, Produktmanager der PTV Group. Die Software "Viswalk", die das Unternehmen vertreibt und die in Zusammenarbeit mit Dirk Helbing entstanden ist, nimmt den Fußgänger ins Visier, um dieser Misere abzuhelfen.
Fußgängersimulation erscheint vielen Stadtplanern auf den ersten Blick wenig relevant: Während Fahrzeuge beispielsweise oft mehrere Ampelphasen warten müssen, können selbst große Gruppen an Fußgängern in der Regel eine einzige grüne Ampelphase gemeinsam nutzen. "Deshalb gibt es hier scheinbar weniger Optimierungsbedarf", erklärt Kretz, "weshalb die Anwendung dem Fahrzeugverkehr um 15 Jahre hinterherhinkt." Das führt dazu, dass den Passanten das Zu-Fuß-Gehen häufig durch undurchdachte Planung verleidet wird – beispielsweise wenn angelegte Wege einen Umweg erfordern oder Ampeln so geschaltet sind, dass die Straßenbahn den Fahrgästen stets vor der Nase wegfährt.
Wieso es trotz wachsender wissenschaftlicher Expertise häufig zu solchen Fehlplanungen kommt, wundert Dirk Helbing, der sich heute als Professor für Soziologie an der ETH Zürich unter anderem der Fußgängersimulation widmet: "Vielleicht liegt es daran, dass Planer den Menschen oft vorzugeben versuchen, was sie zu tun und zu lassen haben, anstatt sich in die Psychologie der Nutzer hineinzuversetzen." Helbing kennt die Herausforderungen, die Fußgänger an die Modellierer stellen – bis heute tüftelt er an ihnen herum.
Weiche Faktoren wie die Psychologie plagen die Modellierer
Denn nicht nur harte Fakten wie das angepeilte Ziel eines Fußgängers spielen bei der Wegefindung eine Rolle, sondern auch weiche Faktoren wie die Psychologie. Aber auch unabhängig von ihr sind Bewegungen von Fußgängern schwieriger zu berechnen als die von Fahrzeugen, die auf Grund der Straßenführung eine vorgegebene Richtung haben und nur die Geschwindigkeit variieren können. Bei der Bewegung sehr dicht gedrängter Menschenmassen bilden sich Strömungen bis hin zu Wellen ähnlich der Bewegung von Flüssigkeiten. Auch in etwas lichterem Gedränge finden sich Parallelen zur Teilchenphysik, auf der viele klassische Modelle der Fußgängersimulation basieren. Passanten werden hier mit Molekülen verglichen, ihre Bewegungen ähneln dem Resultat sich anziehender und abstoßender Kräfte. Oft liegen solche Modelle erstaunlich nah an der Realität. Aber der eigene Wille der Menschen verfälscht die Ergebnisse: Sie halten spontan an oder wechseln aus unvorhersehbaren Gründen die Richtung.
"Das Verhalten von Fußgängern, wenn sie die freie Wahl haben, ist nach wie vor die große Unbekannte in der Forschung", sagt Andreas Schadschneider. Der Professor für theoretische Physik an der Universität zu Köln beschäftigt sich unter anderem mit der Simulation von Evakuierungen großer Gebäude wie Stadien oder Konzerthallen. Anders als bei Menschenströmen in einer Fußgängerzone und auf dem Uni-Campus sind hier zumindest einige Variablen bekannt: Das Ziel der Menschen – der Notausgang – sowie das Vorhaben, das Gebäude schnellstmöglich zu verlassen. "Wenn Menschen nicht auf dem direkten Weg zum Notausgang wollen, sind ihre Bewegungen schwieriger zu simulieren", sagt Schadschneider. Und selbst in Notsituationen streben nicht alle zum nächstgelegenen Ausgang, sondern bevorzugen den bekannten Weg, auf dem sie gekommen sind – auch wenn dieser weiter ist. Das Irrationale der Menschen macht den Wissenschaftlern das Leben schwer.
Schadschneider hat unter anderem in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt einen Evakuierungsassistenten für das Düsseldorfer Stadion mitentwickelt. Diese Simulation unter realistischen Bedingungen zu testen, wäre zu gefährlich gewesen. Deshalb untersuchten die Forscher eine "normale" Leerung des Stadions nach einem Spiel – und stießen auf zu viele Unbekannte: Weder welchen Ausgang die Besucher benutzen würden noch in welchem Tempo sie gehen würden, konnte dem Modell zu Grunde gelegt werden. "Das hängt ja auch davon ab, wie die Mannschaft spielt", erklärt Schadschneider. Nach einem Sieg bleiben die Fans noch etwas länger im Stadion und feiern, im Fall einer Niederlage verlassen die ersten noch vor Spielende das Stadion. Manche gehen auf einem Umweg zum Ausgang, andere direkt. Ein rein physikalisches Modell von sich anziehenden und abstoßenden Kräften greift da nicht. "Man kann eben nicht in die Köpfe der Menschen schauen", sagt Schadschneider, "wir brauchen hier die Unterstützung von Psychologen und Soziologen."
Fußgänger wollen Y-förmige Kreuzungen
So ist es kein Zufall, dass der einstige Stuttgarter Physiker Helbing heute ein soziologisches Institut in Zürich leitet. Seine Forschungspapiere enthalten neben zahlreichen Formeln auch viele empirische Erkenntnisse – oft überraschender Art. Auf den ersten Blick erscheint es beispielsweise seltsam, welche kurzen Strecken von Trampelpfaden zusätzlich abgekürzt werden: Oft handelt es sich in einem Fall um wenige Meter, während Fußgänger anderswo längere Umwege akzeptieren. Dafür hat Helbing eine Formel gefunden: das Verhältnis von Weg und möglicher Abkürzung. 25 Prozent Umweg nehmen Fußgänger in Kauf. Ein größerer Umweg wird abgekürzt – auch wenn es sich nur um eine kurze Strecke handelt. Auch die Kreuzungen von Trampelpfaden hat Helbing untersucht und herausgefunden, dass die rechtwinkligen Kreuzungen angelegter Wege offenbar nicht der Natur der Menschen entsprechen: Wenn zwei Trampelpfade aufeinandertreffen, bildet sich in der Regel eine Y-förmige Gabelung. Diese menschlichen Eigenheiten in der Wegefindung scheinen Stadtplaner wenig ernst zu nehmen: Noch immer kreuzen sich angelegte Wege üblicherweise rechtwinklig – was die Entstehung neuer Trampelpfade nach sich zieht.
Helbings Erkenntnisse über sich kreuzende Menschenströme könnten in der Stadtplanung von Bedeutung sein. So hat Helbing bereits in den 1990er Jahren beschrieben, dass sich dabei Bewegung und Stillstand beider Einzelströme abwechseln, beinahe wie an einer Ampel. "Schon ein Baum in der Mitte einer solchen Kreuzung könnte einen Kreisverkehr entstehen lassen", so Helbing. So müssten die Passanten in der Regel nicht stehen bleiben, die Effizienz ihrer Bewegung erhöhte sich in der Simulation.
Aktuell beschäftigt dieses Thema die Forscher erneut. Denn nur die Grundlagen für sich kreuzende Menschenmengen sind bekannt: So benötigen Europäer einen Raum von etwa einem halben Quadratmeter, um sich wohlzufühlen, und weichen bei drohenden Kollisionen in der Regel nach rechts aus, Asiaten begnügen sich mit 30 mal 30 Zentimetern und weichen nach links aus. Viele andere Effekte sich kreuzender Ströme sind nach wie vor unbekannt: "Noch gibt es kein vernünftiges Modell dafür, was dann geschieht", sagt Hartmut Schwandt, Professor für Mathematik an der Technischen Universität (TU) Berlin. Gemeinsam mit Verkehrswissenschaftlern der TU experimentiert Schwandt, wie sich Menschen in solchen Situationen verhalten, um dieses Verhalten in Zahlen und Formeln zu gießen. Haben sie ein Ziel vor Augen, versuchen sie, dieses auf dem kürzesten Weg zu erreichen. Aber wie verhalten sie sich, wenn das Ziel durch Hindernisse zwischenzeitlich verdeckt ist? Welche Nähe zu fremden Passanten ertragen sie, und wann weichen sie vom ursprünglich geplanten Weg ab? Wie verhalten sich Gruppen?
Diese so genannten heuristischen Faktoren – Entscheidungen, die Fußgänger treffen, ohne darüber nachzudenken – lassen sich kaum berechnen, zumal sie kulturell verschieden sind. Der Physiker Andreas Schadschneider und seine Kollegen baten für ein Experiment Fußgänger in Deutschland, China, Indien und Japan, einen einheitlichen Rundkurs zügig zu durchlaufen. Die Ergebnisse variierten erheblich. So liefen die Inder deutlich schneller als die Deutschen und akzeptierten dichteres Gedränge. Noch hat Schadschneider keine definitive Erklärung für die unterschiedlichen Zahlen. Schwandt ist als Mathematiker eher zurückhaltend, ob sich menschliche Eigenheiten in Formeln umsetzen lassen: "Echte Heuristik können Sie, wenn überhaupt, nur sehr schwer in Zahlen fassen."
Fußgänger suchen Lücken
Dirk Helbing hingegen versucht genau das: Auch einige heuristische Faktoren finden neben den Kräften der Physik Eingang in ein neues Modell, das er gemeinsam mit Kollegen aus Frankreich entwickelt hat. "Unser Modell ist psychologisch inspiriert und nimmt an, dass Fußgänger Lücken suchen", erklärt Helbing. Anders als das alte "Soziale-Kräfte-Modell", das Abstoßungskräfte zwischen Fußgängern und Hindernissen definiert, geht das neue Modell davon aus, dass Fußgänger auf ihr Ziel hin streben und dabei jene Richtung wählen, von der aus sie ein möglichst freies Sichtfeld haben. Auch die Geschwindigkeit findet Eingang in den Algorithmus: Sie ist abhängig von einer möglichen Kollision mit anderen Fußgängern – Menschen halten einen Sicherheitsabstand.
Bisher sei man davon ausgegangen, dass ein solcher psychologischer Beschreibungsansatz viel komplizierter sei als ein physikalischer, sagt Helbing. "Jetzt haben wir eine große Überraschung erlebt: Das kognitive Modell ist wesentlich einfacher." Gemeinsam mit Kollegen hat er es in zahlreichen Experimenten und mittels Videoaufzeichnungen mit der Realität verglichen und eine hohe Treffsicherheit festgestellt.
Bislang wird das psychologische Modell nicht von Stadtplanern angewandt, da es noch nicht marktreif ist. "Bisher ist nur das 'Social-Force-Modell' ins Reifestadium eines Anwendertools gelangt", so Helbing. Aber das Bedürfnis der Menschen, Lücken zu suchen und dafür im Gedränge möglicherweise einen Umweg zu wählen, wird derzeit in die Software "Viswalk" eingearbeitet. Denn hier handeln die Menschen nur auf den ersten Blick irrational, wenn sie weitere Wege gehen als nötig: Oft lohnt sich im Gedränge ein Umweg, der in etwas freieres Feld führt. Während sich in klassischen Simulationen der Agent aus unserer Sicht "dumm" verhält, weil er stur in Richtung auf das Ziel und damit oft in eine aus Menschen gebildete Sackgasse läuft, ist das Viswalk-Modell hier wieder ein Stück näher an der Realität.
Je genauer Wissenschaftler die Eigenheiten der menschlichen Bewegung vorhersagen können, umso mehr müssen Stadtplaner lernen umzudenken: Anstatt Passanten Wege vorzugeben, können sie im Voraus simulieren, welche Wege gebraucht werden und welche baulichen Maßnahmen ihren Zweck erfüllen – sofern sie an praktikableren Wegesystemen interessiert sind: "Es gibt eben bestimmte Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens", sagt Forscher Dirk Helbing: "Man kann sich entscheiden, dagegen anzukämpfen oder sie zu nutzen nach dem Motto: Go with the flow."
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