Infektionskrankheiten: Die Rückkehr der Pocken
Vor rund 10 000 Jahren dürften die Pocken zum ersten Mal aufgetreten sein. Damals konnten die Menschen nicht viel mehr tun, als die Götter um Beistand anzuflehen. Das krankheitserregende Virus, später Variola getauft, greift zuerst die Schleimhäute von Nase oder Hals an und breitet sich dann im Körper aus, bis ein typischer Ausschlag auf der Haut entsteht, gefolgt von Bläschen voller Viren. Bis zu einem Drittel der infizierten Menschen starben. Allein während des 20. Jahrhunderts raffte die Seuche mehr als 300 Millionen Männer, Frauen und Kinder dahin.
Gegen Ende der 1970er Jahre war die tödliche Plage jedoch ausgerottet – dank Massenimpfungen, die Millionen Menschen schützten und nur eine kleine Narbe am Oberarm zurückließen. Da Variola lediglich den Menschen als Wirt nutzt, konnte sich das Virus nirgendwo in der Natur mehr verstecken und starb aus. Die einzigen heute noch existierenden Exemplare sind in zwei Regierungslaboratorien streng unter Verschluss – eines in den USA und eines in Russland. Sofern es nicht zu einem katastrophalen Laborunfall, einer vorsätzlichen Freisetzung oder zur gentechnischen Rekonstruktion des Virus kommt, werden die Pocken nie wieder Tod und Elend auf der Erde verbreiten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte die Ausrottungskampagne organisiert und gab 1979 offizielle Entwarnung – zwei Jahre, nachdem bei einem somalischen Krankenhausmitarbeiter der letzte Einzelfall einer Variola-Infektion aufgetreten war. Danach hörten auch bald die routinemäßigen Pockenschutzimpfungen auf. Nur die USA begannen nach den Terroranschlägen vom September 2001 damit, ausgewähltes Gesundheits- und Militärpersonal wieder zu impfen. So ist inzwischen eine ganze Generation aufgewachsen ohne jeglichen Kontakt zum Virus oder zum Impfstoff.
Und da liegt das Problem. Denn die Pockenimpfung schützte nicht nur gegen das Variola-Virus, sondern auch gegen Infektionen mit seinen viralen Cousins – einschließlich Affen- und Kuhpocken. Früher spielte das im Vergleich zum Hauptproblem der menschlichen Pocken keine wesentliche Rolle. Jetzt stellt sich aber die Frage: Könnten sich diese Erreger, die ebenfalls zu den Orthopox-Viren gehören, zu einer neuen Gefahr für die Menschheit entwickeln? Es gibt durchaus Gründe zur Besorgnis. Denn anders als die Pocken kommen Kuh- und Affenpocken natürlicherweise auch in Nagetieren und anderen Lebewesen vor, so dass sie nie vollständig ausgerottet werden können. Die Anzahl dieser Erkrankungen beim Menschen ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Und beide Virenarten haben damit begonnen, neben ihren normalen Wirten auch andere Tiere zu infizieren, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie sich auf neuen Wegen über den Globus verbreiten.
Niemand kann vorhersagen, wie sich Affen- und Kuhpocken mit der Zeit verändern werden, doch die Virologen befürchten Mutationen, die ihnen eine einfachere Übertragung von Mensch zu Mensch ermöglichen. Dies könnte im Extremfall weite Teile des Planeten entvölkern. Solche düsteren Prognosen bewegen einige Forscher dazu, mehr zu erfahren über potenzielle neue Pockenepidemien, um bei den ersten Anzeichen einer bedrohlichen Entwicklung sofort Alarm schlagen zu können.
So wurde Variola zum weltweiten Killer
Geschichte und Biologie der verschiedenen Pockenviren liefern uns einige Hinweise darauf, was wir in Zukunft zu erwarten haben. Historisch gesehen stammen 60 Prozent der menschlichen Krankheitserreger, einschließlich der Orthopockenviren, von anderen Wirbeltieren. Variola engster lebender Verwandter, das Taterapockenvirus, wurde 1968 in Afrika in einer wild lebenden Rennmaus gefunden. Molekulare Untersuchungen lassen vermuten, dass der evolutionäre Vorfahr der Pocken seinen Ursprung vermutlich ebenfalls in einem afrikanischen Nagetier hatte, das heute möglicherweise ausgestorben ist. Auch Kuh- und Affenpocken leben – trotz ihrer Namen – vorwiegend in Wühlmäusen, Eichhörnchen oder anderen frei lebenden Nagern.
Als der Variola-Vorfahr zum ersten Mal auf den Menschen überging, war er vermutlich nicht sehr ansteckend, meint der Mikrobiologe Mark Buller von der Saint Louis University. Doch irgendwann entstand eine Variante, die es dem Virus ermöglichte, sich über Husten, Niesen oder sogar einfaches Ausatmen einer infizierten Person zu verbreiten. Zu der Zeit wohnten die Menschen auch schon viel enger zusammen, so dass ein Erkrankter wesentlich wahrscheinlicher die Infektion auf andere übertrug. Die Kombination aus der biologischen Veränderung und der gewandelten Umwelt lieferte dem Virus den nötigen Anschub, um zur weltweiten Seuche zu werden.
Doch allein die Tatsache, dass ein Virus leicht übertragbar ist, macht es nicht zwangsläufig zum Killer. Tatsächlich können die Forscher immer noch nicht erklären, warum Pockenerkrankungen derart unterschiedliche Schweregrade aufweisen. Bei den meisten Menschen verursachen Kuh-, Kamel- oder Waschbärpockeninfektionen nicht viel mehr als einen harmlosen Hautausschlag mit virusgefüllten Pusteln, die von allein abheilen. Eine Infektion mit Affenpocken hingegen kann tödlich enden. Dabei sind aber nicht alle Affenpockenviren gleichermaßen gefährlich. Der bedrohlichste Typ, der im Kongobecken entdeckt wurde, bringt etwa zehn Prozent der Betroffenen um, wohingegen eine andere Version aus Westafrika nur äußerst selten zum Tod führt.
Genau diese harmlosere westafrikanische Unterart verursachte 2003 die ersten dokumentierten Fälle von Affenpocken in der westlichen Hemisphäre. Der Ausbruch in sechs Staaten der USA brachte 19 Personen ins Krankenhaus – darunter ein Kind mit Hirnhautentzündung und eine erblindete Frau, der eine neue Augenhornhaut transplantiert werden musste. Die Spur der Infektion ließ sich bis zu importierten Nagetieren aus Ghana zurückverfolgen. Diese hatten das Virus auf Präriehunde übertragen, die als Haustiere gehalten wurden und ihrerseits ihre Besitzer ansteckten. Solche intermediären Überträger ermöglichen es auch Viren, die normalerweise Tiere mit wenig Kontakt zu Menschen befallen, eine große Zahl von Personen zu erreichen.
Die stark schwankenden Schweregrade von Pockeninfektionen könnten sich durch subtile genetische Unterschiede erklären lassen. Als Forscher das Erbgut verschiedener Pockenviren verglichen, fiel ihnen ein Gen auf, das in vielen Sorten dieser Viren vorkam. In den gefährlichsten Varianten des Variola-Virus produziert es ein Protein, das vermutlich Immunzellen daran hindert, ihre Gegenangriffe auf das Virus effektiv zu koordinieren. Das entsprechende Gen von Affenpockenviren aus dem Kongobecken, die schon weniger tödlich sind, liefert die Bauanleitung für ein viel kürzeres Protein. Und bei der milderen westafrikanischen Form der Affenpocken fehlen dieses Gen sowie das entsprechende Protein vollständig.
Ein Retrovirus als Handlanger beim Gendiebstahl
Spekulationen über die Frage, wie unterschiedliche Pockenvirenspezies zu diesem und anderen Proteinen kamen, liefern auch Hinweise darauf, warum die Affenpocken und ihre Verwandten in Zukunft zu einer größeren Gefahr werden könnten, als sie es derzeit sind: Gene, die für die Vermehrung der Viren nicht unabdingbar sind, scheinen die Erreger irgendwann einmal in der evolutionären Vergangenheit von infizierten Organismen übernommen zu haben. Doch wie ist dies möglich, wenn man bedenkt, dass die Viren während eines normalen Infektionszyklus nicht einmal in die Nähe des genetischen Materials im Kern der Wirtszelle gelangen?
Eine denkbare, unter Virologen beliebte Erklärung wäre die gleichzeitige Infektion eines Menschen oder eines anderen Wirbeltierwirts mit einem Pockenvirus und einem Retrovirus. Solche Koinfektionen dürften ziemlich häufig sein, glauben die Forscher. Retroviren sind dafür bekannt, ihre eigenen Gene in die DNA des Wirts einzubauen. Tatsächlich bestehen etwa acht Prozent des menschlichen Genoms aus Erbgut, das ursprünglich von Retroviren stammt. Durch die Aktivität eines Retrovirus in der Zelle würde sich unter Umständen auch das Pockenvirus Gene des Wirts aneignen. Wenn diese Hypothese stimmt, könnte sich das als unheilvoll herausstellen. Pockenviren sind genetisch stabil und mutieren normalerweise nicht sehr schnell. Sollten sie jedoch Gene von ihren Wirten stehlen, die sie noch virulenter machen, werden möglicherweise selbst relativ harmlose Viren unter den richtigen Bedingungen schnell und unvorhersehbar zur Bedrohung.
Vor allem die Affenpocken könnten sich zu einer globalen Seuche entwickeln. Virologen nennen sie den "kleinen Cousin" der Pocken, zum Teil weil sich das Krankheitsbild klinisch nicht unterscheiden lässt. Das Virus wurde erstmals 1957 bei in Gefangenschaft lebenden Affen nachgewiesen. Es scheint typischerweise in afrikanischen Nagetieren vorzukommen, möglicherweise in Rotschenkelhörnchen (Funisciurus). Die Krankheit brach bisher vorwiegend in Zentralafrika aus, aber auch 2003 in den USA und 2005 im Sudan.
Die Epidemiologin Anne W. Rimoin von der University of California, Los Angeles, hielt sich 2002 gerade in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, auf, als sie zum ersten Mal von Einheimischen hörte, die an Affenpocken erkrankt waren. Es war nicht klar, wie viele Menschen infiziert waren, wie sie mit dem Virus in Kontakt gekommen waren oder ob der Erreger direkt auf andere Menschen übergehen konnte. Aber sie wusste, dass die Krankheit lebensbedrohlich war, und wollte mehr darüber erfahren. Rimoin hatte sich als Studentin der afrikanischen Geschichte mit der Landespolitik vertraut gemacht und sprach fließend Französisch, das in den ehemaligen belgischen Kolonien nach wie vor gängig ist, ebenso wie Lingala und andere lokale Sprachen. Sie begann, herumzufragen. "Ich habe wohl die richtigen Personen getroffen und die richtigen Fragen gestellt", sagt sie. "Mir wurde klar, dass vermutlich viel mehr Menschen erkrankt waren als die Fälle, von denen man wusste."
Doch wie sollte man die Patienten finden? In Anbetracht des Mangels an medizinischen Einrichtungen im ländlichen Kongo überrascht es kaum, dass nur wenige erkrankte Menschen einen Arzt aufsuchten. Und jene, die wieder gesund geworden waren, konnten mittels Bluttests schwerlich identifiziert werden, weil sich nicht unterscheiden ließ, ob Antikörper gegen die Viren auf eine frühere Impfung oder eine weitere Pockeninfektion zurückzuführen waren. Um die Häufigkeit der Affenpocken abzuschätzen, galt es also, akut Erkrankte zu finden, bei denen man das Virus direkt in den Hautpusteln nachweisen konnte. Rimoin begann zunächst damit, eine Forschungseinrichtung tief im Wald aufzubauen. Es gab keine Straßen, keinen Handyempfang und keine Funkverbindung. Sie mietete Flugzeuge, um dorthin und wieder zurück zu gelangen, und streifte tagelang zu Fuß, im Kanu oder per Motorrad umher, um unter den Lingala sprechenden Dorfbewohnern im inneren Kongo Fälle von Affenpocken aufzuspüren.
"Nur die Spitze des Eisbergs"
Die Ergebnisse waren alarmierend. Im Vergleich zu ähnlichen Daten, welche die Weltgesundheitsorganisation von 1981 bis 1986 gesammelt hatte, stellte Rimoin einen 20-fachen Anstieg in der Anzahl von menschlichen Affenpockenerkrankungen fest. Trotzdem glaubt sie, dass ihre 2010 veröffentlichten Daten immer noch deutlich zu tief gegriffen sind. "Es ist nur die Spitze des Eisbergs", sagt sie. Schließlich hatte die WHO vor 30 Jahren eine viel größere und besser finanzierte Suche nach den Affenpocken durchgeführt. Rimoins Team hat zweifellos noch deutlich mehr Fälle übersehen als diese frühere, umfangreichere Studie. Auch wenn der Anstieg an Erkrankungen größer war als erwartet, kam er nicht ganz überraschend. Schließlich ist der Großteil der Bevölkerung nicht gegen Pockenviren geimpft – die Demokratische Republik Kongo stoppte die Impfungen im Jahr 1980.
Weitere Untersuchungen zeigten jedoch, dass noch etwas anderes im Gange war. Der Ökologe James Lloyd-Smith, einer von Rimoins Kollegen an der University of California, untersucht anhand von Computermodellen, wie Krankheiten von Tieren auf den Menschen wechseln. Laut seiner Analyse von Rimoins Daten kann der Stopp der Pockenimpfung und der damit verbundene Immunitätsverlust gegenüber den verwandten Pockenarten die vielen Erkrankungen nicht allein erklären. Es muss gleichzeitig auch zu fünfmal mehr Übertragungsfällen von infizierten Nagetieren auf den Menschen gekommen sein.
Warum genau die Affenpocken jetzt häufiger Menschen befallen, ist unklar. Die meisten Betroffenen bekommen die Krankheit durch engen Kontakt zu infizierten Tieren, etwa wenn sie diese anfassen oder essen. Vielleicht bringt die fortschreitende Rodung zur landwirtschaftlichen Nutzung und Feuerholzgewinnung zunehmend Menschen mit befallenen Hörnchen, Mäusen und anderen Nagetieren in Berührung. Außerdem könnte der kongolesische Bürgerkrieg Einheimische vermehrt dazu gezwungen haben, potenziell infizierte Tiere zu essen. Eine 2009 durchgeführte und im Oktober 2011 veröffentlichte Untersuchung ergab, dass ein Drittel der Bewohner des ländlichen Kongo Nagetiere verspeisen, die sie tot im Wald finden.
Rimoin und andere Virologen befürchten, die Affenpocken könnten sich besser an unseren Körper anpassen, wenn sie mehr Gelegenheit zur Infektion von Menschen haben. Buller untersucht daher die genaue Art und Weise, wie Orthopockenviren Krankheiten in Mensch und Tier verursachen. Affenpocken können "bereits Menschen töten", sagt er, und sich auch unter ihnen ausbreiten – nur eben nicht besonders gut. Möglicherweise genügen aber schon ein paar winzige Veränderungen der Viren, um sie in einen für Menschen viel ansteckenderen Erreger zu verwandeln.Katzen und Ratten als Überträger der Kuhpocken
Auch die Fälle von Infektionen mit Kuhpocken, die aus Nagetieren stammen, nehmen zu – sogar in Europa. Die Erkrankung verläuft bei den meisten Menschen mild. Zunächst dringt das Virus in die Zellen ein und setzt die unmittelbare Immunreaktion des Wirts außer Gefecht. Daraufhin produziert das Opfer eine Abwehrsalve aus virusspezifischen Antikörpern, die verhindern, dass sich das Pathogen in andere Körperregionen ausbreitet. Ausnahmen sind Patienten mit geschwächtem Immunsystem, etwa durch HIV, Chemotherapie oder eine Behandlung, welche die Abstoßung transplantierter Organe verhindern soll. "Solche Patienten können eine pockenähnliche Erkrankung bekommen und daran sterben", sagt Malcom Bennett von der britischen University of Liverpool. Laut Gesundheitsexperten stieg die Anzahl der immungeschwächten Personen, die ernsthaft durch Kuhpocken oder andere Pockenviren gefährdet sind, seit 1972 in den USA um das 100-Fache.
Bennett, ein Veterinärpathologe, untersuchte die Ökologie und Evolution der Kuhpocken in der frei lebenden Fauna. In Großbritannien, sagt er, kommt das Virus normalerweise in Rötelmäusen, Erdmäusen und Waldmäusen vor, denen es kaum schadet. Hauskatzen jagen die Nagetiere und bekommen so den Erreger ab. Dann übertragen sie ihn auf Menschen, mit denen sie – oft in engem Kontakt – zusammenleben. Diese Ereigniskette löst rund die Hälfte aller menschlichen Kuhpockenfälle in Großbritannien aus.
Wie die Affenpocken haben auch die Kuhpocken damit begonnen, auf Tiere überzugehen, die nicht zu ihren natürlichen Wirten gehören. So könnten nun Ratten als Zwischenwirte bei der Kuhpockenübertragung eine ähnliche Rolle spielen wie die Präriehunde beim Affenpockenausbruch in den USA 2003. "Krankheitsmeldungen im Zusammenhang mit Ratten haben stark zugenommen", sagt Mary Reynolds, eine Epidemiologin am US-amerikanischen Zentrum für Krankheitskontrolle und -vorbeugung (Centers for Disease Control and Prevention, CDC). Dieser Trend "ist potenziell Besorgnis erregend weil Ratten ja ziemlich geschickt darin sind, über den gesamten Globus zu reisen", merkt sie an. Wenn sich die Kuhpocken nun auch noch in Ratten etablieren anstatt nur in Wühl- und Waldmäusen, könnten sich leicht Millionen von Menschen infizieren, zum Beispiel wenn sie gebissen werden oder mit Rattenkot in Berührung kommen.
Tatsächlich sind Orthopockenviren dafür berüchtigt, ohne große Schwierigkeiten neue Arten zu besiedeln. Das Impfvirus etwa, das für die modernen Pockenschutzimpfungen verwendet worden war, verbreitet sich nun unter Milchkühen in Brasilien ebenso ungehindert wie bei indischen Büffeln. Und es gibt "eine Reihe von Orthopockenviren da draußen, die noch nie isoliert oder vollständig charakterisiert worden sind", betont Reynolds. Unter den richtigen Voraussetzungen könnten sich diese weniger bekannten Stämme auf neue Gegenden und Arten ausbreiten. "Einige werden den Menschen befallen", ist Bennett überzeugt. "Bisher haben sie nur noch nicht den Artensprung geschafft."Eine Flut neuer Impfstoffe und Medikamente
Da die Zahl der Menschen, die nie eine Pockenschutzimpfung erhielten, stetig wächst, erwarten die Virologen einen fortgesetzten Anstieg an menschlichen Affen-, Kuh- und weiteren Pockenerkrankungen. Sollte sich eines dieser Viren wirklich zu einer Bedrohung für uns entwickeln, werden zukünftig neue Medikamente und Impfungen gebraucht – sowie die nötigen Ressourcen zu ihrer Anwendung –, um der Gefahr zu begegnen. Wegen der nach dem Terroranschlag vom 11.9.2001 gestiegenen Furcht vor absichtlicher Freisetzung der Pocken wird inzwischen eine ganze Flut neuer Impfstoffe und Medikamente zur Bekämpfung des Virus entwickelt. Diese Substanzen dürften auch gegen natürlich auftauchende Pockenviren schützen. Doch sie herzustellen und zu verteilen, stellt eine komplexe und teure Aufgabe dar, ebenso die Eindämmung der wohl unvermeidlichen Nebeneffekte.
Einige neue Pockenimpfungen lassen sich auch immungeschwächten Menschen sicher verabreichen, doch müssen sie in größeren Mengen und auf zwei Portionen verteilt gespritzt werden, was sie natürlich teurer macht als die traditionellen Pockenvakzine. Ein Medikament namens ST 246 verhindert zudem im Wirt die Wanderung der Orthopockenviren von einer Zelle in die nächste. Obwohl die Regulierungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) es noch nicht zugelassen hat, hat die US-Regierung bereits große Mengen des Stoffs für ihr nationales Bioabwehrarsenal erworben.
In Gegenden wie dem ländlichen Kongobecken ist es allerdings schwierig, brandneue Impfstoffe und Medikamente zu finanzieren. Hier scheint verstärkte Beobachtung kombiniert mit Aufklärung der Bevölkerung im Moment die beste Strategie darzustellen. So führten die CDC in Zusammenarbeit mit örtlichen Gesundheitsbehörden und freiwilligen nichtstaatlichen Organisationen in der Demokratischen Republik Kongo ein Schulungsprogramm zu den Affenpocken durch. Resultat: Die Anzahl der Einheimischen, die Erkrankungsfälle erkennen können, stieg von 23 auf 61 Prozent. Auch Rimoin beobachtet weiterhin die dortige Situation. Hinzu kommen neue Untersuchungen zur Gensequenzierung jener Virusvarianten, die heute Tiere und Menschen befallen.
Damit wollen die Forscher entschlüsseln, wie sich das Virus möglicherweise verändert. Krankheitsfälle besser zu erkennen, bedeutet zudem mehr Gelegenheit, infizierte Individuen zu isolieren und zu pflegen. Das schränkt die Möglichkeiten für das Virus ein, zu neuen Formen zu mutieren, die sich leichter unter Menschen ausbreiten könnten. Der alte Krieg zwischen Pockenviren und Menschen endete also möglicherweise doch nicht an jenem Tag im Jahr 1977, als der 21 Jahre alte somalische Krankenhausmitarbeiter seine Pockeninfektion endgültig ausgeheilt hatte. Mit neuen Werkzeugen und besseren Überwachungsmöglichkeiten sind die Wissenschaftler von heute aber besser gerüstet und aufmerksamer als je zuvor. Um eine neue Pockenseuche der Menschheit zu verhindern, wird die Gesellschaft diese Verteidigungsmaßnahmen allerdings noch einige Zeit aufrechterhalten müssen.
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