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Medizinethik: Vor allem schaden

In den 1940er Jahren infizierten US-Ärzte in Guatemala ganz bewusst tausende Menschen mit Geschlechtskrankheiten. Die Wunden sind noch nicht verheilt.
Elektrononmikroskopische Aufnahme des Syphilis-Erregers Treponema pallidum

Die Spritzen kamen ohne jede Warnung oder Erklärung. Federico Ramos, damals im Jahr 1948 ein einfacher Soldat im der Armee Guatemalas, bereitete sich gerade auf den Wochenendurlaub vor, als er in die von Amerikanern geführte Klinik kommandiert wurde.

Ramos ging auf Station, bekam dort eine Spritze in den rechten Arm und wurde aufgefordert, nach seinem Urlaub wiederzukommen. Als Ausgleich gab ihm der kommandierende Offizier etwas Geld fürs Bordell. Dasselbe wiederholte sich ein paar Mal in den ersten Monaten seines zweijährigen Wehrdienstes. Heute ist er sich sicher, dass man ihn damals vorsätzlich mit einer Geschlechtskrankheit infiziert hat.

Ramos, inzwischen 87 Jahre alt, erzählt, wie er die meiste Zeit seines Lebens unter den Folgen der Spritzen litt. Nach der Zeit in der Armee kehrte er in sein Heimatdorf zurück, das abgelegen an einem steilen Berghang nordöstlich von Guatemala City liegt. Auch heute noch gibt es in Las Escaleras keinen Strom, und der Weg zu medizinischen Einrichtungen ist weit. Erst zwei Jahrzehnte nach den Spritzen, als er 40 Jahre alt war, wurden bei ihm Syphilis und Gonorrhö diagnostiziert. Eine Behandlung konnte er nicht bezahlen.

"Weil ich nicht genug Geld hatte, versuchte ich mich selbst zu heilen", sagt Ramos. "Gott sei Dank brachte das mal etwas Besserung – aber ganz verschwinden sollte es nie." Jahrzehntelang hat er immer wieder Schmerzen und Blutungen beim Wasserlassen ertragen, und er steckte auch seine Frau und Kinder an, berichtete er vor Kurzem der Zeitschrift "Nature" im Interview bei ihm zu Hause.

Sohn Benjamin leidet zeit seines Lebens an Symptomen wie genitalem Juckreiz, und seine Schwester wurde mit Geschwüren am Kopf geboren, die zu Haarausfall führten. Ramos und seine Kinder machen die USA für ihr jahrzehntelanges Leiden verantwortlich. "Das war ein Experiment der Amerikaner, um zu sehen, welchen Schaden es anrichtet", meint Benjamin.

"Das war ein Experiment der Amerikaner, um zu sehen, welchen Schaden es anrichtet"
Benjamin Ramos

Ramos gehört zu einer Hand voll Überlebender der amerikanischen Versuche zu sexuell übertragbaren Erkrankungen (STD, sexually transmitted diseases), die semi-geheim von Juli 1946 bis Dezember 1948 in Guatemala durchgeführt wurden. Forscher der US-Regierung und ihre Kollegen in Guatemala experimentierten an mehr als 5000 Soldaten, Gefangenen, psychisch Kranken, Waisen und Prostituierten, ohne deren Zustimmung einzuholen. Sie infizierten 1308 Erwachsene mit Syphilis, Gonorrhö oder Chancroid und bedienten sich teilweise auch Prostituierter, um Gefangene und Soldaten anzustecken. Nachdem die Versuche im Jahr 2010 aufgedeckt wurden, verklagten Ramos und andere die US-Regierung, und Präsident Barack Obama gab eine formale Entschuldigung ab. Obama beauftragte auch eine Reihe von Bioethikern, die Vorwürfe zu untersuchen und zu klären, ob gegenwärtige Richtlinien die Teilnehmer klinischer Studien im Auftrag der Regierung adäquat schützen.

Als Details der Versuche in Guatemala ans Licht kamen, bezeichneten Gesundheitsbehörden der USA sie als "abstoßend" und "abscheulich". Im vergangenen September ging die vom Präsidenten eingesetzte nationale Ethikkommission der USA (Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues) noch einen Schritt weiter: Ihr Abschlussbericht hielt fest [1], die Experimente in Guatemala seien "eine unglaubliche ethische Verfehlung, selbst verglichen mit den damals gängigen Methoden und Vorgaben der Medizinethik".

Syphilis-Erreger | Der Erreger der Syphilis Treponema pallidum. Die Erkrankung wird in etwa neun von zehn Fällen durch die Übertragung der Spirochätenbakterien beim Geschlechtsverkehr weitergegeben.

Die Berichte und Dokumente der beteiligten Forscher in Guatemala zeichnen allerdings ein wesentlich komplexeres Bild. Der junge Versuchsleiter John Cutler hatte damals volle Rückendeckung der US-Gesundheitsbehörden, einschließlich des Kommandeurs des Sanitätsdienstes. "Nach Cutlers Meinung war das, was er tat, wirklich wichtig – und damit stand er nicht allein", so die Historikerin Susan Reverby vom Wellesley College in Massachusetts. Ihre Entdeckung von Cutlers unveröffentlichten Berichten führte zur Enthüllung der Experimente [2].

Cutler und seinen Vorgesetzten war klar, dass einige Teile der Gesellschaft ihre Arbeit nicht billigen würden. Aber sie betrachteten die Studien als ethisch vertretbar, weil sie der Meinung waren, die Ergebnisse seien von weit reichendem Nutzen und könnten zur Verbesserung des Gesundheitssystems in Guatemala beitragen.

Die Entwicklung der Ethik seit den 1940er Jahren

Sexuell übertragbare Erkrankungen (sexually transmitted diseases, STDs) standen in den 1940er Jahren bei den Gesundheitsbehörden ganz oben auf der Agenda, und viele medizinische Studien, einschließlich der amerikanischen Experimente in Guatemala, nutzten Praktiken, die heute als ethisch nicht vertretbar gelten. Obwohl sich die Standards mit den Jahren verbesserten, überschreiten Forscher immer wieder die in der Wissenschaft akzeptierten Grenzen.

1941: Ein zwölf Monate altes Baby wird als Teil eines Experiments in Kalifornien absichtlich mit Herpes infiziert. Ein Editor widersprach der Publikation der Arbeit, die dann doch 1942 im "Journal of Pediatrics" erschien.

1943: Penizillin erweist sich als wirksam bei der Behandlung von Syphilis und Gonorrhö.

US-Militär und Gesundheitsbehörde bekämpfen Geschlechtskrankheiten mit einer umfassenden Kampagne von Forschung, Behandlungsprogrammen und Plakaten.

1944: John Cutler arbeitet an einem Experiment im Gefängnis in Terre Haute in Indiana, bei dem freiwillig teilnehmende Häftlinge mit Geschlechtskrankheiten infiziert werden, um eine Prophylaxe zu testen.

1946: Cutler startet Experimente in Guatemala, bei der schlussendlich 1308 Gefangene, Soldaten und Psychiatriepatienten Erregern von Geschlechtskrankheit ausgesetzt wurden. Das US-Team entnimmt auch Blut von 1384 Kindern, um einen diagnostischen Test auf Geschlechtskrankheiten zu untersuchen. Es gibt Hinweise, dass die Teilnehmer keine Einwilligung zur Studie gaben.

1946-1947: Die Prozesse gegen Ärzte des Naziregimes führten zur Festlegung des Nürnberger Kodex für Medizinethik. Dieser verlangt die freiwillige Zustimmung der Teilnehmer zur Studie und die Vermeidung unnötiger Schädigung.

Diese Art der Rechtfertigung muss heute als Warnung vor den Möglichkeiten des medizinischen Missbrauchs dienen. Insbesondere, weil klinische Studien im Westen immer mehr in Entwicklungsländer verlagert werden, um dort von niedrigeren Kosten und einer großen Zahl von Menschen mit unbehandelten Erkrankungen zu profitieren. Nach Befürchtungen von Bioethikern könnten laxere Bestimmungen und gelockerte ethische Standards in einigen Ländern Studien ermöglichen, die in der Heimat der Forscher nicht genehmigt würden. "Die wichtigste Lehre sollte uns sein, dass immer dieselben Regeln, dieselben Prinzipien und dieselben ethischen Grundsätze gelten müssen, egal wo eine Studie durchgeführt wird", meint Christine Grady, Vorsitzende der Abteilung für Bioethik am National Institutes of Health (NIH) Clinical Center in Bethesda in den USA, die auch Mitglied der Kommission für Bioethik ist.

Der Krieg gegen Syphilis

In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts wollten die US-Gesundheitsbehörden unbedingt den Kampf gegen sexuell übertragbare Erkrankungen gewinnen, vergleichbar dem Kampf nachfolgender Generationen gegen Krebs und Aids. Im Jahr 1943 schätzte der damalige Vorsitzende des amerikanischen Regierungskomitees für Geschlechtskrankheiten, Joseph Moore, die Armee könnte jährlich mit 350 000 neuen Gonorrhöfällen konfrontiert werden. "Dies entspricht einer Lahmlegung von zwei bewaffneten Divisionen oder zehn Flugzeugträgern über ein ganzes Jahr." Als Gegenmaßnahme startete die Regierung riesige Kampagnen zu Forschung, Behandlung und Beratung. "Sie mag sauber scheinen – aber leichte Mädchen, Nutten und Prostituierte verbreiten Syphilis und Gonorrhö", stand auf einem Plakat des öffentlichen Gesundheitswesens der USA, welches Gesundheitsinitiativen und medizinische Forschung fördert.

Viele der führenden Beamten waren schon lange mit diesem Problem beschäftigt. Thomas Parran, der den Antrag für das Experiment in Guatemala bewilligte, war Kommandeur des Sanitätsdienstes. Er hatte zuvor das Forschungslabor für Geschlechtskrankheiten (Public Health Service's Venereal Disease Research Lab, VDRL) in New York geleitet und zwei Bücher zu diesem Thema geschrieben. Der Kodirektor des Labors war später der Vorsitzende der Behörde zur Bewilligung von Forschungsanträgen am NIH, welche die Studien in Guatemala Anfang 1946 finanzierte.

"Sie hatten eine sehr aktive Abteilung zum Thema Geschlechtskrankheiten", sagt John Parascandola, der ehemalige Historiker der Gesundheitsbehörde und Autor von "Sex, Sin and Science: A History of Syphilis in America (Praeger, 2008)". Sogar noch nachdem im Jahr 1943 Penizillin als wirksames Mittel zur Behandlung von Syphilis und Gonorrhö bekannt geworden war, hatten sie viele Fragen zu Vorbeugung und Behandlung dieser und anderer Erkrankungen. "Da waren noch genug Leute, die an dem Thema interessiert waren und sich fast die Zähne daran ausbissen. In der Abteilung für Geschlechtskrankheiten war man sicher nicht der Meinung, dass dieses Problem gelöst war."

Besonders das Militär verlangte nach einer Prophylaxe, die besser war als das seit Jahrzehnten gängige Mittel: Nach dem Sex sollten die Männer eine Silberlösung gegen Gonorrhö in den Penis einspritzen und eine Kalomelsalbe über ihre Genitalien reiben, um Syphilis zu verhindern. Die Methoden waren schmerzhaft, verrucht und nicht sehr wirksam.

Wie die Gesundheitsbehörde gegen Ende 1949 verlauten ließ, müsse man Personen unter kontrollierten Bedingungen infizieren. Die Beamten diskutierten über Legalität und Ethik des Versuchs und befragten sogar den US-Generalstaatsanwalt. Es wurde beschlossen, die Versuche an einem staatlichen Gefängnis in Terre Haute in Indiana an freiwillig teilnehmenden Häftlingen durchzuführen.

Cutler war dort einer der beteiligten Ärzte. Als die Gefängnisstudie im September 1943 begann, war Cutler 28 Jahre alt und hatte erst zwei Jahre zuvor sein Medizinstudium beendet. Die Forscher wollten Häftlinge infizieren, indem sie Bakterien direkt auf den Penis strichen; isoliert worden waren die Keime zum Teil von Prostituierten, die die Polizei in Terre Haute festgenommen hatte. Hierbei sind mehrere Methoden etabliert worden, auf die Cutler dann später in Guatemala zurückgreifen sollte; etwa die Zusammenarbeit mit der lokalen Strafverfolgungsbehörde und der Einsatz von Prostituierten. Noch war aber kein Weg gefunden worden, die Männer mit hoher Effizienz zu infizieren. Das wäre zum Testen einer Prophylaxe aber nötig gewesen, und so wurden die Versuche nach zehn Monaten abgebrochen.

Ein gefangenes Volk

Nach Terre Haute wurde eine ehrgeizigere Studie geplant. Man wollte die Infektion mit einer so genannten "normalen Exposition", also durch Geschlechtsverkehr mit infizierten Prostituierten, erreichen. Ein Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde Guatemalas, der ein Jahr lang im Forschungslabor VDRL verbracht hatte, bot 1945 die Durchführung der Studien in seinem Land an. Juan Funes stand als Direktor der Abteilung für Geschlechtskrankheiten (Guatemalan Venereal Disease Control Department) zu Hilfe. Prostitution war damals in seinem Land legal, und Prostituierte mussten zweimal wöchentlich eine Klinik zur Untersuchung und Behandlung aufsuchen. Nachdem Funes eine der größten Kliniken leitete, konnte er infizierte Prostituierte für das Experiment vorschlagen. Cutler und andere vom VDRL waren schnell von der Idee begeistert. Ihr Studienvorschlag wurde mit einem Budget von 110 450 US-Dollar ausgestattet.

Medizinethik seit den 1950er Jahren

1953 Cutler startet ein Experiment im Sing-Sing-Gefängnis in New York, bei dem er freiwillig teilnehmenden Häftlingen Syphilisbakterien injizierte und einigen eine bisher nicht getestete Vakzine verabreichte.

1956 Forscher starten eine Studie über 15 Jahre in der Willowbrook State School in New York, bei der sie geistig behinderte Kinder mit Hepatitis infizieren.

1963 Ärzte injizieren älteren Patienten des Jewish Chronic Disease Hospital in New York ohne deren Zustimmung lebende Krebszellen. Empörung über das Experiment entzündet eine Diskussion über Ethik in der Wissenschaft und führt zu strengeren Kontrollen durch die Regierung.

1972 Die USA stoppen ein 40 Jahre andauerndes Experiment in Tuskegoo in Alabama, bei dem Hunderte von Afroamerikanern mit Syphilis über Jahrzehnte beobachtet wurden, ohne eine Behandlung zu erhalten.

2010: Die Historikerin Susan Reverby deckt den Missbrauch bei Cutlers Experimenten in Guatemala auf. Hierdurch wird US-Präsident Barack Obama zur Entschuldigung gegenüber Guatemala gebracht. Außerdem zeigen die eingeleiteten Untersuchungen, welche "unfassbare Verletzung der ethischen Grundsätze die Experimente umfassten".

Laut aktuellem Bericht aus Guatemala [3] war die Studie eine klare Übertretung des damals geltenden Gesetzes, das die bewusste Verbreitung von Geschlechtskrankheiten als illegal deklarierte. Doch auf Grund des politischen Umbruchs in Guatemala in der Mitte der 1940er Jahre gab es keinen Widerspruch von Seiten der Behörden. Regierungsmitglieder bis hinauf zu Luis Galich, dem Gesundheitsminister Guatemalas, waren an der Studie beteiligt, und sogar der im Jahr 1945 gewählte Präsident Juan José Arévalo wusste zumindest von einem Syphilisversuch der US-Wissenschaftler. Die Studie machte es nun mal möglich, amerikanische Gelder anzuzapfen, um das unzureichende Gesundheitssystem Guatemalas aufzustocken und wissenschaftliche Experten ins Land zu holen.

Cutler kam im August 1946 nach Guatemala, um Experimente zu starten. Er wollte Blutproben analysieren sowie die Wirksamkeit von Penizillin und Orvus-Mapharsen als Prophylaxe bei Geschlechtskrankheiten testen. Anfangs wollte Cutler mit Hilfe infizierter Prostituierter Gonorrhö unter den Soldaten verbreiten. Strichmädchen wurden von ihm und seinem Team mit verschiedenen Bakterienstämmen infiziert, um anschließend beim Sex viele Männer anzustecken. Laut Bericht hatte eine Prostituierte innerhalb von 71 Minuten mit acht Soldaten Geschlechtsverkehr. Ähnliche Experimente wurden auch mit Strichmädchen im Gefängnis durchgeführt.

Aber mit dieser "natürlichen Methode" war es schwierig, tatsächlich Infektionen herbeizuführen. Deshalb ging man zur Inokulation über, indem die Harnröhre mit einer infizieren Lösung gespült oder mit einem Zahnstocher direkt infiziert wurde. An der staatlichen Psychiatrie von Guatemala kratzten die Ärzte vor dem Aufbringen erst am Penis der Männer, um die Infektionsrate zu erhöhen, und sie injizierten sogar Syphilisbakterien direkt in die Spinalflüssigkeit von sieben Patientinnen.

Nach Angaben des Berichts der US-Kommission für Bioethik setzte Cutlers Team 558 Soldaten, 486 Psychiatriepatienten, 219 Häftlinge, sechs Prostituierte und 39 andere Menschen Gonorrhö-, Syphilis- oder Chancroid-Erregern aus. Die Kommission konnte allerdings nicht feststellen, wie viele der Probanden tatsächlich eine Infektion entwickelten und wie viele behandelt wurden. Die Forscher bestimmten auch die Aussagekraft von diagnostischen Tests an Waisen, Leprapatienten sowie Patienten aus der Psychiatrie, dem Gefängnis und der Armee.

"Zweideutige Aussagen lassen mir mehr Möglichkeiten"
John Cutler

Laut Kommission gibt es keine Hinweise darauf, dass Cutler die Zustimmung der Teilnehmer wollte oder bekam. In einigen Fällen erhielt er aber die Genehmigung vom kommandierenden Offizier, von Gefängnisbeamten und betreuenden Ärzten der Psychiatrie. Cutler gab in einem Brief an John Mahoney, den Direktor des VDRL, offen zu, er täusche Patienten der psychiatrischen Klinik, die mit Syphilis infiziert und später behandelt würden. "Zweideutige Aussagen lassen mir mehr Möglichkeiten", schrieb Cutler.

Einige Patienten wurden von Cutler und seine Kollegen auf brutalste Weise misshandelt. In einem von der Bioethikkommission ausgeführten Fall infizierten die US-Ärzte eine Psychiatriepatientin namens Berta mit Syphilis, um sie dann für drei Monate ohne Behandlung zu lassen. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich, und nach weiteren drei Monaten berichtete Cutler, sie stehe kurz vor dem Tod. Er infizierte sie erneut mit Syphilis und injizierte ihr zusätzlich Eiter eines Gonorrhöpatienten in Augen, Harnröhre und Enddarm. Innerhalb einiger Tage entwickelte sich Eiter in ihren Augen, sie blutete aus der Harnröhre und verstarb schließlich.

Cutler tat aber auch einiges zum Wohl Guatemalas. Er ergriff Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitswesens, startete am Militärkrankenhaus ein Programm zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten und entwickelte einen Prophylaxeplan für die Armee. Er behandelte Waisen gegen Malaria, versuchte bei seinen Vorgesetzten die Versorgung der Armee mit Penizillin zu erwirken – was abgelehnt wurde –, und er schulte die lokalen Ärzte und Helfer. Außerdem behandelte er 142 Patienten, die ohne sein Zuwirken an einer Geschlechtskrankheit erkrankt waren.

Im Gefängnis berichtete er von "einer sehr großen Zustimmung sowohl von Seiten der Gefängnisaufseher als auch von Seiten der Häftlinge. Das liegt sicher daran, dass wir ihnen die Behandlung von Geschlechtskrankheiten bieten, was ihnen bisher fehlte. Unser Programm ist deshalb wichtig und gerechtfertigt."

Im Endeffekt hatten Cutlers Experimente keinen echten Erfolg. Das lag teilweise auch daran, dass er die Probanden außer mit äußerst brutalen Methoden nie sicher infizieren konnte. Er erwirkte die Verlängerung der Versuche für Juni bis Dezember 1948 und verließ Guatemala Ende des Jahres. Andere veröffentlichten Teile der Ergebnisse aus den Bluttests; Cutler selbst veröffentlichte aber nie seine Arbeiten zur Prophylaxe. Bei den Experimenten handelte es sich nicht nur um eine unfassbare Verletzung der ethischen Leitlinien – also der Auflagen der Bioethikkommission –, sie waren dazu noch schlecht konzipiert und ausgeführt.

Eine bedeutende Karriere

Trotz der Misserfolge förderten die Versuche das Ansehen Cutlers. Wenige Monate nach seiner Rückkehr in die Heimat schickte ihn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach Indien, wo er Arbeiten zur Diagnose und Behandlung von Geschlechtskrankheiten leiten sollte. In den 1960er Jahren wurde er Leiter des berüchtigten Tuskegee-Experiments in Alabama, bei dem Hunderte von farbigen Syphilispatienten über Jahrzehnte ohne Behandlung beobachtet wurden. Cutler wechselte zum US-Gesundheitsdienst und wurde später Professor für Internationale Gesundheit an der University of Pittsburgh in Pennsylvania. Im Jahr 2003 starb er noch vor der Offenlegung der Details der Experimente in Guatemala.

Michael Utidjian arbeitete in den späten 1960er Jahren als Epidemiologe in Pittsburgh und stand als Mitautor auf zwei Veröffentlichungen von Cutler. Seiner Beschreibung nach war Cutler von Geschlechtskrankheiten fasziniert und von der internationalen Forschung begeistert. "Er war der Erste, der in Indien Penizillin zur Behandlung gewöhnlicher Geschlechtskrankheiten einsetzte." Aber laut Utidjian war Cutler kein gewissenhafter Forscher. "Ich würde ihn nicht als Spitzenwissenschaftler oder Studienplaner bezeichnen." Die zwei Wissenschaftler kooperierten in einer Arbeit zur Wirksamkeit einer topischen Prophylaxe bei Prostituierten in einem Bordell in Nevada. Die schlechte Durchführung des Versuchs führte aber zu "ziemlich wertlosen" Ergebnissen, meint Utidjian.

Den Betroffenen der Studie in Guatemala ging es weitaus schlechter als dem Arzt selbst. Der knochendürre Ramos lebt in einer Wellblechhütte in Las Escaleras und kann nur murmeln, weil ihm auch noch die Zähne ausgefallen sind. Er habe die Behandlung bis etwa vor zehn Jahren aufgeschoben. Erst als das Wasserlassen zu schmerzhaft wurde, brachte ihn sein Sohn ins Krankenhaus, wo er einen Katheter erhielt und später operiert wurde.

Gonzalo Ramirez Tista lebt im gleichen Dorf wie Ramos und erzählt von seinem Vater Celso Ramirez Reyes, der auch während seiner drei Jahre in der Armee an dem Experiment teilnahm. Die Wissenschaftler verlangten von ihm Geschlechtsverkehr mit infizierten Prostituierten. "Er bekam die Order, und die kam nun mal von einem Vorgesetzten", meint Tista. Er bekam auch Spritzen und bemerkte nach einigen Tagen, wie Eiter aus seinem Penis floss. "Er hatte diese Symptome noch, als er das Militär verließ und er meine Mutter infizierte." Nach seinem Ausscheiden aus der Armee litt er an Wunden, Sehschwierigkeiten und Lethargie.

Wie Ramos' Familie versucht auch Tista gerichtlich eine Entschädigung von der US-Regierung zu erwirken. Niemand konnte aber Beweise zur Unterstützung ihrer Forderungen bringen. Pablo Werner, ein Arzt im Büro des Ombudsmanns für Menschenrechte in Guatemala, hat sich erneut mit den Fällen beschäftigt. Seiner Meinung nach werden die Berichte von Ramos und Reyes durch die zeitliche Übereinstimmung ihrer Militärzeit mit den Experimenten und zudem durch die Arztberichte gestützt. Reyes' Name ist auch in einer Liste von Versuchsteilnehmern aufgeführt, die anhand von Cutlers Publikationen vom Historischen Archiv der Polizei Guatemalas erstellt wurde.

Nie wieder

Das US-Justizministerium forderte im letzten Monat, die Entschädigungsgesuche sollten abgelehnt werden, weil die Gerichte nicht das "passende Forum" hierfür seien. Vergangenen September hatten allerdings eine Reihe von Mitgliedern der US-Kommission für Bioethik der Regierung angeraten [4], eine allgemeine Entschädigung für Testpersonen bereitzustellen, die bei öffentlich geförderter Forschung zu Schaden kommen.

Im Januar bewilligte die US-Gesundheitsbehörde fast 1,8 Millionen US-Dollar zur Verbesserung der Behandlung von Geschlechtskrankheiten in Guatemala und zur Stärkung der Ethikberatung bei Forschung am Menschen. Die Kläger geben sich damit nicht zufrieden und werden weiterhin Druck ausüben, so ihr Rechtsanwalt Piper Hendricks von Conrad & Scherer in Fort Lauderdale in Florida.

"Ich glaube nicht, dass 1946 alles so klar war"
Susan Lederer

Wissenschaftler ringen weiterhin darum, wie die Machenschaften von Cutlers Team zu beurteilen sind und wie solcher Missbrauch in Zukunft verhindert werden kann. Die Kommission für Bioethik behauptet, Cutler und seine Vorgesetzten wussten von der ethischen Verletzung, weil sie doch die Zustimmung von Teilnehmern in Terre Haute suchten. Außerdem versuchte man die Forschung in Guatemala geheim zu halten. Ein Kollege hatte Cutler erzählt, der US-Kommandeur des Sanitätsdienstes sei "an dem Projekt sehr interessiert und meinte mit einem Augenzwinkern: Sie wissen doch, dass wir solch ein Experiment bei uns nicht durchführen können." Allerdings entwickelte sich das Verständnis zur Ethik damals sehr rasch. Die Richtlinien der 1940er Jahre waren viel undurchsichtiger als die heutigen, meint die Bioethikerin Susan Lederer von der University of Wisconsin–Madison: "Ich glaube nicht, dass 1946 alles so klar war."

Ende 1946, nachdem Cutler mit seiner Arbeit in Guatemala begonnen hatte, standen 23 Ärzte und Beamte des Naziregimes in Nürnberg vor Gericht, um sich für die unmenschlichen Experimente zu verantworten, die sie während des Zweiten Weltkriegs in den Konzentrationslagern durchgeführt hatten. Hierbei entstand der Nürnberger Kodex, eine ethische Richtlinie zur Durchführung von Experimenten am Menschen. Sie fordert die freiwillige Zustimmung der Teilnehmer, die Fähigkeit der Teilnehmer, eine solche zu geben, und die Vermeidung unnötiger physischer und psychischer Schädigung.

Obwohl solch strenge Richtlinien den Forschern vor den Nürnberger Prozessen nicht völlig fremd waren, wurden sie nur von wenigen befolgt. Im Jahr 1935 beispielsweise ließ der oberste Gerichtshof von Michigan verlauten, dass Wissenschaftler das Einverständnis von Betreuungspersonen der Studienteilnehmer einholen könnten, was Cutler eigentlich tat, indem er die befehlenden Kommandanten und andere Befehlshaber fragte. Viele von Cutlers Teilnehmern waren arme, ungebildete Leute der einheimischen Bevölkerung, denen die Wissenschaftler das Verständnis der Versuche nicht zutrauten.

Einige der US-Topforscher arbeiteten damals ohne die Zustimmung der Testpersonen. Jonas Salk, der später für die Entwicklung der Polio-Impfung bekannt wurde, und der führende Influenzaforscher Thomas Francis Jr. infizierten ebenfalls im Jahr 1943 vorsätzlich Patienten einer Psychiatrie in Ypsilanti in Michigan mit Influenza [5]. Es gibt Hinweise darauf, dass nicht alle Patienten ihre Zustimmung zu den Versuchen gaben.

Für Cutler und seine Vorgesetzten war es anscheinend akzeptabel, in Guatemala ethische Grenzen zu überschreiten, die sie zu Hause nicht durchbrochen hätten. Auch heutzutage ist es fragwürdig, wenn Firmen aus dem Westen immer häufiger klinische Studien in fremden Ländern, besonders Entwicklungsländern, durchführen. Die US-Gesundheitsbehörde analysierte im Jahr 2010 alle Firmenanfragen zur Markteinführung ihrer Medikamente in den USA. Dabei stellte sich heraus, dass im Jahr 2008 fast 80 Prozent der Zulassungen auf klinischen Studien aus anderen Ländern basierten.

Entwicklungsländer haben oftmals niedrigere medizinische Standards als Industrieländer und können die Regeln nicht genauso gut durchsetzen. So behaupten Menschenrechtsaktivisten und Parlamentsmitglieder aus Indien, dass fremde Pharmafirmen neue Medikamente oft an armen Analphabeten ohne deren Einverständnis oder Risikoaufklärung testen würden.

Im Jahr 2009 stimmte der Pharmariese Pfizer der Zahlung von bis zu 75 Millionen US-Dollar zu, um Klagen zu den Todesfällen nigerianischer Kinder abzuwiegeln, die an Tests mit einem neuen Antibiotikum teilgenommen hatten. Nigerianische Beamte und Aktivisten hatten behauptet, die Firma hätte nicht korrekt gehandelt und beispielsweise keine passende Genehmigung oder Einverständniserklärung erhalten. Pfizer widersprach den Anschuldigungen und wollte in der Verhandlung kein Fehlverhalten zugeben.

Ethiker warnen auch vor heute durchaus akzeptierten Verfahren bei medizinischen Studien. So werden Medikamente an äußerst kranken Patienten getestet, die neue Therapien als einzige Chance sehen – wie gefährlich sie auch immer sein mögen. Laut Lederer werden bei einigen Krebsstudien besonders toxische Substanzen eingesetzt. So könnte in Zukunft "jemand die Frage stellen, wie so kranke Patienten überhaupt gut informiert Entscheidungen treffen könnten".

Als Lehre aus den Experimenten in Guatemala ergeben sich für Grady die fundamentalen Grundsätze der Bioethik: Nicht jede Methode ist akzeptabel, Transparenz hat oberste Priorität, und Wissenschaftler müssen sich stets darüber im Klaren sein, dass sie mit Menschen arbeiten. Aber in der klinischen Forschung seien die ethischen Grenzen nicht immer klar definiert, meint sie: "Wenn man sich im Einzelfall mit den Details beschäftigt, gehen die Meinungen auseinander." Und das könnte die erschreckendste Erkenntnis sein. Die meisten, wenn auch nicht alle Forscher einer Zeit stimmen gewissen Praktiken oder Regeln zu und halten sie für notwendig. Nachfolgende Generationen könnten dies dann allerdings eindeutig als Barbarei einschätzen.

Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "First do harm" in: Nature 482, S. 148–152, 2012.

  • Quellen
[1] Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues Ethically impossible: STD Research in Guatemala from 1946 to 1948, 2011. (PDF)
[2] J. Policy Hist. 23, S. 6–28, 2011.
[3] Comisión Presidencial para el Esclarecimiento de los Experimentos Practicados con Humanos en Guatemala, durante el periodo 1946 a 1948 Consentir el Daño, 2011.
[4] Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues Research Across Borders, 2011.
[5] J. Clin. Invest. 24, S. 536–546, 1945.

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