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Phänomen Zeit (Teil I): Die zwei Gesichter der Zeit: Neheh und Djet

Anders als im Abendland nahm man die Zeit im Alten Ägypten nicht als eine gerichtete Größe wahr, die unablässig auf die Zukunft zuläuft, sondern als ein Phänomen, dem zwei Aspekte eigen sind: zyklische Wiederholung und ewige Dauer.
Pyramiden
Das Heute ist morgen schon Vergangenheit. Der griechische Philosoph Heraklit formulierte deshalb im 5. Jahrhundert v. Chr.: "Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben." Vergänglichkeit gebiert Zeit, und diese hat offenbar eine Richtung. Weil wir uns an Vergangenes erinnern können, nicht aber an Zukünftiges, weil jedes Phänomen als Wirkung einer zurückliegenden Ursache in Erscheinung tritt, unterteilen wir die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Gliederung ist bereits im Tempussystem der meisten indogermanischen Sprachen angelegt und erscheint uns so natürlich, dass wir sie gern für universal halten.

Einige Kulturen entwickelten aber durchaus andere Vorstellungen, darunter auch die des Alten Ägypten. Was in unserer Sprache die Dreiheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das war in der ägyptischen die Zweiheit von Neheh (sprich "Nechech") und Djet ("Dschet"). Diese bedeuteten nicht auseinander hervorgehende Phasen, sondern Aspekte, die gemeinsam die Zeit in ihrer Gesamtheit bezeichneten. Aspekte beziehen sich auf zeitliche Vorgänge beziehungsweise Zustände als abgeschlossene ("Perfektiv") oder unabgeschlossene ("Imperfektiv"). Dem perfektiven Aspekt entsprach Djet als Zeit der unwandelbaren Dauer des Vollendeten. Wenn in der Bibel Gott mit den Worten gepriesen wird: "1000 Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist", dann lesen wir in zwei ägyptischen Hymnen: "Die Djet steht dir (Amun) vor Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist."

Dem Imperfektiv entsprach Neheh, die Zeit als unabschließbare kreisläufige Bewegung immer wiederkehrender Tage, Monate, Jahreszeiten, Jahre und größerer Perioden bis hin zur Sothisperiode von 1460 Jahren (Spektrum der Wissenschaft 12/2008, S. 78).

Natürlich besitzt die Dreiteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine gewisse natürliche Evidenz, unabhängig davon, ob sie im Tempussystem der Sprache, in der wir denken, angelegt ist oder nicht. Gleiches gilt auch für ihre Zweiteilung in die Aspekte "Verlauf" und "Vollendung". Zu den wenigen indogermanischen Sprachen, die für den ersten Aspekt eine grammatische Form anbieten, gehört das Englische mit dem progressiven Verb: Dem I’m coming entspräche im Deutschen ein nicht korrektes, allerdings umgangssprachlich nicht ungebräuchliches "Ich bin im Kommen". Die altägyptische Sprache hingegen unterstreicht ...

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