Philosophie: Wer bin ich?
Auf diese klassische Frage der Philosophie gaben große Denker die unterschiedlichsten Antworten. Erst heute rückt eine allgemein akzeptierte Erklärung des Selbst in greifbare Nähe – nicht zuletzt dank neuer Impulse aus der Neuropsychologie.
Wohl jeder Mensch fragt sich irgendwann in seinem Leben, was er eigentlich ist. Ein Wesen mit unsterblicher Seele? Nur eine Ansammlung von Molekülen? Oder sogar bloß eine Einbildung? Viele meinen, es gebe darauf keine allgemein verbindlichen Antworten: Wie man darüber denke, sei Sache der Weltanschauung, die sich weder beweisen noch widerlegen lasse. Doch das ist ein Irrtum. Systematische philosophische Überlegungen und neuere psychologische Forschungen bringen uns einer allgemein gültigen Antwort sehr wohl näher.
1. Ich denke (lateinisch: cogito).
2. Wenn ich denke, dann existiert der Träger dieses Gedankens.
3. Ich bin der Träger dieses Gedankens.
Also existiere ich (ergo sum).
Damit stellte Descartes zunächst fest, dass es uns gibt, wenn wir einen Denkvorgang bemerken. Unklar bleibt jedoch, welcher Art das denkende Ich ist. Deshalb führt Descartes das Argument weiter:
(A) Ich kann mir nicht widerspruchsfrei vorstellen, dass ich nicht existiere, solange ich denke.
(B) Ich kann mir jedoch widerspruchsfrei vorstellen, dass ich auch ohne alle körperlichen Eigenschaften existiere.
Also bin ich kein Körper, sondern ein reiner Geist. Im ersten Satz formuliert Descartes die "Cogito"-Überlegung bloß um ("Wenn ich denke, dann existiere ich"). Die Annahme B dagegen ist falsch. Zwar kann ich mir logisch widerspruchsfrei vorstellen, auch dann noch zu existieren, wenn ich Arme, Beine, Teile des Rumpfes und immer so weiter verlieren würde. Dennoch bleibt das ein nutzloses Gedankenspiel, weil es von den Gesetzen der Natur ausgeschlossen wird.
Descartes bleibt uns also den Beweis für seine Behauptung schuldig, dass Geist und Welt voneinander getrennt seien. Er setzt diesen Dualismus vielmehr schlicht voraus. Im Übrigen wirft die Annahme, Geist und Materie hätten nichts miteinander zu tun, viele Probleme auf. Und es gibt eine Reihe von Gegenargumenten. Nur zwei seien an dieser Stelle genannt:
1. Wie kann der reine Geist auf den Körper einwirken? Denn genau das müsste geschehen, wenn wir auf Grund des Wunsches, etwas Warmes zu trinken, in die Küche gehen und einen Kaffee kochen. Wir wissen, dass Motoneurone im Gehirn unsere Körperbewegungen steuern. Diese Neurone erhalten – so eine gut begründete Annahme – Signale von Nervenzellen in anderen Hirnarealen, die wiederum von externen Sinnesreizen aktiviert werden. In der Neurowissenschaft spricht nichts für eine Aktivierung durch einen reinen Geist. Auch gäbe es prinzipiell kein wissenschaftliches Konzept für eine solche Spekulation. Wenn Wünsche wirken, dann tun sie dies nur, weil sie selbst als Hirnzustände realisiert sind.
Der Geist ist also untrennbar an Materie gebunden und seine Existenz unabhängig vom Körper eine pure Fiktion. Wenn wir das akzeptieren, stellt sich allerdings immer noch die Frage, ob das Ich vielleicht auch nur eine Fiktion ist. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) zumindest sah darin lediglich ein sprachliches Konstrukt: einen Zug im Sprachspiel. Wenn der Ausdruck "ich" in Äußerungen wie "Ich habe Schmerzen" verwendet werde, bezeichne er nichts; denn der Satz bedeute genau dasselbe wie "Aua!": Er drücke nur eine Empfindung aus.
Doch diese Argumentation vermag nicht wirklich zu überzeugen. Zum einen deutet auch der Empfindungsausdruck "Aua" darauf hin, dass es ein Ich gibt; nämlich eines, das Hilfe oder Trost sucht. Zum anderen existiert eine solche Entsprechung zwischen Ausrufen und Ich-Äußerungen nur in ganz wenigen Ausnahmefällen.
Wittgenstein begeht den Fehler, von der Struktur der Sprache ("Aua" spricht nicht explizit über ein Ich) auf die Struktur der Welt und des Geistes zu schließen (Es gibt kein Ich). Doch dies ist ein Fehlschluss. Unsere Alltagssprache spiegelt unser Alltagswissen wider. Dieses ist, was den Geist betrifft, aber heute oftmals noch genauso falsch oder irreführend, wie das die landläufigen Vorstellungen über physikalische Phänomene am Anfang der Neuzeit waren. Damals begann die experimentelle Erforschung der Natur mit dem Ziel einer umfassenden Theoriebildung, die von den keplerschen Gesetzen über die newtonsche Mechanik bis hin zu Einsteins Relativitätstheorie und zur Quantenphysik führte.
Ist das Ich eine Fiktion des eigenen Gehirns?
Seit etwa 100 Jahren gibt es nun auch eine wissenschaftliche Psychologie, die den Geist experimentell zu erforschen sucht. Zwar kann sie bisher noch keine umfassende Erklärung geistiger Phänomene bieten, aber immerhin Theorien, die sich auf Teilaspekte der menschlichen Psyche beziehen. Die Hirnforschung hat das Gebiet seit einigen Jahrzehnten nun schon erheblich befruchtet; wertvolle Beiträge kommen zunehmend auch von der molekularen Neurobiologie und der Genforschung. Die Philosophie ist dabei eine wichtige Disziplin neben den anderen. Sie hat vor allem die Aufgabe, eine umfassende systematische Theorie des Geistes mitzugestalten.
Letztere in Frage zu stellen ist ein skeptisches Gedankenspiel, das eine fachinterne methodisch-didaktische Rolle spielen kann. Es hindert die Philosophie jedoch daran, im Konzert der anderen Wissenschaften mitzuspielen. Moderne Vertreter der Disziplin stimmen deshalb darin überein, dass der Mensch ein biologisches Wesen ist, dessen geistige Fähigkeiten auf natürlichen Eigenschaften beruhen. Heftig debattiert wird allerdings darüber, ob dem Ich-Gefühl eines Menschen auch ein Ich in der Realität entspricht oder ob es nichts anderes ist als eine Konstruktion des Gehirns.
Fähigkeit zur Selbsterfahrung
Für Letzteres gibt es zumindest starke experimentelle Belege. So können Wissenschaftler bei gesunden Menschen die Illusion erzeugen, eine Gummihand gehöre zum eigenen Körper (siehe Bild 3). Den Status, vom Gehirn konstruiert zu sein, hat allerdings auch eine Katze, die wir im Nachbargarten wahrnehmen. Trotzdem ist das Tier keine Fiktion, sondern Teil der Wirklichkeit, von der unser Gehirn eine mentale Repräsentation erzeugt. Entsprechend gilt: Auch wenn die Ich-Vorstellung vom Gehirn konstruiert ist (was Wissenschaftler gemeinhin annehmen), so bleibt doch das, was sie repräsentiert, real.
Das Ich ist dabei der Mensch als biologisches Wesen, das Vorstellungen von sich selbst hat – und somit die Fähigkeit zur Selbsterfahrung. Diese Fähigkeit ist allerdings in unterschiedlicher Weise ausgeprägt und entwickelt sich von einfachen zu komplexeren Formen. Schon ein neugeborenes Kind unterscheidet auf der Grundlage von Sinneswahrnehmungen gefühlsmäßig zwischen Ich und Umwelt. Sobald es mit einem Vierteljahr zielgerichtetes Greifen gelernt hat, erlebt es sich auch als Urheber seines eigenen Handelns.
Nach 18 Monaten können Kinder sich dann im Spiegel erkennen. Zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr lernen sie schließlich, ihre eigenen Wünsche und Überzeugungen von denen anderer Personen zu unterscheiden. Von da an ordnen sie Menschen ein Personenmodell zu – mit jeweils eigenen Gefühlen, Wünschen, Überzeugungen, Hoffnungen und Befürchtungen. Auf die weitere Entwicklung des Ich, die vor allem auch in der Pubertät stattfindet, kann ich hier aus Platzgründen nicht weiter eingehen.
Kenne ich mich selbst am besten?
Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass zum Ich die folgenden wesentlichen Merkmale gehören:
1. die Selbsterfahrung der eigenen Körperteile als zu mir gehörig,
2. das Gefühl, Urheber der eigenen Handlungen zu sein, ,
3. die Erfahrung einer räumlichen Perspektive mit dem Ich als Zentrum,
4. das Sich-selbst-Erkennen als Objekt im Spiegel sowie
5. die kognitive Perspektive mit der Fähigkeit, eigenes Wissen von dem anderer Personen zu unterscheiden und sich in andere hineinzuversetzen.
Letzteres nennen Kognitionspsychologen auch die "Theory of Mind"-Fähigkeit. Sie ist die entscheidende Basis für unser explizites, begriffliches Selbstbild. In Kooperation mit dem Neurowissenschaftler und Psychiater Kai Vogeley von der Universität Köln konnte meine Arbeitsgruppe erstmals die neuronalen Grundlagen der Selbstzuschreibung von Überzeugungen messen und so die Suche nach der empirischen Basis des Ich wesentlich befruchten.
Überdies lehrt die Alltagspsychologie, dass wir uns zum Schutz eines positiven Selbstbilds systematisch Selbsttäuschungen hingeben. Das ist weder stets unvernünftig noch grundsätzlich nachteilig für die betreffende Person. Systematische Fehlbewertungen der eigenen Eigenschaften und Fehler sind bis zu einem gewissen Grad normal. Problematisch werden sie nur in übertriebener Form – oder wenn sie krankhafte Zustände annehmen.
Eine pathologische Ich-Störung ist zum Beispiel das so genannte "Alien Hand"-Syndrom. Nach einem Schlaganfall kommt es manchmal vor, dass ein Mensch seine eigene Hand als nicht mehr zu ihm gehörig empfindet. Das kann so weit gehen, dass er sie als selbstständigen Akteur erlebt, den er nicht mehr kontrollieren kann. Die Hand macht dann, was sie will; unter Umständen würgt sie sogar ihren Träger! In diesem Fall geht zugleich das Gefühl der Urheberschaft verloren.
Die große Bedeutung des Einfühlungsvermögens
Unter einer anderen Ich-Störung leiden Menschen, die nicht fähig sind, die Wünsche und Überzeugungen ihres Gegenübers zu erraten. Folglich können sie auch nicht darauf eingehen. Damit fehlt ihnen die Grundlage für soziale Interaktionen. Genau das trifft in hohem Maße beim Autismus zu: Während Kinder den so genannten "False Belief"-Test (siehe Bild) gemeinhin ab dem vierten Lebensjahr bestehen, bewältigen Autisten die Aufgabe erst sehr viel später oder sogar nie. Wegen ihrer Schwierigkeiten im sozialen Umgang leben sie oft abgesondert von anderen und in sich zurückgezogen.
Selbst intelligente Autisten, die unter dem Asperger-Syndrom leiden, können soziale Regeln und Hinweise auf mentale Zustände nur auswendig lernen und in konkreten Situationen einüben. Unter leicht veränderten oder neuen Umständen sind sie dann wieder völlig verloren, weil sie nicht intuitiv einzuschätzen vermögen, was andere Menschen denken und fühlen und wie sie reagieren werden.
Mittlerweile gibt es auch Hinweise auf die neuronalen Grundlagen dieser Defizite. Demnach ist die "Theory of Mind"-Fähigkeit in bestimmten Hirnstrukturen verankert. Dabei liegt sie nicht nur dem Einfühlungsvermögen in andere zu Grunde, sondern auch der Konstruktion eines Selbstbilds mit Wünschen und Überzeugungen. Ein besseres Verständnis ihrer neuronalen Basis eröffnet folglich einerseits neue Behandlungsperspektiven für Ich-Störungen; andererseits gewährt sie tiefere Einblicke in die mentalen Ursprünge unseres Selbstbilds.
Wer bin ich also? Nach dem heutigen Stand des Wissens lautet die Antwort: Ich bin ein Mensch (als biologisches Wesen), der ein Ich-Gefühl und ein begriffliches Selbstbild entwickelt. Dieses Ich-Gefühl entsteht aus der Erfahrung heraus, dass ich einen eigenen Körper habe, die Welt aus einer eigenen Perspektive sehe und der Urheber des eigenen Handelns bin. Das begriffliche Selbstbild entwickelt sich erst in Verbindung mit der Fähigkeit, die eigenen Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen und so weiter von denen anderer Personen abzugrenzen.
Der Aufbau von Ich-Gefühl und Selbstbild kann durch Umwelteinflüsse, aber auch durch Fehlfunktionen des Gehirns systematisch gestört werden. Wer ich bin, vermag ich auch keineswegs immer selbst am besten einzuschätzen. Andere Menschen haben die wichtige Funktion, mein Selbstbild zu spiegeln und meine Selbsteinschätzung zu korrigieren.
Der Philosoph René Descartes (1596 – 1650) vertrat bekanntlich die These, dass wir im Kern rein geistige Wesen seien, die nur zufällig während unseres irdischen Daseins in einem Körper stecken. Dazu formulierte er sein berühmt gewordenes "Cogito"-Argument:
1. Ich denke (lateinisch: cogito).
2. Wenn ich denke, dann existiert der Träger dieses Gedankens.
3. Ich bin der Träger dieses Gedankens.
Also existiere ich (ergo sum).
Damit stellte Descartes zunächst fest, dass es uns gibt, wenn wir einen Denkvorgang bemerken. Unklar bleibt jedoch, welcher Art das denkende Ich ist. Deshalb führt Descartes das Argument weiter:
(A) Ich kann mir nicht widerspruchsfrei vorstellen, dass ich nicht existiere, solange ich denke.
(B) Ich kann mir jedoch widerspruchsfrei vorstellen, dass ich auch ohne alle körperlichen Eigenschaften existiere.
Also bin ich kein Körper, sondern ein reiner Geist. Im ersten Satz formuliert Descartes die "Cogito"-Überlegung bloß um ("Wenn ich denke, dann existiere ich"). Die Annahme B dagegen ist falsch. Zwar kann ich mir logisch widerspruchsfrei vorstellen, auch dann noch zu existieren, wenn ich Arme, Beine, Teile des Rumpfes und immer so weiter verlieren würde. Dennoch bleibt das ein nutzloses Gedankenspiel, weil es von den Gesetzen der Natur ausgeschlossen wird.
Dieser und zwei weitere Artikel bilden den Auftakt einer zwölfteiligen Serie von "Spektrum der Wissenschaft" zum Thema "Die größten Rätsel der Philosophie", die bis Heft 8/2011 läuft. "Wer bin ich?" und seine beiden Begleiter sind in der aktuellen Ausgabe (Heft 3/2011) zu finden, die ab 22.2. erhältlich ist.
Logisch widerspruchsfreie Vorstellungen können sich sehr wohl als naturgesetzliche Unmöglichkeiten erweisen. Ein Beispiel dafür liefert die Physik: Ein Perpetuum mobile galt unter Wissenschaftlern lange als realistische Idee; denn die Existenz einer solchen Maschine, die sich ohne Energiezufuhr unendlich immer weiterbewegt, führt auf keinen logischen Widerspruch und scheint intuitiv plausibel. Als Physiker jedoch die Gesetze von Energieerhaltung und Reibungsverlusten entdeckten, erwies sich das Perpetuum mobile als nicht realisierbar: Jede Bewegung geht mit Reibungsverlusten einher, was die Zufuhr von Energie erfordert, um sie aufrechtzuerhalten. Descartes bleibt uns also den Beweis für seine Behauptung schuldig, dass Geist und Welt voneinander getrennt seien. Er setzt diesen Dualismus vielmehr schlicht voraus. Im Übrigen wirft die Annahme, Geist und Materie hätten nichts miteinander zu tun, viele Probleme auf. Und es gibt eine Reihe von Gegenargumenten. Nur zwei seien an dieser Stelle genannt:
1. Wie kann der reine Geist auf den Körper einwirken? Denn genau das müsste geschehen, wenn wir auf Grund des Wunsches, etwas Warmes zu trinken, in die Küche gehen und einen Kaffee kochen. Wir wissen, dass Motoneurone im Gehirn unsere Körperbewegungen steuern. Diese Neurone erhalten – so eine gut begründete Annahme – Signale von Nervenzellen in anderen Hirnarealen, die wiederum von externen Sinnesreizen aktiviert werden. In der Neurowissenschaft spricht nichts für eine Aktivierung durch einen reinen Geist. Auch gäbe es prinzipiell kein wissenschaftliches Konzept für eine solche Spekulation. Wenn Wünsche wirken, dann tun sie dies nur, weil sie selbst als Hirnzustände realisiert sind.
2. Gegen einen reinen Geist sprechen auch neurowissenschaftliche Beobachtungen. Demnach können körperliche Störungen die Psyche systematisch verändern. So führt die Auflösung der Hirnstrukturen im Fall der Alzheimerkrankheit zu dramatischem Gedächtnisverlust und starker Demenz. Ferner lassen sich mit Psychopharmaka Menschen aus tiefer Depression wieder in einen Zustand versetzen, in dem eine kognitive Therapie überhaupt erst möglich wird. Desgleichen verhilft das Medikament Ritalin Kindern, die unter dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) leiden, wieder zu normalem Konzentrationsvermögen. Ebenso belegen die Folgen lokaler Zerstörungen im Gehirn – etwa durch einen Unfall oder Schlaganfall – den Zusammenhang zwischen geistigen Fähigkeiten und mentalen Zuständen. Bei defektem Areal V4 im visuellen Kortex erscheint die Welt den Betroffenen nur noch schwarz-weiß. Menschen mit zerstörtem Broca-Areal können nicht mehr sprechen – es sei denn, eine andere Hirnregion wird darauf trainiert, diese Aufgabe zu übernehmen, was aber nur sehr eingeschränkt gelingt.
Der Geist ist also untrennbar an Materie gebunden und seine Existenz unabhängig vom Körper eine pure Fiktion. Wenn wir das akzeptieren, stellt sich allerdings immer noch die Frage, ob das Ich vielleicht auch nur eine Fiktion ist. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) zumindest sah darin lediglich ein sprachliches Konstrukt: einen Zug im Sprachspiel. Wenn der Ausdruck "ich" in Äußerungen wie "Ich habe Schmerzen" verwendet werde, bezeichne er nichts; denn der Satz bedeute genau dasselbe wie "Aua!": Er drücke nur eine Empfindung aus.
Doch diese Argumentation vermag nicht wirklich zu überzeugen. Zum einen deutet auch der Empfindungsausdruck "Aua" darauf hin, dass es ein Ich gibt; nämlich eines, das Hilfe oder Trost sucht. Zum anderen existiert eine solche Entsprechung zwischen Ausrufen und Ich-Äußerungen nur in ganz wenigen Ausnahmefällen.
Wittgenstein begeht den Fehler, von der Struktur der Sprache ("Aua" spricht nicht explizit über ein Ich) auf die Struktur der Welt und des Geistes zu schließen (Es gibt kein Ich). Doch dies ist ein Fehlschluss. Unsere Alltagssprache spiegelt unser Alltagswissen wider. Dieses ist, was den Geist betrifft, aber heute oftmals noch genauso falsch oder irreführend, wie das die landläufigen Vorstellungen über physikalische Phänomene am Anfang der Neuzeit waren. Damals begann die experimentelle Erforschung der Natur mit dem Ziel einer umfassenden Theoriebildung, die von den keplerschen Gesetzen über die newtonsche Mechanik bis hin zu Einsteins Relativitätstheorie und zur Quantenphysik führte.
Ist das Ich eine Fiktion des eigenen Gehirns?
Seit etwa 100 Jahren gibt es nun auch eine wissenschaftliche Psychologie, die den Geist experimentell zu erforschen sucht. Zwar kann sie bisher noch keine umfassende Erklärung geistiger Phänomene bieten, aber immerhin Theorien, die sich auf Teilaspekte der menschlichen Psyche beziehen. Die Hirnforschung hat das Gebiet seit einigen Jahrzehnten nun schon erheblich befruchtet; wertvolle Beiträge kommen zunehmend auch von der molekularen Neurobiologie und der Genforschung. Die Philosophie ist dabei eine wichtige Disziplin neben den anderen. Sie hat vor allem die Aufgabe, eine umfassende systematische Theorie des Geistes mitzugestalten.
Erkenntnisse über das Wesen des Ichs
1. Dem Menschen genügt es nicht zu existieren, er möchte auch wissen, was die Urgründe seines Daseins sind. Antworten darauf gab bis heute eine Reihe von Philosophen.
2. René Descartes erkannte im Denken den Beweis für die eigene Existenz und definierte den Menschen folglich als geistiges Wesen, das nur zufällig und vorübergehend in einem Körper steckt – ein vorschneller Schluss.
3. Ludwig Wittgenstein sah im Ich lediglich ein sprachliches Konstrukt, das jeder reellen Basis entbehrt; doch von der Natur der Sprache lässt sich nicht ohne Weiteres auf die Natur der Welt und des Menschen schließen.
4. Gestützt auf Erkenntnisse aus Neurowissenschaft und Psychologie, betrachtet die moderne Philosophie den Menschen als biologisches Wesen mit geistigen Fähigkeiten, die auf natürlichen Eigenschaften beruhen; Ich-Gefühl und Selbstbild erwachsen aus der Abgrenzung der eigenen Person von der Außenwelt und ihrer Spiegelung im anderen.
Wenn wir also anerkennen, dass das Ich kein übernatürliches Phänomen und keine bloße sprachliche Fiktion, sondern wesentlich durch das Gehirn eines Menschen realisiert ist, so bleibt immer noch die Frage: Bin ich vielleicht eine Fiktion, die mein eigenes Denkorgan produziert? Das behauptet der Philosoph Thomas Metzinger von der Universität Mainz in neueren Veröffentlichungen wie dem Buch "Being No One" von 2003. Eine interdisziplinär orientierte Philosophie muss nicht nur Personen, sondern auch eine Außenwelt voraussetzen. 1. Dem Menschen genügt es nicht zu existieren, er möchte auch wissen, was die Urgründe seines Daseins sind. Antworten darauf gab bis heute eine Reihe von Philosophen.
2. René Descartes erkannte im Denken den Beweis für die eigene Existenz und definierte den Menschen folglich als geistiges Wesen, das nur zufällig und vorübergehend in einem Körper steckt – ein vorschneller Schluss.
3. Ludwig Wittgenstein sah im Ich lediglich ein sprachliches Konstrukt, das jeder reellen Basis entbehrt; doch von der Natur der Sprache lässt sich nicht ohne Weiteres auf die Natur der Welt und des Menschen schließen.
4. Gestützt auf Erkenntnisse aus Neurowissenschaft und Psychologie, betrachtet die moderne Philosophie den Menschen als biologisches Wesen mit geistigen Fähigkeiten, die auf natürlichen Eigenschaften beruhen; Ich-Gefühl und Selbstbild erwachsen aus der Abgrenzung der eigenen Person von der Außenwelt und ihrer Spiegelung im anderen.
Letztere in Frage zu stellen ist ein skeptisches Gedankenspiel, das eine fachinterne methodisch-didaktische Rolle spielen kann. Es hindert die Philosophie jedoch daran, im Konzert der anderen Wissenschaften mitzuspielen. Moderne Vertreter der Disziplin stimmen deshalb darin überein, dass der Mensch ein biologisches Wesen ist, dessen geistige Fähigkeiten auf natürlichen Eigenschaften beruhen. Heftig debattiert wird allerdings darüber, ob dem Ich-Gefühl eines Menschen auch ein Ich in der Realität entspricht oder ob es nichts anderes ist als eine Konstruktion des Gehirns.
Fähigkeit zur Selbsterfahrung
Für Letzteres gibt es zumindest starke experimentelle Belege. So können Wissenschaftler bei gesunden Menschen die Illusion erzeugen, eine Gummihand gehöre zum eigenen Körper (siehe Bild 3). Den Status, vom Gehirn konstruiert zu sein, hat allerdings auch eine Katze, die wir im Nachbargarten wahrnehmen. Trotzdem ist das Tier keine Fiktion, sondern Teil der Wirklichkeit, von der unser Gehirn eine mentale Repräsentation erzeugt. Entsprechend gilt: Auch wenn die Ich-Vorstellung vom Gehirn konstruiert ist (was Wissenschaftler gemeinhin annehmen), so bleibt doch das, was sie repräsentiert, real.
Das Ich ist dabei der Mensch als biologisches Wesen, das Vorstellungen von sich selbst hat – und somit die Fähigkeit zur Selbsterfahrung. Diese Fähigkeit ist allerdings in unterschiedlicher Weise ausgeprägt und entwickelt sich von einfachen zu komplexeren Formen. Schon ein neugeborenes Kind unterscheidet auf der Grundlage von Sinneswahrnehmungen gefühlsmäßig zwischen Ich und Umwelt. Sobald es mit einem Vierteljahr zielgerichtetes Greifen gelernt hat, erlebt es sich auch als Urheber seines eigenen Handelns.
Einen weiteren wichtigen Fortschritt verkörpert im Alter von etwa einem Jahr die Fähigkeit, sich selbst als Teil einer Dreierkonstellation zu verstehen: Das Ich und ein weiteres Subjekt richten beide ihre Aufmerksamkeit auf ein drittes Objekt und sind sich dabei bewusst, dass der andere jeweils dasselbe tut. Eng verknüpft mit dieser Fähigkeit ist das Vermögen zu erkennen, dass jeder Mensch eine eigene räumliche Perspektive einnimmt und meinem Gegenüber dadurch teilweise Dinge verborgen bleiben, die ich sehe.
Nach 18 Monaten können Kinder sich dann im Spiegel erkennen. Zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr lernen sie schließlich, ihre eigenen Wünsche und Überzeugungen von denen anderer Personen zu unterscheiden. Von da an ordnen sie Menschen ein Personenmodell zu – mit jeweils eigenen Gefühlen, Wünschen, Überzeugungen, Hoffnungen und Befürchtungen. Auf die weitere Entwicklung des Ich, die vor allem auch in der Pubertät stattfindet, kann ich hier aus Platzgründen nicht weiter eingehen.
Kenne ich mich selbst am besten?
Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass zum Ich die folgenden wesentlichen Merkmale gehören:
1. die Selbsterfahrung der eigenen Körperteile als zu mir gehörig,
2. das Gefühl, Urheber der eigenen Handlungen zu sein, ,
3. die Erfahrung einer räumlichen Perspektive mit dem Ich als Zentrum,
4. das Sich-selbst-Erkennen als Objekt im Spiegel sowie
5. die kognitive Perspektive mit der Fähigkeit, eigenes Wissen von dem anderer Personen zu unterscheiden und sich in andere hineinzuversetzen.
Letzteres nennen Kognitionspsychologen auch die "Theory of Mind"-Fähigkeit. Sie ist die entscheidende Basis für unser explizites, begriffliches Selbstbild. In Kooperation mit dem Neurowissenschaftler und Psychiater Kai Vogeley von der Universität Köln konnte meine Arbeitsgruppe erstmals die neuronalen Grundlagen der Selbstzuschreibung von Überzeugungen messen und so die Suche nach der empirischen Basis des Ich wesentlich befruchten.
Die biografische Entwicklung des Ich
Bei der normalen Entwicklung eines Kindes lassen sich mindestens die folgenden Schritte des Aufbaus von Ich-Vorstellungen unterscheiden:
Unsere Ergebnisse untermauern die Annahme, dass das Ich ein reales Phänomen ist. Im Alltag gehen wir davon aus, dass niemand die eigene Person genauer kennt als man selbst: "Ich bin meine Welt", sagt Wittgenstein im "Tractatus logico-philosophicus". Wie soll jemand anderes besser wissen, welche mentalen Zustände ich habe? Doch auch wenn wir die eigenen mentalen Zustände unmittelbar innerlich erfassen können, schätzen wir sie doch oft falsch ein. Während jemand zum Beispiel meint, sich nur in berechtigten Fällen aufzuregen, beurteilt ihn die Umwelt vielleicht einmütig als jähzornigen Menschen, der schon bei nichtigen Anlässen aufbraust. Bei der normalen Entwicklung eines Kindes lassen sich mindestens die folgenden Schritte des Aufbaus von Ich-Vorstellungen unterscheiden:
- Ein Ich-Gefühl auf Grund der Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers (spätestens bei der Geburt)
- Ein Ich-Gefühl, weil sich das Baby als Urheber seines zielgerichteten Handelns erlebt (beim Erlernen des Greifens im 3. Lebensmonat)
- Das Ich als Komponente von geteilter Aufmerksamkeit und als Zentrum der eigenen räumlichen Perspektive (entsteht zwischen dem 9. und 14. Lebensmonat)
- Das Ich als ein besonderes, handlungsfähiges Objekt neben anderen (wird beispielsweise deutlich, wenn ein Subjekt sich ab dem 18. Lebensmonat selbst im Spiegel erkennen kann)
- Das Ich als Subjekt mit begrifflichem Selbstbild, das sich wesentlich durch seine Wünsche, Überzeugungen, Hoffnungen und so weiter definiert und in der Lage ist, anderen Menschen andere Wünsche und Überzeugungen zuzuordnen. (Diese "Theory of Mind"-Fähigkeit wird zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr erlernt und ist mit dem "False Belief"-Test überprüfbar.)
Überdies lehrt die Alltagspsychologie, dass wir uns zum Schutz eines positiven Selbstbilds systematisch Selbsttäuschungen hingeben. Das ist weder stets unvernünftig noch grundsätzlich nachteilig für die betreffende Person. Systematische Fehlbewertungen der eigenen Eigenschaften und Fehler sind bis zu einem gewissen Grad normal. Problematisch werden sie nur in übertriebener Form – oder wenn sie krankhafte Zustände annehmen.
Eine pathologische Ich-Störung ist zum Beispiel das so genannte "Alien Hand"-Syndrom. Nach einem Schlaganfall kommt es manchmal vor, dass ein Mensch seine eigene Hand als nicht mehr zu ihm gehörig empfindet. Das kann so weit gehen, dass er sie als selbstständigen Akteur erlebt, den er nicht mehr kontrollieren kann. Die Hand macht dann, was sie will; unter Umständen würgt sie sogar ihren Träger! In diesem Fall geht zugleich das Gefühl der Urheberschaft verloren.
Die große Bedeutung des Einfühlungsvermögens
Unter einer anderen Ich-Störung leiden Menschen, die nicht fähig sind, die Wünsche und Überzeugungen ihres Gegenübers zu erraten. Folglich können sie auch nicht darauf eingehen. Damit fehlt ihnen die Grundlage für soziale Interaktionen. Genau das trifft in hohem Maße beim Autismus zu: Während Kinder den so genannten "False Belief"-Test (siehe Bild) gemeinhin ab dem vierten Lebensjahr bestehen, bewältigen Autisten die Aufgabe erst sehr viel später oder sogar nie. Wegen ihrer Schwierigkeiten im sozialen Umgang leben sie oft abgesondert von anderen und in sich zurückgezogen.
Selbst intelligente Autisten, die unter dem Asperger-Syndrom leiden, können soziale Regeln und Hinweise auf mentale Zustände nur auswendig lernen und in konkreten Situationen einüben. Unter leicht veränderten oder neuen Umständen sind sie dann wieder völlig verloren, weil sie nicht intuitiv einzuschätzen vermögen, was andere Menschen denken und fühlen und wie sie reagieren werden.
Mittlerweile gibt es auch Hinweise auf die neuronalen Grundlagen dieser Defizite. Demnach ist die "Theory of Mind"-Fähigkeit in bestimmten Hirnstrukturen verankert. Dabei liegt sie nicht nur dem Einfühlungsvermögen in andere zu Grunde, sondern auch der Konstruktion eines Selbstbilds mit Wünschen und Überzeugungen. Ein besseres Verständnis ihrer neuronalen Basis eröffnet folglich einerseits neue Behandlungsperspektiven für Ich-Störungen; andererseits gewährt sie tiefere Einblicke in die mentalen Ursprünge unseres Selbstbilds.
Wer bin ich also? Nach dem heutigen Stand des Wissens lautet die Antwort: Ich bin ein Mensch (als biologisches Wesen), der ein Ich-Gefühl und ein begriffliches Selbstbild entwickelt. Dieses Ich-Gefühl entsteht aus der Erfahrung heraus, dass ich einen eigenen Körper habe, die Welt aus einer eigenen Perspektive sehe und der Urheber des eigenen Handelns bin. Das begriffliche Selbstbild entwickelt sich erst in Verbindung mit der Fähigkeit, die eigenen Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen und so weiter von denen anderer Personen abzugrenzen.
Der Aufbau von Ich-Gefühl und Selbstbild kann durch Umwelteinflüsse, aber auch durch Fehlfunktionen des Gehirns systematisch gestört werden. Wer ich bin, vermag ich auch keineswegs immer selbst am besten einzuschätzen. Andere Menschen haben die wichtige Funktion, mein Selbstbild zu spiegeln und meine Selbsteinschätzung zu korrigieren.
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