Selbstbetrug: Doppelte Buchführung
Wie sich die Bilder gleichen. Anfang 2011 erklärt der damalige Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg, die abgekupferten Passagen seiner Doktorarbeit seien das Ergebnis von Überlastung und Nachlässigkeit – und keineswegs der Versuch einer vorsätzlichen Täuschung. Anfang 2012 gerät der amtierende Bundespräsident Christian Wulff in Verdacht, in seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident Vorteile angenommen und dienstliche mit privaten Interessen verquickt zu haben. Auch er gesteht nur vereinzelt Fehler ein und will die Affäre aussitzen, muss schließlich aber wie Guttenberg sein Amt räumen. Doch Zweifel an seiner moralischen Integrität will er bis heute nicht zulassen.
Ist es denkbar, dass Wulff und Guttenberg an ihrem Tun tatsächlich nichts Unmoralisches finden konnten? Und wie ließe sich eine derart verzerrte Wahrnehmung erklären?
Diese Fragen haben Psychologen anhand zahlreicher Experimente beantwortet – mit erstaunlichen Befunden. Wulff und Guttenberg sind demnach nur zwei prominente Beispiele für ein durchaus verbreitetes Phänomen: ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten, auch wenn offenkundige Beweise für moralisches Fehlverhalten vorliegen. Diese Neigung kann demnach so hartnäckig sein, dass wir uns einen Irrglauben auch dann nicht bewusst machen, wenn dafür Konsequenzen drohen.
Das ist eines der Ergebnisse, die der bekannte Psychologe Dan Ariely 2011 gemeinsam mit einem Team von der Harvard Business School veröffentlichte. Der Mittvierziger gilt dank vieler gewitzter Experimente als Star seiner Zunft. Zuletzt testeten er und seine Kollegen die moralische Integrität ihrer Studenten, indem sie ihnen die Gelegenheit zum Mogeln gaben, während sie zehn Fragen zum Allgemeinwissen beantworten sollten, zum Beispiel "In welchem US-Bundesstaat liegt der Mount Rushmore?". Am Fuß des Aufgabenblatts standen die Lösungen; mit ihrer Hilfe sollten die Teilnehmer ihre Ergebnisse selbst auswerten.
Dass einige die Gelegenheit ergriffen und schummelten, ließ sich daran ablesen, dass sie sich im Schnitt neun richtige Antworten attestierten, die Kontrollgruppe ohne Lösungsschlüssel aber nur auf rund sechs kam. Danach sollten alle Probanden vorhersagen, wie sie bei weiteren zehn Fragen abschneiden würden. Sie durften schon einen Blick auf den nächsten Test werfen und konnten sehen, dass hier keine Lösungen dabeistanden.
Die Kontrollgruppe tippte gemäß ihren Ergebnissen im ersten Durchgang im Schnitt auf sechs richtige Lösungen. Wer beim ersten Mal mogeln konnte, meinte im zweiten Test knapp acht Aufgaben lösen zu können. Offenbar korrigierten die Schummler ihre Erwartung zwar ein wenig nach unten, überschätzten sich aber immer noch deutlich. Sie führten ihr gutes Abschneiden im ersten Test also trotz Mogelei größtenteils auf eigene Kompetenz zurück. Und wenn sie zusätzlich ein Zertifikat für ihre gute Leistung erhalten hatten, überschätzten sie sich noch mehr: Die soziale Anerkennung für das erschummelte Ergebnis verstärkte den Effekt.
An den überhöhten Erwartungen änderte sich auch nichts, als die falschen Prognosen spürbare Folgen hatten, wie die Forscher in einer Anschlussstudie feststellten. Sie erhöhten den Anreiz, das eigene Abschneiden realistisch vorherzusagen, indem sie den Probanden je nach Treffergenauigkeit mehr oder weniger Geld in Aussicht stellten. Trotzdem überschätzten diejenigen, die zuvor mogeln konnten, ihren Testscore im Schnitt um knapp drei Fragen und erhielten deshalb rund drei Dollar weniger als die Kontrollgruppe. Die Selbstüberschätzung ließ sich also auch dann nicht korrigieren, wenn der resultierende Fehler die Probanden etwas kostete.
Im eigenen Irrglauben gefangen
Übertragen auf politische Karrieren bedeuten Arielys Befunde: Man muss einem Kandidaten nur die Gelegenheit bieten, sich mit unmoralischen Mitteln einen Vorteil zu verschaffen, und dann den Mechanismen der Selbsttäuschung ihren Lauf lassen. Er wird wahrscheinlich glauben, den Erfolg nicht seinem Betrug, sondern seinem Können zu verdanken, und sich von diesem Irrglauben auch durch drohende Konsequenzen nicht abbringen lassen – er weiß es einfach nicht besser. Und wird er dafür auch noch mit Wählerstimmen oder Ämtern belohnt, verliert er weiter an Bodenhaftung.
Die Fehleinschätzung und ihre Folgen fallen noch gravierender aus, wenn jemand grundsätzlich schon zur Selbsttäuschung neigt. Die Tendenz dazu erfassten die Forscher um Ariely in einem Fragebogen anhand von typischen Anzeichen für Selbstbetrug, zum Beispiel der Überzeugung, das eigene Schicksal voll und ganz im Griff zu haben. Je stärker die Probanden solchen Aussagen zustimmten, desto mehr überschätzten sie auch ihre Leistung.
Es gilt als Merkmal für psychische Gesundheit, sich in vielen Belangen überdurchschnittlich vorteilhaft einzuschätzen, sei es im IQ-Test oder beim Autofahren. Pessimisten und depressive Patienten sehen sich selbst und die Welt realistischer; der Verlust der rosaroten Schutzbrille scheint ein Teil ihrer Krankheit zu sein. Dient der Mechanismus also dazu, dass wir uns mit uns selbst wohler fühlen?
Das bezweifelt der Evolutionsbiologe und Sachbuchautor Robert Trivers. Vielmehr habe sich die menschliche Neigung zur Selbsttäuschung deshalb durchgesetzt, weil sie einen weiteren Vorteil verschaffe: die Umwelt besser hinters Licht führen zu können. Um etwaige Täuschungsmanöver zu erleichtern, würden wir kurzerhand unsere Selbstwahrnehmung "umorganisieren". Das spare nicht nur geistige Energie, sondern sichere auch ein glaubwürdiges Auftreten, so Trivers' Theorie. Das erwünschte Selbstbild lagern wir deshalb gut zugänglich im Gedächtnis und blenden zugleich die unschöne Wahrheit aus.
Bei den Inhabern politischer Ämter darf man getrost ein gewisses Naturtalent für diese Art von doppelter Buchführung voraussetzen; ein Hang zur Schönfärberei erscheint geradezu als Voraussetzung für eine solche Karriere. Ist es denkbar, dass auch Wulff und zu Guttenberg auf irgendeiner – mehr oder weniger bewussten – Ebene die Fragwürdigkeit ihres Tuns erkennen, diese Einsicht aber lieber ausblenden?
Das unverfälschte, wahre Urteil über die eigene Person brachten zwei Psychologen von der Northeastern University in Boston mit Hilfe einer List ans Licht. Peircarlo Valdesolo und David DeSteno baten ihre Versuchspersonen, sich selbst und einem weiteren Mitspieler jeweils eine von zwei Aufgaben zuzuteilen: eine einfache und eine anstrengende. Dabei konnten sie einen Zufallsgenerator verwenden oder aber willkürlich entscheiden – der zweite Proband würde davon nichts erfahren.
Nur acht Prozent nutzten den Zufallsgenerator oder teilten dem Mitspieler gleich die einfachere Aufgabe zu. Noch bedenklicher: Jene gut 90 Prozent, die sich einen Vorteil verschafft hatten, bezeichneten ihre Entscheidung im Schnitt als moralisch akzeptabel. Von außen betrachtet sah das allerdings ganz anders aus. Probanden, die am Monitor beobachten konnten, wie sich jemand selbst die einfachere Aufgabe zuteilte, hielt das eher für unmoralisch.
Soweit nicht allzu überraschend. Aber nun folgte ein kleines Manöver, mit dem die Forscher die Doppelmoral aushebeln wollten. Sie ließen ihre Probanden abwechselnd Zahlenfolgen auswendig lernen und wieder aufsagen, und dazwischen sollten sie ihr moralisches Urteil abgeben. Erstaunlicherweise genügte diese Zusatzaufgabe, um das Urteil zu korrigieren. Auch diejenigen, die den Mitspieler übervorteilt hatten, fanden ihr eigenes Verhalten jetzt moralisch fragwürdig!
Die für die Doppelmoral nötige Schönfärberei funktioniert offenbar nur dann, wenn wir genug geistige Kapazität dafür übrig haben. Intuitiv aber verurteilen wir auch unsere eigenen Fehltritte, so die Forscher. Die Doppelmoral zum Schutz des Selbstbilds entsteht demnach auf einer höheren Ebene der Informationsverarbeitung.
Die rosarote Brille wird allerdings zum Fluch, wenn sie allzu fest auf der Nase sitzt. Diese Gefahr laufen vor allem ausgemachte Talente der Selbsttäuschung: Sie verteidigen ihr geschöntes Selbstbild um jeden Preis, wie Forscher der Universitäten in Toronto, Harvard und London 2003 demonstrierten. Sie luden Harvard-Studenten zu einem Computerspiel ein, bei dem sie nacheinander je eine von insgesamt 100 verdeckten Karten umdrehen sollten und je nach Kartenmotiv Geld erhielten oder verloren. Das Spiel war derart programmiert, dass die Studenten zunächst sehr oft und dann kontinuierlich seltener gewannen. Sie durften aber jederzeit aussteigen und das übrige Geld behalten.
Je stärker die Probanden laut Fragebogen zur Selbsttäuschung neigten, desto länger blieben sie dabei und desto weniger Geld nahmen sie am Ende mit nach Hause. Jene 13 der insgesamt 42 Studenten, die bis zum bitteren Ende dabeiblieben, wiesen im Fragebogen in allen Aspekten der Selbsttäuschung Höchstwerte auf. In anderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Extraversion oder Neurotizismus unterschieden sie sich aber nicht von den übrigen Teilnehmern.
Kurskorrektur? Fehlanzeige!
Die Wurzel dieses Verhaltens, glaubt Studienleiter Jordan Peterson von der University of Toronto, liegt in einer Art Beratungsresistenz: "Sie ignorieren das negative Feedback und korrigieren ihr Verhalten nicht." Der Psychologe erkennt darin Parallelen zu Psychopathen, die sich ebenfalls kaum von drohenden negativen Konsequenzen beeindrucken lassen.
Wenn man Trivers' Theorie folgt, haben die 13 Harvard-Studenten damit die beste Voraussetzung für ein politisches Amt. Sie haben mit Wulff, Guttenberg und Co aber nicht nur ein gewisses Talent zur Selbsttäuschung gemeinsam, sondern müssen auch mit den Konsequenzen leben: den richtigen Zeitpunkt zum Absprung verpasst zu haben.
Sind das hoffnungslose Fälle? Oder gibt es Mittel und Wege, Schönfärberei und Selbstbetrug einen Riegel vorzuschieben? Dieser Frage ging schon 1999 ein Team um den Psychologen Daniel Batson von der University of Kansas nach. Im Rahmen eines Experiments ließen die Forscher ihre Probanden zunächst unter einem Vorwand bestimmen, ob sie selbst oder ein Mitspieler für ihre Versuchsteilnahme Lotterielose erhalten würden. Dazu bekamen sie eine Münze, die sie unbeaufsichtigt werfen konnten; sie durften die Zuteilung aber auch willkürlich vornehmen. 10 der 40 Versuchspersonen verzichteten auf die Münze und teilten sich kurzerhand selbst die Gewinnchance zu; nur zwei entschieden vorab zu Gunsten des Mitspielers. Immerhin 28 Probanden warfen die Münze.
Rein statistisch hätte nun der Zufall in 14 Fällen den Mitspieler begünstigen müssen. Dies berichteten aber nur vier Teilnehmer. Zirka zehn Probanden hatten wohl nur so getan, als würden sie die Münze entscheiden lassen, sich dann aber doch selbst begünstigt, als der Zufall nicht das erwünschte Ergebnis brachte.
Um ihnen das zu erschweren, platzierten die Versuchsleiter nun bei jedem zweiten Teilnehmer einen Spiegel so, dass dieser sich darin beobachten konnte. Mit durchschlagendem Erfolg: In 50 Prozent der Fälle, genau wie rein statistisch zu erwarten wäre, kam nun der Mitspieler in den Genuss der Lose. Offenbar brachte der Blick in den Spiegel die Probanden dazu, ihr Verhalten den moralischen Normen anzupassen.
Doch warum taten sie das? Fühlten sie sich ihren eigenen moralischen Prinzipien nun stärker verpflichtet – sozusagen, um sich selbst noch im Spiegel betrachten zu können? Oder rief er ihnen nur ins Gedächtnis, wie ihr zweifelhaftes Verhalten nach außen wirken würde?
Um das herauszufinden, löschten die Forscher aus einem Teil der Instruktionen das zuvor explizit erwähnte moralische Prinzip (dem anderen die Lose oder eine faire Chance zu geben). Das Ergebnis war entlarvend. Ohne vorgeschriebenen Verhaltenskodex verlor der Spiegel seine Wirkung. Noch dazu behaupteten die Probanden gar, es gäbe in dieser Angelegenheit keine moralisch korrekte Entscheidung. Offenbar verschoben sie die Grenze zwischen moralischem und unmoralischem Verhalten zu ihren Gunsten, so die Interpretation der Forscher.
Machen wir uns doch nichts vor
Übertragen auf die politische Praxis bedeutet das: Amtsinhaber und Würdenträger sollte man besser regelmäßig an einen vorgegebenen Verhaltenskodex erinnern. Zusätzlich sollten sie bei kritischen Entscheidungen immer wieder mal einen Blick in den (Presse-)Spiegel werfen. Dadurch steigt das Gefühl, sich für das eigene Handeln rechtfertigen zu müssen. Laut Stanford-Ökonomin Deborah Gruenfeld kann das Menschen in Machtpositionen auch veranlassen, die Perspektive ihrer Mitmenschen stärker zu berücksichtigen.
Sollte das nicht helfen, bleibt als letzte Hoffnung eine Art magnetische Badekappe. Was sich anhört wie die unheimliche Erfindung eines Sciencefiction-Autors, ist laut einer 2007 veröffentlichten Untersuchung an der Princeton University längst möglich. Die Psychologin Virginia Kwan stülpte ihren Versuchspersonen eine Kappe über, mit deren Hilfe sie magnetische Impulse auf ausgewählte Hirnareale richten und so kurzzeitig deren Aktivität manipulieren konnte. Hemmten die Magnetfelder eine bestimmte Region im Stirnhirn, den medialen präfrontalen Kortex, so neigten die Probanden weniger dazu, sich in einem Fragebogen vorteilhaft darzustellen. Demnach würde es womöglich genügen, Politikern inmitten ihrer Schwarzgeld-, Kredit- und Plagiatsaffären mit dieser Kappe zu Leibe zu rücken: Schon lüftet sich der Schleier der Selbsttäuschung, und die hässliche Realität tritt hervor.
Unserer den Menschenrechten verpflichteten Demokratie ist es zu verdanken, dass sich Politiker wohl weniger vor Magnetimpulsen als vielmehr vor Umfrageergebnissen fürchten müssen. "Wulff unbeliebter als Westerwelle" – an solchen Schlagzeilen wird auch ein Ausnahmetalent in Sachen Selbsttäuschung zu knabbern haben. Laut einer repräsentativen Befragung von Infratest hielten Anfang Februar drei Viertel der Wähler ihren Bundespräsidenten für unehrlich. Es dürfte Wulff allerdings in seiner fragwürdigen Amtsmoral bestätigt haben, dass trotzdem nur jeder zweite seinen Rücktritt forderte. Offenbar störten sich viele nicht daran, dass der Präsident an der Grenze zur Illegalität manövrierte. Er selbst beschrieb sein Verhalten ungeniert als "normal und menschlich".
Ein Staatsoberhaupt sollte die moralische Messlatte nicht tiefer, sondern höher legen. Doch immerhin repräsentierte Wulff die verbreitete Neigung zu Selbstbetrug und Doppelmoral ganz vortrefflich.
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