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Sozialpsychologie: Hilfsbereitschaft unter Fremden

Die Wahrscheinlichkeit, mit der Großstädter einem Unbekannten in einer Notlage beistehen, variiert beträchtlich von Ort zu Ort. Eine aufwendige Vergleichsstudie deckte erstaunliche Zusammenhänge auf.


Nie werde ich eine Lektion vergessen, die mir als Kind in New York erteilt wurde. Ich war sechs Jahre alt und spazierte mit meinem Vater eine belebte Straße Manhattans entlang. Plötzlich staute sich der Strom der Fußgänger an einem Hindernis auf dem Gehsteig. Zu meinem Erstaunen entpuppte sich der Gegenstand, um den die Leute einen Bogen machten, als menschliches Wesen: Ein Mann lag bewusstlos auf dem Pflaster. Kein einziger Passant schien davon Notiz zu nehmen, dass das Hindernis ein Mensch war. Jedenfalls riskierte niemand einen direkten Blick. Während wir uns vorbeischoben, zeigte mein Vater – das Muster eines liebevollen, warmherzigen Herrn – auf eine Flasche in einem Papiersack und erklärte mir, die arme Seele auf dem Gehsteig "müsse nur einen Rausch ausschlafen". Als der Betrunkene anfing, wirre Reden zu schwingen, warnte mein Vater mich davor, näher zu gehen: "Man weiß nie, wie er reagiert." Bald begriff ich diese Lektion als meine erste Übung in urbanem Verhalten.

Aber viele Jahre später machte ich eine völlig andere Erfahrung auf einem Markt in Rangoon, der Hauptstadt von Birma. Ich war ein Jahr lang von einer armen Stadt Asiens zur anderen gereist, doch selbst daran gemessen herrschte hier das nackte Elend. Zu der schrecklichen Armut kamen drückende Hitze, unglaubliches Gedränge und ein kräftiger Wind, der alles mit Staub bedeckte. Auf einmal schrie ein Mann, der einen riesigen Ballen Erdnüsse schleppte, vor Schmerz auf und fiel zu Boden. Und dann wurde ich Zeuge eines erstaunlichen Balletts. Als hätten sie ihre Bewegungen viele Male geprobt, rannten mehrere Verkäufer von ihren Ständen herbei, um zu helfen, wobei sie all ihr Hab und Gut unbeaufsichtigt ließen. Einer schob eine Decke unter den Kopf des Mannes; ein anderer öffnete sein Hemd; ein dritter fragte ihn behutsam nach seinen Schmerzen aus; ein vierter holte Wasser; ein fünfter drängte die Schaulustigen zurück; ein sechster holte Hilfe. Binnen Minuten kam ein Arzt, und zwei weitere Ortsansässige assistierten ihm. Die Darbietung hätte als Abschlussprüfung an einer Schule für Sanitäter durchgehen können.

Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau schrieb im 18. Jahrhundert, Städte seien Abgründe für das Menschengeschlecht. Doch wie meine Erlebnisse in New York und Rangoon zeigten, sind nicht alle Städte gleich. Orte haben wie Individuen ihre eigene Persönlichkeit. Welche Umgebung fördert Altruismus am meisten? In welchen Städten wird einer Person in Not am ehesten geholfen? Ich habe die letzten 15 Jahre fast ausschließlich dieser Frage gewidmet.

Meine Studenten und ich sind durch die USA und viele Länder der Welt gereist, um zu beobachten, wo Passanten einem Fremden am bereitwilligsten beistehen. In jeder der untersuchten Städte führten wir fünf verschiedene Feldversuche durch. Unsere Studien konzentrierten sich auf einfache Hilfeleistungen, die kein großes Heldentum erfordern: Wird ein unabsichtlich fallen gelassener Schreibstift von einem vorbeigehenden Fußgänger aufgehoben? Wird einem Menschen mit verletztem Bein geholfen, wenn er eine Zeitschrift vom Boden aufzuheben versucht? Wird jemand einen Blinden über eine verkehrsreiche Kreuzung geleiten? Wird jemand bereit sein, einen Vierteldollar in kleinere Münzen zu wechseln? Nehmen sich Leute die Zeit, einen adressierten und frankierten Brief, der anscheinend verloren gegangen ist, einzuwerfen?

Unsere ersten Untersuchungen führten wir Anfang der 1990er Jahre durch. Meine Studenten und ich besuchten 36 Städte unterschiedlicher Größe in verschiedenen Regionen der USA. Die Resultate bestätigten meine Kindheitseindrücke von New York. In einer kombinierten Auswertung der fünf Experimente landete New York City auf dem allerletzten Platz. Wenn wir noch ein sechstes Maß für anonyme Hilfsbereitschaft hinzufügten – Pro-Kopf-Beitrag zur privaten Hilfsorganisation United Way –, kletterte New York bloß auf den vorletzten Platz. Insgesamt fanden wir, dass die Menschen in den kleinen und mittelgroßen Städten des Südostens der USA am meisten Hilfsbereitschaft zeigten, während die Bewohner der großen Städte im Nordosten und an der Westküste am schlechtesten abschnitten.

Auf Grund der zahlreichen untersuchten Orte konnten wir erkennen, wie gewisse soziale, wirtschaftliche und umweltbedingte Faktoren mit unseren Versuchsergebnissen korreliert waren. Wie wir herausfanden, ist der bei weitem beste Indikator die Bevölkerungsdichte. Dieser Parameter ist enger mit der Hilfsbereitschaft einer Stadt verbunden als die Verbrechensrate, das Tempo des täglichen Lebens, die vorherrschenden wirtschaftlichen Bedingungen oder Umweltbelastungen wie Lärm und Luftverschmutzung. Wir konnten leicht nachweisen, dass im Durchschnitt die Menschen in besonders dicht bevölkerten Städten sich viel seltener Zeit nehmen zu helfen. New York war das beste Beispiel.

Gemeinsinn im Kulturvergleich

Dieses Ergebnis ist natürlich leicht zu verstehen. Gedränge bringt unsere schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein. Urbanisierungskritiker betonten stets, dass das Zusammenquetschen allzu vieler Menschen auf allzu kleinem Raum paradoxerweise zu Entfremdung, Anonymität und sozialer Isolation führt. Letztlich fühlen sich die Leute weniger verantwortlich für ihr Verhalten gegen andere – insbesondere gegen Fremde. Früheren Forschungen zufolge sind Stadtbewohner eher bereit, einander Schaden zuzufügen. Unsere Studie zeigte, dass sie auch weniger bereit sind, einander Gutes zu tun, und dass diese Apathie mit dem Grad der Beengung zunimmt.

Aber entsprechen alle Städte diesem Muster? Dass dicht gepackte Städte wie New York nicht so viel Gemeinsinn zeigen wie kleine Gemeinden im Südosten und Mittleren Westen, ist keine große Überraschung, doch wie mein Erlebnis in Rangoon zeigt, stößt man selbst in den größten Städten auf Inseln dörflichen Zusammenhalts. Inwieweit ähneln sich Großstädter aus verschiedenen Ländern?

Um diese Frage zu beantworten, führten Ara Norenzayan und mehr als zwanzig weitere abenteuerlustige Studenten meiner Universität mit mir fünf separate Experimente in Großstädten rund um den Globus aus. Alles in allem stellten wir fast 300-mal die Hilfsbereitschaft auf die Probe: Wir täuschten Blindheit vor, ließen mehr als 400 Schreibstifte fallen, sprachen rund 500 Leute an, während wir vorgaben, ein verletztes Bein zu haben oder Kleingeld zu brauchen, und verloren absichtlich fast 800 Briefe. In den USA wählten wir für dieselben fünf Experimente New York aus.

Psychologen, die ausgeklügelte Feldversuche anstellen, wissen genau, dass ein fehlgeschlagenes Experiment manchmal ebenso aufschlussreich ist wie ein gelungenes. Ganz in diesem Sinne entdeckten wir rasch, dass Messverfahren für Hilfsbereitschaft sich nicht immer glatt von einer Kultur auf die andere übertragen lassen. Vor allem zwei Experimente – um Kleingeld bitten und Briefe verlieren – funktionieren in vielen Ländern nicht so wie in den USA.

Die meisten Schwierigkeiten bereitete der Test mit dem verlorenen Brief. Dabei ließen wir frankierte und adressierte Kuverts gut sichtbar auf der Straße liegen und maßen später den Prozentsatz der zugestellten Briefe. Ein Problem war, dass in einigen Städten die Leute buchstäblich vor den Briefen davonrannten. Vor allem in Israels Hauptstadt Tel Aviv, wo unbestellte Päckchen nur zu oft Bomben enthalten, mieden die Menschen ganz bewusst unsere verdächtig wirkenden Kuverts. In El Salvador erfuhr unser Versuchsleiter von einem gängigen Trick mit absichtlich verstreuten Briefen: Sobald ein guter Samariter einen aufhob, tauchte ein Ganove auf und behauptete, er habe den Brief verloren, in dem angeblich viel Geld gewesen sei. Dann verlangte der Gangster den fiktiven Betrag so drohend zurück, dass der ehrliche Finder aus eigener Tasche bezahlte und natürlich nie wieder einen fremden Brief anrührte.

In vielen Entwicklungsländern werden Briefkästen nicht geleert oder fehlen einfach. Um einen Brief aufzugeben, muss man, statt ihn an der nächsten Ecke einzuwerfen, zum Postamt gehen. In Tirana, der Hauptstadt Albaniens – wo wir schließlich den Feldversuch ganz abbrachen –, riet man uns von dem Experiment ab, weil selbst im Postamt aufgegebene Briefe selten ihr Ziel erreichen. Natürlich ist unzuverlässige Postzustellung auch in einigen reicheren Ländern ein Störfaktor. Doch das größte Problem war, dass in mehreren Ländern der Briefverkehr für die meisten Einwohner keinerlei Bedeutung hat. Im Nachhinein hätten wir die Versuche weniger ethnozentrisch planen sollen. Was darf man schließlich von einem Land wie Indien erwarten, in dem 52 Prozent nicht lesen und schreiben können?

Knapp bei Kasse

Auch das Experiment mit der Bitte um Kleingeld erwies sich als schlecht übertragbar. In den USA bat der Experimentator einen Entgegenkommenden, ihm einen Vierteldollar zu wechseln, in anderen Ländern eine vergleichbare Summe. Doch wie wir erfahren mussten, war in vielen Teilen der Welt die Nachfrage nach bestimmten Münzen auf Grund der Inflation und des Gebrauchs von Telefonkarten verschwunden. In Tel Aviv zum Beispiel schien niemand zu verstehen, warum ein Mensch Kleingeld braucht. In Kalkutta – das sich jetzt offiziell Kolkata nennt – hatte unser Versuchsleiter Schwierigkeiten, überhaupt jemanden zu finden, der geringwertige Scheine und Münzen besaß, denn sie waren zu der Zeit in ganz Indien rar.

In Buenos Aires, der Hauptstadt des wirtschaftlich gebeutelten Argentinien, fragten wir uns, wie wir die Reaktion eines Mannes bewerten sollten, der sagte, er sei so bankrott, dass er uns nicht einmal Kleingeld herausgeben könne. In einigen Städten scheuten sich die Menschen, mit Fremden überhaupt Geld zu tauschen. In Kiew – einer weiteren Stadt, wo wir die Datenerhebung abbrachen – sind die Diebe so unverschämt, dass Besucher davor gewarnt werden, auf der Straße die Brieftasche zu öffnen.

Schließlich beschränkten wir uns auf die Tests, bei denen der Experimentator vorgab, blind zu sein, ein verletztes Bein zu haben oder einen Schreibstift zu verlieren. Selbst diese Situationen ließen sich manchmal nicht ohne weiteres von einem Land aufs andere übertragen. Bei den Versuchen mit dem verletzten Bein zum Beispiel fanden wir heraus, dass eine Beinschiene manchmal nicht ausreichte, Sympathie zu wecken. Wie unser Experimentator Widyaka Nusapati aus Jakarta berichtete, nehmen die Leute dort normalerweise eine kleinere Verletzung nicht ernst genug, um zu helfen. Offenbar – so Nusapati – hätte ihm ein Bein fehlen müssen, damit der Test funktionierte.

In manchen Städten wie Tokio erzeugen die Verkehrsampeln akustische Signale, damit Sehbehinderte wissen, wann sie sicher über die Straße gehen können. Das macht es unwahrscheinlicher, dass ein Blinder beim Überqueren des Zebrastreifens Hilfsbereitschaft weckt. Die Person, die den Versuch in Tokio durchführte, fühlte sich von dem in Japan herrschenden Wohlverhalten sogar derart unter Druck gesetzt, dass sie es fast unmöglich fand, Blindheit oder Gehbehinderung vorzutäuschen, um wohlmeinende Helfer anzulocken. Darum konnte Tokio letztlich nicht in unsere Rangliste aufgenommen werden.

Trotz dieser Schwierigkeiten führten wir die drei Tests erfolgreich in 23 unterschiedlichen Ländern durch – und somit die bislang größte internationale Vergleichsstudie zum Thema Helfen. Sie offenbarte enorme Unterschiede in der Bereitschaft von Städtebewohnern, auf Unbekannte zuzugehen. Beim Blindentest zum Beispiel halfen Fremde in fünf Hauptstädten – Rio de Janeiro (Brasilien), San José (Costa Rica), Lilongwe (Malawi), Madrid (Spanien) und Prag (Tschechien) – dem Fußgänger bei jeder Gelegenheit über die Straße, während in Kuala Lumpur (Malaysia) und Bangkok (Thailand) nur in weniger als der Hälfte aller Fälle Hilfe angeboten wurde. Mit einem verletzten Bein wird einem in San José, Kalkutta (Indien) oder Shanghai (China) dreimal häufiger beim Aufheben einer Zeitschrift geholfen als auf den Straßen von New York oder Sofia (Bulgarien). Und wenn man seinen Stift in New York verliert, ist die Chance, ihn jemals wiederzusehen, dreimal geringer als in Rio.

Die beiden Spitzenplätze liegen in Lateinamerika: Rio und San José. Insgesamt erwiesen sich Städtebewohner aus dem hispanischen (spanisch-portugiesischen) Kulturkreis als besonders hilfsbereit: Madrid, San Salvador und Mexico City lagen weit über dem Durchschnitt. Wenn man bedenkt, dass mehrere dieser Orte seit langem unter politischen Unruhen, hoher Kriminalität und anderen sozialen, ökonomischen und ökologischen Übeln leiden, erscheinen die Resultate höchst bemerkenswert.

"Simpático"

Der Sozialpsychologe Aroldo Rodrigues, der gegenwärtig mit mir an der California State University in Fresno zusammenarbeitet, lehrte zuvor viele Jahre an Universitäten in Rio, der hilfsbereitesten Stadt überhaupt. Er war von unseren Ergebnissen nicht überrascht: "In Brasilien gibt es das wichtige Wort simpático", erklärt Rodrigues. "Es bezeichnet eine Vielfalt positiver sozialer Eigenschaften – freundlich, nett, angenehm und gutmütig sein. Mit einem solchen Menschen umzugehen macht einfach Spaß. Wohlgemerkt, simpático bedeutet nicht unbedingt, dass der Betreffende ehrlich ist oder moralisch handelt. Es ist eine soziale Eigenschaft. Brasilianer, insbesondere die Cariocas (die Einwohner von Rio), möchten sehr gern als simpático gelten – und dazu gehört nun einmal, dass man sich Mühe gibt, Fremden beizustehen." Dieses soziale Vorbild ist nicht nur in Brasilien wirksam: Simpático zu sein gilt auch in den anderen hispanischen Kulturen, die wir untersuchten, als höchst erstrebenswert.

Es gab andere deutliche Trends, obwohl jeder seine Ausnahmen hatte. Die Häufigkeit freundlicher Hilfsakte lag höher in Ländern mit geringer Wirtschaftskraft – das heißt mit niedrigem Pro-Kopf-Inlandsprodukt und somit wenig Kaufkraft –, in Städten mit langsamem Lebensrhythmus – gemessen durch die Geschwindigkeit der Fußgänger – und in Kulturen, die den Wert sozialer Harmonie betonen. Dieses "Persönlichkeitsprofil" der Städte passt zur Simpático-Hypothese. In Gemeinden, wo soziale Verpflichtungen Vorrang vor individueller Leistung haben, sind die Menschen im Schnitt wirtschaftlich weniger produktiv, zeigen aber mehr Bereitschaft, anderen zu helfen.

Dieser Trend galt allerdings nicht für alle Städte in unserer Studie. Die Fußgänger in Kopenhagen und Wien, schnelllebigen Städten der Ersten Welt, waren sehr freundlich zu Fremden, während Passanten in Kuala Lumpur, wo das Leben langsamer lief, sich überhaupt nicht hilfsbereit zeigten. Wie diese Ausnahmen zeigen, können selbst Städter mit hohem Lebenstempo und wirtschaftlichem Leistungsdruck Zeit für Fremde in Not finden. Umgekehrt ist ein langsamer Lebensstil keine Garantie dafür, dass die Leute ihre freie Zeit in die Verwirklichung sozialer Ideale investieren.

Unhöfliche Helfer

Wie zuvor im inneramerikanischen Städtevergleich machten die New Yorker auch in der internationalen Studie eine auffallend schlechte Figur: Sie wurden unter 23 Weltstädten Vorletzte, wenn es darum ging, einen verlorenen Stift aufzuheben oder einer am Bein verletzten Person zu helfen. Wenn es galt, einem Blinden über die Straße zu helfen, erreichten sie mit Platz 13 wenigstens fast Mittelmaß.

Wir erlebten auch, dass es einen Unterschied zwischen Helfen und Höflichkeit geben kann. Dort, wo die Leute schnell gehen, benehmen sie sich, selbst wenn sie Unterstützung anbieten, weniger höflich. In New York war die Hilfe oft mit besonders scharfer Distanzierung verbunden. Beim Experiment mit dem verlorenen Schreibstift riefen hilfswillige New Yorker dem Tester in der Regel zu, er habe seinen Stift verloren, und suchten schleunigst das Weite. Hingegen überreichten Helfer im lässigen Rio – wo Dahinschlendern und simpático zum Lebensstil gehören – den Stift meist persönlich, wofür sie manchmal dem Experimentator sogar eigens hinterherliefen. Beim Test mit dem Blinden warteten hilfswillige New Yorker oft, bis die Ampel grün zeigte, gaben wortkarg bekannt, dass der Übergang jetzt sicher sei, und gingen schnell voran. In den freundlicheren Städten boten Helfer häufiger an, den Experimentator über die Straße zu führen, und fragten manchmal, ob er weitere Unterstützung brauche. Unsere Tester hatten an solchen Orten sogar das Problem, dass sie besonders fürsorgliche Fremde kaum wieder loswurden.

Im Allgemeinen möchten New Yorker anscheinend nur dann Hilfe anbieten, wenn sie sicher sein können, dass daraus kein weiterer Kontakt folgt – als wollten sie sagen: "Ich erfülle meine soziale Verpflichtung, aber mach dir nichts vor, dann trennen sich unsere Wege." Ob hinter dieser Haltung Furcht steckt oder einfach der Wunsch, keine Zeit zu verlieren, ist schwer zu sagen. Doch in hilfsbereiten Städten wie Rio erschien uns oft der menschliche Kontakt als das eigentliche Motiv. Die Leute leisteten Hilfe häufig mit einem Lächeln und freuten sich sichtlich über das Dankeschön.

Ein besonders drastisches Beispiel für unhöfliches Helfen ereignete sich im Laufe der – letztlich abgebrochenen – Versuchsreihe mit verlorenen Briefen. In vielen Städten empfing ich Kuverts, die sichtlich geöffnet worden waren. In fast all diesen Fällen hatte der Finder den Brief wieder zugeklebt oder in einem neuen Umschlag aufgegeben. Manchmal lag eine Notiz bei, in der sich der Finder für das Öffnen unseres Briefs entschuldigte. Nur aus New York empfing ich ein seitlich aufgerissenes und offen gelassenes Kuvert. Auf die Rückseite des Briefs hatte der Helfer auf Spanisch gekritzelt: "Hijo de puta ir[r]esposable" – offenbar eine üble Beleidigung, die meine Mutter einschloss. Darunter stand ein gängiger Fluch, für den ich keinen Übersetzer brauchte. Es ist interessant, sich diesen wütenden New Yorker vorzustellen, wie er auf dem Weg zum Briefkasten meine Verantwortungslosigkeit verflucht und doch aus irgendeinem Grund den Zwang verspürt, sich die Zeit zu nehmen, seine soziale Verpflichtung für einen Unbekannten zu erfüllen, den er bereits hasst. Ironischerweise zählte dieser unhöflich weitergeleitete Brief in den New Yorker Daten als positive Hilfsmaßnahme. Eine äußerst antipático Testperson, würden die Brasilianer sagen.

Ganz anders in Tokio: Dort stellten mehrerer Finder die Briefe sogar persönlich zu. Und aus Rochester, der gemäß unserer früheren Untersuchung freundlichsten Stadt der USA, empfing ich folgende Notiz auf derRückseite eines weitergesandten Briefs:

"Hallo. Ich fand das unter meinem Scheibenwischer mit einer Notiz, dass es neben meinem Auto gelegen hat. Erst hielt ich es für einen Strafzettel. Ich werfe es am 19. 11. in den Briefkasten. Sagen Sie dem Absender, es wurde auf der Brücke Nähe Bücherei und South Avenue Garage um ca. 17 Uhr am 18. 11. gefunden.

PS: Sind Sie mit Levines in New Jersey oder Long Island verwandt? L. L."

Bedeuten unsere Resultate, dass New Yorker an sich hartherziger sind als die Bewohner anderer Städte? Keineswegs. Die New Yorker, mit denen wir sprachen, nannten viele gute Gründe für ihre geringe Bereitschaft, Fremden zu helfen.

Die soziale Kälte großer Städte Den meisten war wie mir früh beigebracht worden, dass es gefährlich sein kann, auf Leute zuzugehen, die man nicht kennt. Um in New York zu überleben – hieß es –, sollte man allem irgendwie Verdächtigen aus dem Weg gehen.

Manche äußerten auch die Sorge, dass andere vielleicht keine unerbetene Hilfe wollten, dass der Fremde seinerseits Außenkontakte fürchte oder sich davon gönnerhaft behandelt oder beleidigt fühle. Viele erzählten, sie seien für den Versuch zu helfen regelrecht misshandelt worden. Eine Frau beschrieb eine Begegnung mit einem gebrechlichen Greis, der einen Stock vor sich hielt und anscheinend unfähig war, eine Kreuzung zu überqueren. Als sie höflich Hilfe anbot, polterte er: "Wenn ich Hilfe will, bitte ich darum. Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck." Andere berichteten, sie seien oft genug von Gaunern hereingelegt worden. Ein Nicht-Helfer erklärte: "Die meisten New Yorker haben falsche Blinde und falsche Lahme erlebt und sind von Geisteskranken oder aggressiven Obdachlosen zumindest verbal attackiert worden. Das macht einen nicht unbedingt immun oder abgebrüht, aber jedenfalls vorsichtig."

Immer wieder haben uns New Yorker gesagt, sie hätten tiefes Mitgefühl mit den Nöten anderer, aber die Härte des Stadtlebens würde ihnen verbieten, Fremden die Hand zu reichen. Die Leute sprachen nostalgisch von früher, als sie ohne weiteres Anhalter mitgenommen oder einem hungrigen Fremden eine Mahlzeit verschafft hatten. Viele äußerten Kummer oder gar Zorn, weil das heutige Leben ihnen die Befriedigung vorenthalte, sich als barmherzige Samariter zu fühlen.

Diese Erklärungen mögen einfach die Rationalisierungen liebloser Städter sein, die versuchen, sich besser zu machen, als sie sind. Aber das glaube ich nicht. Alle Indizien deuten darauf hin, dass Helfen weniger vom Wesen der ansässigen Menschen abhängt als von den Eigenschaften der unmittelbaren Umgebung. Wie Untersuchungen zeigen, können scheinbar geringfügige Änderungen der Situation das Helfen drastisch beeinflussen – ungeachtet der Persönlichkeit oder Moral der beteiligten Menschen. Nachweislich hat der Ort, an dem man aufgewachsen ist, weniger mit Helfen zu tun als der gegenwärtige Wohnort. Mit anderen Worten, Brasilianer und New Yorker werden gleichermaßen in Ipanema hilfsbereiter sein als in Manhattan.

Helfen lernen

Dennoch sollte man die Hoffnung auf zivile Umgangsformen in Städten wie New York und Kuala Lumpur nicht aufgeben. Gerade weil die typischen Umstände sich mancherorts gegen das Helfen auswirken, lässt es sich umgekehrt durch Beeinflussen der Umgebung auch fördern. Wie Experimente gezeigt haben, wächst die Hilfsbereitschaft, wenn die für viele Städte typische Anonymität und Verantwortungslosigkeit beseitigt wird – etwa durch Steigern der persönlichen Identifizierbarkeit oder indem die Leute einfach dazu gebracht werden, einander mit ihrem Namen anzusprechen.

In einem 1975 an einem New Yorker Badestrand durchgeführten Experiment fand Thomas Moriarity, damals Sozialpsychologe an der New York University, dass nur zwanzig Prozent der Zuschauer intervenierten, wenn ein Mann – in Wirklichkeit ein Versuchsleiter – vor aller Augen ein Kofferradio von einem zeitweilig verlassenen Badetuch stahl. Doch wenn die Eigentümerin einfach die Strandnachbarn bat, ein Auge auf ihr Radio zu haben, während sie fort war, schritten 95 Prozent derer, die zugestimmt hatten, gegen den Diebstahl ein.

Auch das Erzeugen eines gewissen Schuldgefühls – indem man den Leuten bewusst macht, dass sie mehr tun könnten – scheint Wirkung zu zeigen. Vielleicht am meisten verspricht die Tatsache, dass Helfen wirksam gelehrt werden kann. Wie Psychologen herausgefunden haben, neigen Kinder, denen im Fernsehen altruistische Charaktere vorgeführt werden, dazu, diese nachzuahmen. Und weil auch im wirklichen Leben vorbildlich soziales Verhalten oft ansteckend wirkt, tendiert jede Zunahme an Hilfsbereitschaft dazu, sich selbst zu verstärken.

Könnte ein freundlicheres Milieu letzten Endes die Hilfsbereitschaft der New Yorker erhöhen? Immerhin führt diese Stadt einen für die gesamten USA gültigen Trend an und erfreut sich gegenwärtig einer Welle sinkender Kriminalität: Der Statistik zufolge fügen weniger New Yorker einander Verletzungen zu als in der jüngsten Vergangenheit. Könnte weniger Furcht vor Straßenkriminalität mehr Menschen veranlassen, einander Hilfe anzubieten – auch Fremden? Unsere Experimente behandeln zeitliche Veränderungen nicht, aber ich vermute, dass sich wenig ändern wird. Aus der geringeren Anzahl von Übeltätern folgt schließlich nicht unbedingt, dass mehr Altruismus praktiziert wird. Und ich habe wenig Zweifel, dass der Betrunkene, um den die Passanten einen Bogen machten, als ich sechs Jahre alt war, heutzutage noch weniger Hilfe von einem Fremden zu erwarten hätte.

Vor einem Jahrhundert dachte der Schriftsteller John Habberton vielleicht an die New Yorker, als er schrieb: "Nirgends in der Welt gibt es mehr hilfsbereite Herzen mit reichlich Geld im Hintergrund als in großen Städten, und doch gibt es nirgends sonst mehr Leid." Vielleicht leben dort barmherzige Samariter in großer Zahl, verstecken sich aber hinter schützenden Wänden. Für Fremde, die Hilfe brauchen, würde das wenig Unterschied machen, denn Gedanken sind weniger wichtig als Taten.

Literaturhinweise


Cross-cultural Differences in Helping Strangers. Von R.V. Levine et al. in: Journal of Cross-cultural Psychology, Bd. 32, S. 543 (2001).

The Pace of Life in 31 Countries. Von R.V. Levine und A. Norenzayan in: Journal of Cross-cultural Psychology, Bd. 30, S. 178 (1999).

A Geography of Time. Von R.V. Levine. Basic Books, New York 1997.

Helping in 36 U.S. Cities. Von R.V. Levine et al. in: Journal of Personality and Social Psychology, Bd. 67, S. 69 (1994).

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 26
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