Tagebuch: Jeder sein kleiner Simulations-Entwickler
Als kleiner Bruder hat man es immer schwer, aus dem Schatten des älteren herauszutreten. Vor allem, wenn es sich bei dem großen Bruder um Stephen Wolfram handelt, den Schöpfer des monumentalen Softwarepakets "Mathematica", Chef der zugehörigen Firma Wolfram Research, Inc. und Autor des Buchs "A new kind of science", in dem er die ganze Wissenschaft umkrempeln und vom Konzept des zellulären Automaten aus neu aufbauen wollte.
Der kleine Bruder Conrad arbeitet auch noch in derselben Firma. Aber er bezeichnet sich unverdrossen als die neue, verbesserte Auflage seines großen Bruders ("a new, improved update"). Und als "Director of Strategic Business Development" hat er uns eine Menge zu erzählen auf der "Germany Mathematica Tour", mit der er drei deutsche Städte im Eintagestakt bereist.
In Darmstadt dominieren in Ehren ergraute Fachhochschulprofessoren das Bild. Aber das sei ganz untypisch; bei der gleichen Veranstaltung in Berlin und München habe der Altersduchschnitt sicher 15 Jahre darunter gelegen, sagen die Leute, die dabei waren.
Seit seiner Markteinführung 1988 hat sich "Mathematica" zum weltweit umfangreichsten, universellsten (und teuersten) Softwaresystem für Mathematik entwickelt. Sein Kerngeschäft sind algebraische Berechnungen; inzwischen haben sich das Lösen von Gleichungen aller Art mit allen Mitteln, die Grafik und vor allem das numerische Rechnen zu gleich bedeutenden Standbeinen entwickelt (Spektrum der Wissenschaft 2/2000, S. 100, und Spezial 4/2003 "Omega", S. 52, siehe die Links unter "Zum Thema" auf der linken Seite).
"Mathematica ist – unter anderem – eine Programmiersprache, aber sie funktioniert mehr wie eine gesprochene Sprache." Will sagen: Es ist weder notwendig noch überhaupt möglich, alle Wörter der Sprache zu kennen. Ein Grundwortschatz genügt, um sich einigermaßen durchzuschlagen, und die anderen Wörter guckt man bei Bedarf eben nach. Neue Wörter hinzuzufügen ist keine Kunst und tut der Grundstruktur der Sprache keinen Abbruch. Die ist von den Anfängen an unverändert geblieben – eine kleine Ewigkeit in der schnelllebigen Softwarebranche. Aber inzwischen gibt es mehrere tausend eingebaute Funktionen.
Die Versionszählung ist zur Zeit bei 5.2; die Unterschiede zu Version 5.1 liegen im Wesentlichen in der Rechenleistung und der Anpassung an die größeren Workstations – Verbesserungen, die der Kleinkunde kaum bemerken kann. Da überrascht uns Conrad Wolfram mit der Ankündigung, dass Version 6 nicht mehr lange auf sich warten lassen wird – und völlig neue Möglichkeiten zu bieten hat.
Das ist selbstverständlich ganz inoffiziell. Die Zahl 6 will man eigentlich nicht genannt haben; denn man sieht sich noch nicht in der Lage, einen Auslieferungstermin zu nennen. "Debugging is basically indeterministic"; beim Fehlerausbessern ist mit den größten Überraschungen zu rechnen.
Aber wenn es funktioniert, dann gibt es eine neue Funktion namens "Manipulate". Die tut nichts weniger, als an eine im Prinzip fertige Rechenmaschine einen zusätzlichen Knopf anzubauen, an dem man auch noch drehen kann. Die Software übernimmt es, diesem Zusatzknopf die richtige Gestalt zu geben, als Schiebebalken, Kästchen zum Ankreuzen oder Fadenkreuz. Ein Mausklick auf dieses Symbol, und die ganze Rechnerei wird mit dem neuen Parameterwert wiederholt, Funktionsgraphen deformieren sich, Hüllkurven von überlagerten Schwingungen zappeln, Trajektorien hüpfen von einem Gleichgewichtspunkt zum anderen, und das alles in Echtzeit. Für diese eindrucksvolle Leistung braucht es nicht nur schnelle Prozessoren; auch der Ablauf der Programms im Hintergrund will optimiert werden, was zehn Jahre Vorbereitungszeit erfordert hat. Damit gerät eine neue Lösung für die größte Schwäche von Mathematica ins Blickfeld.
Das Problem ist: Ein bisschen Mathematica gibt es nicht. Man muss das ganze Paket kaufen und vor allem den Umgang damit erlernen, und der ist gewöhnungsbedürftig. Immerhin kann bisher schon, wer Mathematica hat und kann, die Unkundigen und Habenichtse die Ergebnisse seiner Bemühungen mit dem Programm "MathReader" abspielen lassen. Mit der Funktion "Manipulate" mausert sich nun der Konsument vom passiven Betrachter zum interaktiven Spieler, was es wiederum für den Könner interessant und relativ einfach macht, solche interaktiven Programme zu schreiben, die auch ohne die Vollversion von Mathematica nutzbar sind.
Auf den Erfolg des neuen Modells darf man gespannt sein.
Christoph Pöppe
Der kleine Bruder Conrad arbeitet auch noch in derselben Firma. Aber er bezeichnet sich unverdrossen als die neue, verbesserte Auflage seines großen Bruders ("a new, improved update"). Und als "Director of Strategic Business Development" hat er uns eine Menge zu erzählen auf der "Germany Mathematica Tour", mit der er drei deutsche Städte im Eintagestakt bereist.
In Darmstadt dominieren in Ehren ergraute Fachhochschulprofessoren das Bild. Aber das sei ganz untypisch; bei der gleichen Veranstaltung in Berlin und München habe der Altersduchschnitt sicher 15 Jahre darunter gelegen, sagen die Leute, die dabei waren.
Seit seiner Markteinführung 1988 hat sich "Mathematica" zum weltweit umfangreichsten, universellsten (und teuersten) Softwaresystem für Mathematik entwickelt. Sein Kerngeschäft sind algebraische Berechnungen; inzwischen haben sich das Lösen von Gleichungen aller Art mit allen Mitteln, die Grafik und vor allem das numerische Rechnen zu gleich bedeutenden Standbeinen entwickelt (Spektrum der Wissenschaft 2/2000, S. 100, und Spezial 4/2003 "Omega", S. 52, siehe die Links unter "Zum Thema" auf der linken Seite).
"Mathematica ist – unter anderem – eine Programmiersprache, aber sie funktioniert mehr wie eine gesprochene Sprache." Will sagen: Es ist weder notwendig noch überhaupt möglich, alle Wörter der Sprache zu kennen. Ein Grundwortschatz genügt, um sich einigermaßen durchzuschlagen, und die anderen Wörter guckt man bei Bedarf eben nach. Neue Wörter hinzuzufügen ist keine Kunst und tut der Grundstruktur der Sprache keinen Abbruch. Die ist von den Anfängen an unverändert geblieben – eine kleine Ewigkeit in der schnelllebigen Softwarebranche. Aber inzwischen gibt es mehrere tausend eingebaute Funktionen.
Die Versionszählung ist zur Zeit bei 5.2; die Unterschiede zu Version 5.1 liegen im Wesentlichen in der Rechenleistung und der Anpassung an die größeren Workstations – Verbesserungen, die der Kleinkunde kaum bemerken kann. Da überrascht uns Conrad Wolfram mit der Ankündigung, dass Version 6 nicht mehr lange auf sich warten lassen wird – und völlig neue Möglichkeiten zu bieten hat.
Das ist selbstverständlich ganz inoffiziell. Die Zahl 6 will man eigentlich nicht genannt haben; denn man sieht sich noch nicht in der Lage, einen Auslieferungstermin zu nennen. "Debugging is basically indeterministic"; beim Fehlerausbessern ist mit den größten Überraschungen zu rechnen.
Aber wenn es funktioniert, dann gibt es eine neue Funktion namens "Manipulate". Die tut nichts weniger, als an eine im Prinzip fertige Rechenmaschine einen zusätzlichen Knopf anzubauen, an dem man auch noch drehen kann. Die Software übernimmt es, diesem Zusatzknopf die richtige Gestalt zu geben, als Schiebebalken, Kästchen zum Ankreuzen oder Fadenkreuz. Ein Mausklick auf dieses Symbol, und die ganze Rechnerei wird mit dem neuen Parameterwert wiederholt, Funktionsgraphen deformieren sich, Hüllkurven von überlagerten Schwingungen zappeln, Trajektorien hüpfen von einem Gleichgewichtspunkt zum anderen, und das alles in Echtzeit. Für diese eindrucksvolle Leistung braucht es nicht nur schnelle Prozessoren; auch der Ablauf der Programms im Hintergrund will optimiert werden, was zehn Jahre Vorbereitungszeit erfordert hat. Damit gerät eine neue Lösung für die größte Schwäche von Mathematica ins Blickfeld.
Das Problem ist: Ein bisschen Mathematica gibt es nicht. Man muss das ganze Paket kaufen und vor allem den Umgang damit erlernen, und der ist gewöhnungsbedürftig. Immerhin kann bisher schon, wer Mathematica hat und kann, die Unkundigen und Habenichtse die Ergebnisse seiner Bemühungen mit dem Programm "MathReader" abspielen lassen. Mit der Funktion "Manipulate" mausert sich nun der Konsument vom passiven Betrachter zum interaktiven Spieler, was es wiederum für den Könner interessant und relativ einfach macht, solche interaktiven Programme zu schreiben, die auch ohne die Vollversion von Mathematica nutzbar sind.
Auf den Erfolg des neuen Modells darf man gespannt sein.
Christoph Pöppe
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