Tagebuch: Nachruf auf Martin Gardner
Als ich als Schüler das Buch "Mathematische Rätsel und Probleme" (2., verbesserte Auflage, Vieweg, Braunschweig 1966) in die Finger bekam, sagte mir der Name des Autors Martin Gardner noch nichts. Aber den Inhalt fand ich faszinierend. Ich bastelte mir ein Brett für das Spiel "Hex" (und musste feststellen, dass ich auch mit viel Üben nicht gegen meinen Mathematiklehrer ankam), klebte mir Holzwürfel zu einem Soma-Spiel zusammen und grübelte endlos über das merkwürdige Duell von Smith (perfekter Schütze), Brown (80 Prozent Trefferwahrscheinlichkeit) und Jones (50 Prozent), bei dem ausgerechnet der schlechteste Schütze Jones die höchste Überlebenswahrscheinlichkeit hat.
Ein paar Jahre später geriet ich an Conways "Game of Life" und programmierte eifrig damit herum. Erst im Nachhinein erfuhr ich, dass Gardner es war, der das Spiel – im "Scientific American" – populär gemacht und damit einen merklichen Produktivitätseinbruch in der EDV-Branche ausgelöst hatte, weil die wenigen, die damals überhaupt Zugang zu einem Computer hatten, "Game of Life" spielten, statt ihrer Arbeit nachzugehen.
Seinen Wissenschaftszweig quasi selbst erschaffen
Martin Gardner ist eine absolute Ausnahmefigur. 25 Jahre lang, von 1956 bis 1981, schrieb er die Kolumne "Mathematical Games" im "Scientific American". Aufgearbeitet und um die Beiträge des Publikums ergänzt, sind sie in zahlreichen Büchern wiederzufinden. In ihren frühen Jahren hatte die Zeitschrift "Spektrum der Wissenschaft" die Ehre, Gardners letzte Werke unter dem Titel "Mathematische Spielereien" auf Deutsch zu veröffentlichen.
Zu Beginn seiner Tätigkeit musste er sich seinen Wissenschaftszweig quasi erst selbst erschaffen. Dass Mathematik mit Spiel und Spaß zu tun haben könnte, hatte sich vor ihm nur einer Handvoll Autoren erschlossen. Aber Gardner fand sein Publikum! Ich weiß inzwischen, dass ich kein Einzelfall bin. Viele Leute verdanken ihre Zuneigung zur Mathematik einem Beitrag von ihm, haben sich mit seinen Problemen intensiv auseinandergesetzt und tun das zum Teil bis heute. Seit 1996 treffen sich seine Fans regelmäßig alle zwei Jahre zu "Gatherings for Gardner" über eines seiner Themen, und der wissenschaftliche Ertrag dieser Treffen hat schon manches Buch gefüllt. Er selbst hat seine Tätigkeit in dem Artikel Ein Vierteljahrhundert Unterhaltungsmathematik (Spektrum der Wissenschaft 11/1998, S. 112; kostenfrei) zusammengefasst.
Etliche wissenschaftliche Entwicklungen sind durch eine Kolumne in den "Mathematical Games" angestoßen worden. Das gilt nicht nur für das "Game of Life", mit dem die zellulären Automaten zu neuem Leben erwachten, eine Entwicklung, die in dem Monumentalwerk "A new kind of science" von Stephen Wolfram gipfelte. Auch die Kryptografie mit veröffentlichtem Schlüssel (public-key cryptography) hat Gardner im August 1977 als Erster dem allgemeinen Publikum präsentiert.
Massenhaft mit Penrose-Mustern gespielt
Und natürlich die Penrose-Parkette! Bis zum Erscheinen des Buches "Tilings and Patterns" von Grünbaum und Shephard 1987 war Gardners Artikel (Spektrum der Wissenschaft 11/1979) die einzige leicht zugängliche Quelle. Und die Leser haben nicht nur massenhaft mit Penrose-Mustern gespielt; sie hatten damit auch eine geeignete Theorie an der Hand, als die Physiker die Quasikristalle entdeckten und nun zu verstehen versuchten (Die verborgene Ordnung der Quasikristalle, Spektrum der Wissenschaft 2/2002, S. 64).
Die meisten Leserbriefe erntete Gardner mit seinem Aprilscherzartikel von 1975. Tausende von Lesern haben ihm den wildesten Unfug geglaubt. Na ja, eπ√163 ist zwar nicht wirklich eine ganze Zahl, aber man muss schon mehr als zwölf Stellen hinterm Komma berechnen, um das zu merken.
"I trust you"
Der erfolgreichste Mathematik-Kolumnist aller Zeiten hat keine Mathematik studiert! Möglicherweise, so er selbst in mehreren Interviews, war das in gewisser Hinsicht sogar hilfreich. Wer so lange fragen muss, bis er einen mathematischen Sachverhalt verstanden hat, begeht nicht so leicht den Fehler, über die Köpfe seiner Leser hinweg zu schreiben.
Ein einziges Mal hatte ich direkten Kontakt mit ihm: Im Sommer 2007 gab er mir telefonisch ("I trust you") die Erlaubnis, seine Rezension des Buches "I am a strange loop" von Douglas R. Hofstadter (der 1981 seine Kolumne übernahm) einzudeutschen und zu veröffentlichen (Können strange loops das Bewusstsein erklären?, Spektrum der Wissenschaft 9/2007, S. 93).
Am 22. Mai dieses Jahres ist Martin Gardner im gesegneten Alter von 95 Jahren gestorben.
Haben sich auch seine "Mathematischen Spielereien" überlebt? Das sieht leider ganz so aus. Es ist schon sehr merkwürdig: In der öffentlichen Wahrnehmung gelten die sechziger und – etwas weniger – die siebziger Jahre als eher humorlos. Die Spaßgesellschaft brach so richtig erst aus, als Gardner sich schon zur Ruhe gesetzt hatte. Aber den Spaß an der Mathematik haben die Väter weit zahlreicher und lustvoller betrieben als die Söhne. Das Gerät, mit dem man jede Menge spaßige Mathematik betreiben kann, ist mittlerweile massenhaft verbreitet – und wird für diesen Zweck kaum noch genutzt. "Computer-Kurzweil" (so hieß der Nach-Nachfolger der "Mathematischen Spielereien") hat an Attraktivität verloren.
Dass Mathematik wichtig und karrierefördernd ist, hat sich mittlerweile sogar sehr intensiv herumgesprochen. Dass das Spielerische ein wesentlicher (und erfreulicher) Aspekt dieser Wissenschaft ist: Das ist dabei etwas in Vergessenheit geraten.
Genug des Kulturpessimismus! Ich werde versuchen, Ihnen den Spaß an der Mathematik immer wieder (in Form "Mathematischer Unterhaltungen") nahezubringen – auch wenn ich nie das Format eines Martin Gardner erreichen werde.
Christoph Pöppe ist Mathematikredakteur bei Spektrum der Wissenschaft.
Ein paar Jahre später geriet ich an Conways "Game of Life" und programmierte eifrig damit herum. Erst im Nachhinein erfuhr ich, dass Gardner es war, der das Spiel – im "Scientific American" – populär gemacht und damit einen merklichen Produktivitätseinbruch in der EDV-Branche ausgelöst hatte, weil die wenigen, die damals überhaupt Zugang zu einem Computer hatten, "Game of Life" spielten, statt ihrer Arbeit nachzugehen.
Seinen Wissenschaftszweig quasi selbst erschaffen
Martin Gardner ist eine absolute Ausnahmefigur. 25 Jahre lang, von 1956 bis 1981, schrieb er die Kolumne "Mathematical Games" im "Scientific American". Aufgearbeitet und um die Beiträge des Publikums ergänzt, sind sie in zahlreichen Büchern wiederzufinden. In ihren frühen Jahren hatte die Zeitschrift "Spektrum der Wissenschaft" die Ehre, Gardners letzte Werke unter dem Titel "Mathematische Spielereien" auf Deutsch zu veröffentlichen.
Zu Beginn seiner Tätigkeit musste er sich seinen Wissenschaftszweig quasi erst selbst erschaffen. Dass Mathematik mit Spiel und Spaß zu tun haben könnte, hatte sich vor ihm nur einer Handvoll Autoren erschlossen. Aber Gardner fand sein Publikum! Ich weiß inzwischen, dass ich kein Einzelfall bin. Viele Leute verdanken ihre Zuneigung zur Mathematik einem Beitrag von ihm, haben sich mit seinen Problemen intensiv auseinandergesetzt und tun das zum Teil bis heute. Seit 1996 treffen sich seine Fans regelmäßig alle zwei Jahre zu "Gatherings for Gardner" über eines seiner Themen, und der wissenschaftliche Ertrag dieser Treffen hat schon manches Buch gefüllt. Er selbst hat seine Tätigkeit in dem Artikel Ein Vierteljahrhundert Unterhaltungsmathematik (Spektrum der Wissenschaft 11/1998, S. 112; kostenfrei) zusammengefasst.
Etliche wissenschaftliche Entwicklungen sind durch eine Kolumne in den "Mathematical Games" angestoßen worden. Das gilt nicht nur für das "Game of Life", mit dem die zellulären Automaten zu neuem Leben erwachten, eine Entwicklung, die in dem Monumentalwerk "A new kind of science" von Stephen Wolfram gipfelte. Auch die Kryptografie mit veröffentlichtem Schlüssel (public-key cryptography) hat Gardner im August 1977 als Erster dem allgemeinen Publikum präsentiert.
Massenhaft mit Penrose-Mustern gespielt
Und natürlich die Penrose-Parkette! Bis zum Erscheinen des Buches "Tilings and Patterns" von Grünbaum und Shephard 1987 war Gardners Artikel (Spektrum der Wissenschaft 11/1979) die einzige leicht zugängliche Quelle. Und die Leser haben nicht nur massenhaft mit Penrose-Mustern gespielt; sie hatten damit auch eine geeignete Theorie an der Hand, als die Physiker die Quasikristalle entdeckten und nun zu verstehen versuchten (Die verborgene Ordnung der Quasikristalle, Spektrum der Wissenschaft 2/2002, S. 64).
Die meisten Leserbriefe erntete Gardner mit seinem Aprilscherzartikel von 1975. Tausende von Lesern haben ihm den wildesten Unfug geglaubt. Na ja, eπ√163 ist zwar nicht wirklich eine ganze Zahl, aber man muss schon mehr als zwölf Stellen hinterm Komma berechnen, um das zu merken.
"I trust you"
Der erfolgreichste Mathematik-Kolumnist aller Zeiten hat keine Mathematik studiert! Möglicherweise, so er selbst in mehreren Interviews, war das in gewisser Hinsicht sogar hilfreich. Wer so lange fragen muss, bis er einen mathematischen Sachverhalt verstanden hat, begeht nicht so leicht den Fehler, über die Köpfe seiner Leser hinweg zu schreiben.
Ein einziges Mal hatte ich direkten Kontakt mit ihm: Im Sommer 2007 gab er mir telefonisch ("I trust you") die Erlaubnis, seine Rezension des Buches "I am a strange loop" von Douglas R. Hofstadter (der 1981 seine Kolumne übernahm) einzudeutschen und zu veröffentlichen (Können strange loops das Bewusstsein erklären?, Spektrum der Wissenschaft 9/2007, S. 93).
Am 22. Mai dieses Jahres ist Martin Gardner im gesegneten Alter von 95 Jahren gestorben.
Haben sich auch seine "Mathematischen Spielereien" überlebt? Das sieht leider ganz so aus. Es ist schon sehr merkwürdig: In der öffentlichen Wahrnehmung gelten die sechziger und – etwas weniger – die siebziger Jahre als eher humorlos. Die Spaßgesellschaft brach so richtig erst aus, als Gardner sich schon zur Ruhe gesetzt hatte. Aber den Spaß an der Mathematik haben die Väter weit zahlreicher und lustvoller betrieben als die Söhne. Das Gerät, mit dem man jede Menge spaßige Mathematik betreiben kann, ist mittlerweile massenhaft verbreitet – und wird für diesen Zweck kaum noch genutzt. "Computer-Kurzweil" (so hieß der Nach-Nachfolger der "Mathematischen Spielereien") hat an Attraktivität verloren.
Dass Mathematik wichtig und karrierefördernd ist, hat sich mittlerweile sogar sehr intensiv herumgesprochen. Dass das Spielerische ein wesentlicher (und erfreulicher) Aspekt dieser Wissenschaft ist: Das ist dabei etwas in Vergessenheit geraten.
Genug des Kulturpessimismus! Ich werde versuchen, Ihnen den Spaß an der Mathematik immer wieder (in Form "Mathematischer Unterhaltungen") nahezubringen – auch wenn ich nie das Format eines Martin Gardner erreichen werde.
Christoph Pöppe ist Mathematikredakteur bei Spektrum der Wissenschaft.
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