Verhaltensforschung: Alles gelogen!
"Alles hat Gott ins Leben gerufen, mit Ausnahme der Lüge. Die haben die Menschen erfunden." Diese rabbinische Weisheit zitiert der Anthropologe Volker Sommer vom University College in London gern, wenn er über das scheinbar typisch menschliche Talent zum Schwindeln spricht. Doch schon ein paar Sätze später entkräftet er die Behauptung gleich wieder. Denn Wissenschaftler haben keinen Zweifel mehr daran, dass auch andere Lebewesen Meister im Täuschen und Hinters-Licht-Führen sind. Selbst Pflanzen tricksen, was das Zeug hält – von Tieren gar nicht zu reden. Die Natur scheint voller Betrug zu stecken.
Das neueste Mitglied im Klub der überführten Lügenbarone heißt Santino. Der Schimpanse, der im Zoo von Furuvik in Schweden lebt, ist schon vor ein paar Jahren durch ein ungewöhnliches Hobby aufgefallen: Wenn er seine Stärke und Dominanz unterstreichen wollte, begann er mit Steinen nach Zoobesuchern zu werfen. Und dabei hob er nicht etwa spontan ein paar Brocken auf. Schon Stunden bevor er zum Angriff überging, sammelte er geeignete Steine und brach Betonstücke aus der Befestigung des Geheges. Seine Geschosse deponierte er in Wurfweite in der Nähe des Wassergrabens, der sein Domizil vom menschlichen Publikum trennte. Dann wartete er geduldig ab. Und sobald die ersten Besucher auftauchten, hieß es: Feuer frei!
Für Kognitionsforscher ist das ein hochinteressantes Verhalten. Denn es deutet darauf hin, dass Santino seine Attacken gezielt plant – und zwar noch bevor er den ersten Besucher des Tages zu Gesicht bekommt. Dieses Talent wollten Mathias Osvath von der Universität im schwedischen Lund und Elin Karvonen von der Primaten-Forschungsstation Furuvik genauer untersuchen. Also beobachteten sie eine ganze Saison lang, wie das Tier auf die Besucher des nur im Sommer geöffneten Zoos reagierte.
Steinewerfen leicht gemacht
Zunächst waren Santinos Aktionen nicht besonders subtil, berichten die Forscher im Online-Fachjournal "PloS One": Schreiend, mit gesträubten Haaren und Betonbrocken in den Händen rannte er auf die Menschen zu. Da sich die potenziellen Opfer daraufhin zurückzogen, kam er allerdings nicht zum Werfen. Also änderte er nach mehreren vergeblichen Versuchen sein Verhalten. Er hatte zwar Steine in der Hand, schlenderte aber ohne jedes Anzeichen von Aggression auf sein Publikum zu. Unterwegs fischte er sogar einen Apfel aus dem Wassergraben und biss hinein – die Harmlosigkeit in Person. Umso größer war der Überraschungseffekt, als er in Wurfweite kam und urplötzlich seine Geschosse schleuderte. Geschickt hatte das Tier seine aggressiven Absichten verschleiert, um in eine bessere Angriffsposition zu kommen.
Den Harmlosen zu spielen, war aber nur die erste Stufe seiner neuen Täuschungsstrategie. Als Nächstes ging er dazu über, seine Geschosse nicht mehr deutlich sichtbar am Graben liegen zu lassen. Stattdessen versteckte er sie hinter Baumstämmen oder einem Felsvorsprung. Er legte sogar eigens Heuhaufen an günstigen Stellen an, um weitere Steine darunter zu verbergen. Dann wartete er auf passende Gelegenheiten und begann ohne Vorwarnung zu werfen. Dabei schien Santino durchaus zu wissen, was er tat. Er baute seine Heuverstecke zum Beispiel nie an Stellen, die das Publikum ohnehin nicht einsehen konnte. Wenn er ein Geschoss aus einem Depot holte, verriet er seine Absichten vorher nie durch aggressive Gesten. Und er füllte seine geheimen Arsenale nur dann wieder auf, wenn er sich unbeobachtet glaubte.
Das alles spreche für eine konkrete Täuschungsabsicht, schreiben die Forscher in ihrer Studie. Offenbar kombinieren Schimpansen nicht nur verschiedene Tricks, um ihre Opfer möglichst effektiv an der Nase herumzuführen. Sie planen ihre Betrügereien sogar eine ganze Weile im Voraus und scheinen dabei die Reaktionen anderer voraussehen zu können. Damit ist diese Art von Täuschungsmanöver eine echte geistige Herausforderung.
Trickser in Grün
Intelligenz und Einfühlungsvermögen sind sicher sehr praktisch, wenn man andere übers Ohr hauen will. Nötig sind sie aber nicht unbedingt. In manchen Situationen genügt es auch, sich durch eine geschickte Verkleidung als etwas anderes auszugeben, als man ist. Diesen Trick nutzen einige Pflanzenarten, um ihre Bestäuber anzulocken. So sind verschiedene Orchideen der Gattung Ophrys für ihre ungewöhnlichen Blüten bekannt. Sie imitieren die Form und Farbe, die Behaarung und sogar die Sexuallockstoffe von Insektenweibchen und führen damit paarungswillige Männchen der jeweiligen Arten hinters Licht. Während sich die genarrten Sechsbeiner vergeblich an einer Paarung versuchen, bekommen sie ein Pollenpaket an den Körper geklebt. Damit bestäuben sie dann die nächste Ophrys-Blüte, auf deren Betrug sie hereinfallen.
Andere Gewächse verführen ihre Bestäuber nicht mit sexuellen Reizen, sondern mit einer scheinbar appetitlichen Mahlzeit. Einem solchen Fall von kulinarischem Betrug sind Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena bei einem Aronstab namens Arum palaestinum auf die Spur gekommen. Diese auch als "Schwarze Calla" bekannte Pflanze wächst im Nahen Osten und lässt sich von Taufliegen der Gattung Drosophila bestäuben.
Das Gewächs umwirbt seine fliegenden Helfer mit einem Duftgemisch, das für menschliche Nasen an einen fruchtigen Wein erinnert. Den Analysen der Forscher zufolge enthält die Komposition 14 verschiedene Verbindungen, auf die der chemische Sinn in den Antennen der Tiere anspricht. Besonders stark reagiert das Insektennervensystem dabei auf zwei Substanzen, die Chemiker als 2,3-Butandiolazetat und Acetoinazetat kennen. Die aber sind normalerweise nicht für Blüten typisch, sondern für Essig und Wein – also für Produkte, die Hefepilze mittels alkoholischer Gärung herstellen.
Solche Hefen aber wachsen zum Beispiel auf faulenden Früchten und stehen daher bei vielen Taufliegen ganz oben auf der Speisekarte. Tatsächlich konnten die Tiere in den Experimenten gar nicht unterscheiden, ob sie nun den Duft eines blühenden Aronstabs oder fauliges Obst, Lambruscorotwein oder Balsamicoessig vor sich hatten. In allen Fällen signalisierte ihr Nervensystem: "Es gibt Futter!"
Gibt es aber nicht. "Die Pflanze imitiert nur den Hefeduft, bietet aber noch nicht einmal Hefe als Nahrungsmittel an", erklärt MPI-Mitarbeiter Johannes Stökl, der an der Studie mitgearbeitet hat. Und damit nicht genug: Damit es seine Bestäubungsarbeit auch effektiv erledigt, wird das betrogene Insekt auch noch in der Blüte eingeschlossen. Erst 24 Stunden später öffnet sich das duftende Gefängnis und lässt seinen hungrigen Insassen wieder frei. Mindestens acht verschiedene Drosophila-Arten fallen auf diesen hinterlistigen Trick herein, haben die Forscher herausgefunden – und das vermutlich schon seit Millionen von Jahren.
Falsche Verlockungen
Auch zahlreiche Tiere versuchen, mit ihrem Äußeren und ihrem Geruch falsche Tatsachen vorzuspiegeln. So ahmen harmlose Schwebfliegen und Käfer die Warntracht von Wespen nach, um einen möglichst wehrhaften Eindruck auf ihre Feinde zu machen. Manche Spinnen senden die Sexuallockstoffe von Mottenweibchen in die Nacht und locken damit männliche Falter ins Verderben. Es gibt sogar Tintenfische, die sich als Weibchen verkleiden, um den Attacken eifersüchtiger Rivalen zu entgehen. Das alles ist aber nur das kleine Einmaleins der Täuschung. Wer bloß mit Äußerlichkeiten hinters Licht führt, braucht schließlich keine besonderen Geistesgaben. Kaum ein Käfer dürfte sich darüber im Klaren sein, was sein Feind über seine gefälschte Warntracht denkt. Betrügerisches Verhalten erfordert dagegen oft mehr Raffinesse als Verkleidung.
Manche Vögel versuchen zum Beispiel mit einiger Schauspielkunst, Feinde von ihrem Nest wegzulocken. So täuschen Regenpfeifer, die ihren Nachwuchs bedroht sehen, oft eine Verletzung vor. Sie hinken scheinbar ungeschickt davon und flattern hilflos mit den Flügeln, bis das Raubtier die Verfolgung aufnimmt. Sobald aber genügend Abstand zwischen Feind und Nest liegt, flattern die gefiederten Simulanten kerngesund davon. Diesen Trick setzen die Vögel offenbar durchaus gezielt ein: Sie beginnen nur dann mit ihrer Vorstellung, wenn ein möglicherweise gefährlicher Gegner auf das Nest zusteuert und die Beute im Blick hat. Schaut er dagegen in eine andere Richtung, vertrauen sie lieber auf ihre Tarnung und bleiben still sitzen.
Doch weiß so ein geflügelter Simulant tatsächlich, was er da tut? Ganz klar ist das nicht. Ein Indiz dafür wäre, wenn der Vogel noch andere Täuschungsmanöver auf Lager hätte. Dann könnte er je nach Situation immer neue Strategien aus der Trickkiste zaubern. Doch in dieser Hinsicht scheinen Regenpfeifer ziemlich einfallslos zu sein: Wenn es ans Betrügen geht, wird eine Verletzung vorgetäuscht und fertig. Andere Tricksereien sind jedenfalls bis jetzt nicht bekannt geworden.
Heucheln mit Grips
Die hohe Kunst des einfallsreichen und flexiblen Betrugs scheint demnach nur wenigen Tierarten vorbehalten zu sein. Vor allem die nächsten Verwandten des Menschen haben es in dieser Hinsicht zu beachtlicher Raffinesse gebracht. Denn Santino ist längst nicht der einzige überführte Betrüger der Primatenwelt. Auch viele seiner Artgenossen wissen ihre Absichten geschickt zu verbergen, um anderen eins auszuwischen.
Der bekannte Verhaltensforscher Frans de Waal von der Emory University im US-amerikanischen Atlanta ist sogar davon überzeugt, dass Schimpansen heucheln, um Rache zu nehmen. Im Zoo der niederländischen Stadt Arnheim hat er jedenfalls Aktionen beobachtet, die kaum einen anderen Schluss zulassen. In etlichen Fällen waren dort Weibchen in Konflikte verwickelt gewesen, hatten ihren Gegner aber nicht zu fassen bekommen. Als sich die Lage wieder beruhigt hatte, saßen sie scheinbar ganz entspannt da und luden den Kontrahenten mit freundlichen Gesten zum Näherkommen ein. Aber wehe, wenn der sich blenden ließ: Sobald der Getäuschte in Reichweite kam, packten ihn die haarigen Heuchlerinnen und griffen an.
Doch auch andere Affenarten haben taktische Betrugsmanöver auf Lager – vor allem, wenn es ums Fressen geht. Ein Forscherteam um Federica Amici von der Liverpool John Moores University hat zum Beispiel die diesbezüglichen Fähigkeiten von Geoffroy-Klammeraffen, Hauben-Kapuzineraffen und Javaneraffen unter die Lupe genommen. Bei allen Tests versteckten die Forscher Bananenstücke oder Rosinen vor den Augen eines einzelnen Tiers in verschieden konstruierten Behältern. Dann ließen sie einen überlegenen Artgenossen in den Raum.
Was dessen Anwesenheit bedeutete, war sämtlichen Affen offenbar sofort klar: Wer jetzt die Futterkiste öffnete, würde nicht lange Freude an seinem Leckerbissen haben. Doch der Boss musste ja nicht unbedingt erfahren, dass sich in der undurchsichtigen Box ein appetitlicher Snack befand. Und er brauchte auch nicht zu wissen, wie sich die transparente Kiste öffnen ließ, um an das gut sichtbare Obst im Inneren zu kommen. Um ihr Wissen zu verbergen, hielten sich alle Affen in Anwesenheit des stärkeren Tieres dezent zurück und würdigten die Kisten keines Blicks. Erst wenn sie sich unbeobachtet glaubten, begannen Klammeraffen und Kapuziner, die Verstecke zu leeren.
Die Javaneraffen allerdings hielten sich oft auch dann noch vom Futter fern. Denn bei dieser Art ist die Hierarchie besonders straff organisiert, wer sich Frechheiten gegenüber dem Chef herausnimmt, wird sofort bestraft. Deshalb wagten sich diese Tiere offenbar nicht so recht an ein Betrugsmanöver heran – ganz im Gegensatz zu den beiden anderen Arten, in deren Gesellschaften es lockerer zugeht. Da kann man schon mal einen Bluff riskieren.
"Ich habe überhaupt nichts zu essen!"
Das Talent zum taktischen Betrügen beschränkt sich allerdings nicht nur auf die nähere Verwandtschaft des Menschen. So finden Thomas Bugnyar und seine Kollegen von der Universität Wien und der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau immer wieder erstaunliche Details über die Raffinesse von Kolkraben heraus. Auch den gefiederten Schwindlern geht es dabei häufig ums Fressen.
Wenn die schwarzen Vögel Futter übrig haben, verstecken sie es gern für den nächsten kleinen Hunger. Genauso gern plündern sie allerdings die Depots, die ihre Artgenossen angelegt haben. Wer also später nicht mit knurrendem Magen dasitzen will, muss die Konkurrenz genau im Auge behalten. Umgekehrt sollten aber auch die Plünderer den Besitzer des Verstecks im Blick haben. Sonst könnte der sein Eigentum schließlich mit ein paar schmerzhaften Schnabelhieben verteidigen. Bei ihren Aktionen achten die Tiere deshalb genau darauf, wer sie gerade beobachtet. Und sie wissen auch, ob der Spion tatsächlich etwas sehen kann oder ob seine Sicht durch Hindernisse blockiert ist. All diese Informationen merken sie sich und richten danach ihre Strategien aus.
So halten sich die Vögel immer dann merklich zurück, wenn sie sich im Blickfeld ihrer Artgenossen befinden: Sowohl fürs Verstecken als auch fürs Plündern warten sie gern einen unbeobachteten Moment ab. Solche günstigen Gelegenheiten sind in einem lebhaften Rabentrupp allerdings nicht allzu häufig. Also muss man notgedrungen auch unter den Blicken seiner Gefährten handeln. Und dann sind geschickte Täuschungsmanöver gefragt.
Wenn ein Depot auch der Konkurrenz bekannt geworden ist, leeren es die Vögel oft aus und verbergen den Inhalt heimlich woanders. Manchmal täuschen sie so einen Versteckwechsel allerdings auch nur vor, und in Wirklichkeit bleibt alles an seinem Platz. Das Verwirrspiel, das Kolkraben für ihre gefräßigen Artgenossen anzetteln, erinnert mitunter an die Methoden professioneller Hütchenspieler. Es gibt sogar schwarze Betrüger, die ihre Gefährten gezielt zu einem falschen Versteck locken. Und während die Genarrten dort noch vergeblich suchen, holen sie selbst in aller Ruhe den Snack aus dem richtigen Depot. Wer will da noch behaupten, der Mensch habe die Lüge erfunden?
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