Wissenschaftstheorie: Die Physik - ein baufälliger Turm von Babel
"Ich will wissen, warum die Dinge sind, wie sie sind. Und ich will die fundamentalen Gesetze verstehen, die unser Universum zu dem machen, was es ist." So oder ähnlich würden wohl viele angehende Physiker erklären, was sie bewegt, diese Wissenschaftsdisziplin zu ihrem Beruf zu machen. Wir Physiker wollen schlicht und einfach lernen, wie die Welt funktioniert.
Physik ist die fundamentalste der Naturwissenschaften – so sehen es die Physiker selbst, und diese Sichtweise prägt auch die Art und Weise, wie Physik gelehrt wird. Demzufolge ist das gedankliche Gebäude der Naturbeschreibung, das die Disziplin zu errichten versucht, allumfassend, frei von inneren Widersprüchen, konzeptionell zwingend und über all das hinaus auch noch überwältigend schön. Das Feld der von der Physik erklärbaren und erklärten Phänomene ist weit, und es bildet nichts weniger als die Grundlage der gesamten modernen Zivilisation.
Doch in dem Gebäude zeigen sich Risse. Je weiter ein Physiker auf seinem Berufsweg voranschreitet, als desto auffälliger wird er sie empfinden. Er wird den Schmutz entdecken, der unter den Teppich gekehrt worden ist, und all die Schummeleien und Betrügereien, die auch der Physik nicht fremd sind. Das vermeintlich stabile Bauwerk, so stellt er beunruhigt fest, sieht eher aus wie eine moderne Version von Pieter Bruegels Turm zu Babel – eine heruntergekommene Struktur aus isolierten Modellen, die durch schiefe Erklärungen notdürftig miteinander verbunden sind, kurz eine Monströsität, die himmelwärts taumelt.
Uns allen ist klar, dass noch immer viele grundlegende Fragen unbeantwortet sind. Welcher physikalische Mechanismus steckt hinter der Trägheit der Masse? Besitzt der Raum mehr als drei Dimensionen? Existiert eine Theorie von allem, die die Grundkräfte der Natur in einem gemeinsamen Rahmen beschreibt? Doch schon weit diesseits der Forschungsfront, auf dem Niveau von Vordiplom und Bachelorarbeit, klaffen große Lücken oder gar Abgründe.
Das hindert die Lehrenden allerdings nicht daran, die Themen als vollständig verstanden zu präsentieren. Denn auch sie fürchten die Gefahren, die darin lauern. Diese Vorgehensweise ist intellektuell unredlich und untergräbt genau jene Tugenden, die unabdingbar zur Wissenschaft gehören, nämlich die Dinge zu hinterfragen und Antworten mit einem angemessenen Grad an Skepsis zu betrachten.
In jeder Anfängervorlesung über Physik müssen sich die Studenten schon in den ersten Wochen mit dem Phänomen der Reibung auseinandersetzen. Sie lernen, dass Reibung die Bewegung von Objekten hemmt und durch die mikroskopische Wechselwirkung zweier aneinander entlanggleitender Oberflächen zu Stande kommt. Diese Erklärung erscheint ihnen ziemlich plausibel, ja sogar offensichtlich. Doch unabhängig von den Modellen, die man ihnen präsentiert und die hochtrabend von molekularen Bergen sprechen, die sich gegenseitig den Weg versperren, oder von Laufschuhen, die an der Bahn kleben, erzeugt Reibung Wärme und damit eine Zunahme von Entropie. Damit schafft sie aber auch einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Die zwangsläufige Zunahme der Entropie bei irreversiblen Prozessen, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, ist das einzige Naturgesetz, das diese grundlegende Unterscheidung trifft. Hingegen sind die newtonschen Gesetze, die Gesetze der Elektrodynamik und die der Relativität alle reversibel – für keines spielt es eine Rolle, ob die Uhr des Universums vorwärts- oder rückwärtsläuft. Doch wenn die newtonschen Gesetze tatsächlich das Fundament bilden, dann sollte sich der zweite Hauptsatz der Thermodynamik aus der newtonschen Mechanik herleiten lassen. Das ist aber niemals befriedigend gelungen. Die Unvereinbarkeit des zweiten Hauptsatzes mit den anderen grundlegenden Theorien der Physik bleibt das vielleicht größte Paradoxon der gesamten Disziplin. In den Anfängerkursen lassen es die Dozenten jedoch einfach aus, und die Autoren der Lehrbücher widmen ihm kein einziges Wort.
Der große Schwindel der Einführungsvorlesungen
Und es gibt weitere Probleme. Für einen Physiker besteht die Welt aus Billardkugeln und Schraubenfedern. Eine ideale Feder beispielsweise schwingt bis in alle Ewigkeit. Jeder, der schon einmal eine reale Feder beobachtet hat, weiß indessen, dass diese Ewigkeit in Wirklichkeit nur einige Sekunden andauert. Mathematisch ist das kein Problem: Wir führen einfach einen Reibungsterm in die Federgleichung ein und bringen auf diese Weise Theorie und Beobachtung in Übereinstimmung. Doch der Term wird ad hoc eingeführt, von Hand justiert und nicht näher begründet, quasi aus dem Ärmel geschüttelt. Erklärt er auf irgendeine Weise das Verhalten von Federn? Nicht im Geringsten.
Vielleicht hat unsere Selbstgefälligkeit einfach damit zu tun, dass wir eine plausible Gleichung zu Papier gebracht haben. Tatsächlich glaubten die Physiker lange, die Mathematik sei der Stein von Rosette zur Entschlüsselung der Geheimnisse der Natur. Seit der ungarisch-amerikanische Nobelpreisträger Eugene Wigner (1902–1995) im Jahr 1960 sein berühmtes Essay "The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences" (etwa: "Die unbegreifliche Effizienz der Mathematik in den Naturwissenschaften") veröffentlicht hat, ist diese Ansicht regelrecht zu einem Glaubenssatz geworden.
Doch der Glaube, dass Gott ein Mathematiker ist, dürfte eher das Ergebnis selektiver Wahrnehmung sein. Der große Schwindel der physikalischen Anfängerkurse besteht ja gerade in der Behauptung, dass jedes Problem eine exakte Lösung besäße. Mehr noch: Man erwartet von den Studierenden sogar, dass sie diese Lösung finden, und impft sie dadurch regelrecht mit einer Erwartungshaltung, die kaum etwas mit der Realität zu tun hat. Denn nur verschwindend wenige physikalische Probleme besitzen exakte Lösungen, verglichen mit dem großen Rest. Ein Physiker muss im Verlauf seiner Karriere daher vor allem Näherungslösungen finden – und hoffen, dass sie einigermaßen stimmen.
Unverzichtbarer Bestandteil der ersten Physikvorlesungen ist auch das Pendel. Seine einfachste Variante besteht gerade einmal aus einer Masse, die am Ende eines Fadens hin- und herschwingt. Wendet man die newtonschen Gesetze auf das Pendel an, gelangt man zu einer Gleichung, die sich nur sehr schwer lösen lässt. Wir sagen den Studierenden daher, sie sollen davon ausgehen, dass das Pendel nur kleine Oszillationen ausführt. Mit dieser Vereinfachung lässt sich die Aufgabe leicht erledigen.
Vielleicht hat unsere Selbstgefälligkeit einfach damit zu tun, dass wir eine plausible Gleichung zu Papier gebracht haben.
Tatsächlich ist das ursprüngliche Problem aber nicht nur für Anfänger zu schwierig. Es besitzt gar keine exakte Lösung, jedenfalls nicht in Form "elementarer Funktionen" wie Sinus und Kosinus. In Lehrbüchern für Fortgeschrittene heißt es zwar, es gäbe doch eine. Indessen kann man lange darüber diskutieren, ob das Wort "exakt" für diese Ungeheuer von mathematischen Termen wirklich zutrifft. Spätestens wenn man den Faden durch eine Feder ersetzt, vergeht Physikern die Freude an dem Problem gänzlich.
Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir die reale Welt von ihrer mathematischen Beschreibung unterscheiden müssen. Einstein drückte das im Widerspruch zu Wigner so aus: "Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."
Unendlich große Kräfte gibt es nicht – zumindest hoffen wir das
Diese Maxime sollten sich Dozenten vielleicht zu Herzen nehmen, wenn sie mit ihren Studierenden dann auch über das berühmte newtonsche Gravitationsgesetz sprechen. Eine seltsame Eigenheit bleibt nämlich oft unerwähnt. Gemäß der Gleichung wird die Anziehungskraft zwischen zwei Körpern unendlich groß, wenn sie sich unendlich nahe kommen. Unendlich große Kräfte kommen in der Natur jedoch nicht vor – zumindest hoffen wir das –, weshalb wir diese unerwünschte Singularität mit dem Argument beseitigen, dass reale Objekte eine endliche Größe besitzen. Dann können sich ihre Mittelpunkte einander nie so stark annähern, dass es zu einem Problem käme.
In der Einführungsvorlesung zum Elektromagnetismus lernen die Studenten jedoch auch das coulombsche Gesetz kennen. Es beschreibt die Anziehung zwischen elektrischen Ladungen, und seine Form ist identisch mit der des newtonschen Gesetzes. In der modernen Physik, in der viel von punktförmigen Teilchen wie Elektronen und Positronen die Rede ist, müssen wir uns nun aber wirklich Sorgen über unendliche Kräfte machen. Und es war genau diese Schwierigkeit, die zu den modernen Feldtheorien wie der Quantenelektrodynamik führte.
Vorlesungen über Elektrizität und Magnetismus bergen weitere Mysterien. Einer der Höhepunkte einer Anfängerveranstaltung, zumindest für uns Professoren, ist die Einführung der Maxwell-Gleichungen, in denen diese Phänomene zum Elektromagnetismus vereinigt werden. Einige Vorlesungen später erklären wir den Studenten, dass Licht aus elektrischen und magnetischen Feldern besteht, die senkrecht zueinander schwingen und sich durch den Raum ausbreiten. Und als Nächstes behaupten wir, dass Licht Druck auf Materie ausübt. Dieser Strahlungsdruck ermöglicht beispielsweise die Detonation einer Wasserstoffbombe, erlaubt aber auch, Raumsonden durch Sonnensegel anzutreiben.
Einführende Lehrbücher erklären den Strahlungsdruck üblicherweise so, dass das elektrische Feld einer Lichtwelle Elektronen in eine Richtung beschleunigt und das magnetische Feld sie dann weiter vorantreibt. Diese Erklärung, die sich manchmal noch in der fünften Auflage eines Lehrbuchs findet, ist aber völlig falsch. Will man das Phänomen korrekt erklären, muss man stattdessen auf eine berühmte Ad-hoc-Idee zurückgreifen, nämlich auf das Abraham-Lorentz-Modell.
Beschrieben mit den Mitteln der klassischen Physik liefert das Modell allerdings paradoxe Ergebnisse. Der Versuch, es auf eine solide Grundlage zu stellen, führte wiederum zur Entwicklung der Quantenelektrodynamik. In dieser schließlich finden sich an jeder Ecke Unendlichkeiten, mit denen kein Physiker irgendetwas anfangen kann. Will man sie beseitigen, benötigt man eine weitere Ad-hoc-Prozedur, die so genannte Renormierung. Paul Dirac empfand sie als so abstoßend, dass er die Physik gleich komplett an den Nagel hängte. Zwar hat sich die Theorie seither weiterentwickelt, doch viele Physiker würden wohl Richard Feynman zustimmen, der die Renormierung – als einer ihrer Erfinder – schlicht als Hokuspokus bezeichnete. Hat die Physik also tatsächlich ein adäquates Fundament für all die Weisheit zu bieten, die in Anfängervorlesungen so unbekümmert ausgebreitet wird?
Einer der großen Augenblicke im Leben eines jeden jungen Physikers ist die erste Begegnung mit dem Lagrange-Formalismus. In ihm enthüllt Gott die Wahrheit über die Welt. Seine Wurzeln liegen im alten Griechenland sowie in der im 17. Jahrhundert von Pierre de Fermat geäußerten Idee, dass Licht zwischen zwei Punkten den Weg wählt, der die geringste Zeit in Anspruch nimmt. Dieses fermatsche Prinzip erlaubt unter anderem, das berühmte snelliussche Gesetz der Lichtbrechung herzuleiten. Die Idee, dass die Natur bestimmte Größen zu minimieren versucht, führte schließlich zum "Prinzip der kleinsten Wirkung". Es besagt, dass man nur eine Größe namens "Wirkung" minimieren muss, um – Simsalabim – wie durch ein Wunder die newtonsche Gleichung für ein System zu erhalten. (In klassischen Systemen ist die Wirkung im Wesentlichen definiert als die kinetische Energie minus der potenziellen Energie, was als Lagrange-Funktion bezeichnet wird, multipliziert mit der Zeit. Mit der umgangssprachlichen Bedeutung von Wirkung hat der Begriff nichts zu tun.)
Man weiß oft nicht einmal, ob die Lösung korrekt ist
Die Erkenntnis, dass die newtonschen Gesetze aus dem Prinzip der kleinsten Wirkung folgen, ist Ehrfurcht erregend. Junge Physiker lassen sich sofort davon überzeugen, dass die Wirkung – in logischer Hinsicht, wenn auch nicht in historischer – den newtonschen Gesetzen vorausgeht. Wenn sie sich an die Anfängerübung erinnern, in der sie für ärgerlich komplizierte Systeme aus Seilen und Hebeln die newtonschen Gleichungen formulieren sollten, dann erscheint ihnen dieselbe Übung im Lagrange-Formalismus nun erstaunlich einfach.
Der große Schwindel der Einführungsvorlesungen besteht aber weiterhin in der Unterstellung, dass Probleme exakte Lösungen besitzen. In meinem zweiten Studienjahr sollten wir die Gleichungen für ein Doppelpendel herleiten – für ein Pendel also, das an einem zweiten Pendel aufgehängt ist. Mit dem Lagrange-Formalismus hat man diese Aufgabe schnell erledigt. Was uns damals allerdings nicht gesagt wurde oder vielleicht auch noch gar nicht bekannt war: Das Doppelpendel ist ein chaotisches System. Es ist daher prinzipiell unmöglich, die hergeleiteten Gleichungen auch zu lösen. Was also haben wir bei dieser Aufgabe eigentlich gelernt?
Nichtsdestoweniger funktioniert der Formalismus sehr gut, wenn man ihn auf Standardsysteme anwendet. In solchen Systemen sind die Hebel durch ideale Seile verbunden, die sich nicht dehnen. Unglücklicherweise ist die Lagrange-Methode aber alles andere als simpel, wenn sich die Länge der Seile mit der Zeit verändert. Dann werden die nötigen Korrekturterme so aufwändig, dass sich nahezu jeder Lehrbuchautor erhebliche Fehler leistet – oder diese Szenarien gleich vollständig weglässt. Tatsächlich ist die Situation dermaßen heikel, dass man häufig nicht einmal weiß, ob die gefundene Lösung korrekt ist.
Dies ist keineswegs ein rein akademisches Problem. Einstein betrachtete seine Theorie der Gravitation, die allgemeine Relativitätstheorie, als unvollständig, solange er seine Feldgleichungen nicht aus einer Wirkung herleiten konnte (eine Leistung, die der Mathematiker David Hilbert schließlich fünf Tage vor ihm vollbrachte).
Aus der Relativitätstheorie lassen sich zahlreiche Modelle des Kosmos ableiten, von denen die meisten allerdings in keiner Weise dem realen Universum ähneln. Wie wir aber heute wissen, erhält man für einige dieser Modelle ein falsches Ergebnis, wenn man die zugehörigen Feldgleichungen aus einer Wirkung herleitet. Warum das Verfahren dort versagt und wie es sich korrigieren lässt, ist Gegenstand einer beachtlichen Zahl eher esoterischer Forschungsarbeiten. Soweit ich weiß, erfordern all diese Korrekturen jedoch eine Kenntnis der korrekten Antwort, also der einsteinschen Feldgleichungen.
Moderne Physiker nehmen den Vorrang der Lagrange-Mechanik ernst. Zeitgenössische Praktiker, ob Kosmologen oder Stringtheoretiker, beginnen unvermeidlich damit, für ihre Lieblingstheorie eine Wirkung zu postulieren, aus der sie dann die Gleichungen herleiten. Doch wie können sie sicher sein, die korrekte Lösung gefunden zu haben, wenn sie nicht bereits einen Satz akzeptierter Feldgleichungen besitzen? Diese Frage stellt sich insbesondere dann, wenn sich die Theorie weit von den Experimenten entfernt hat, wie es heute der Fall ist.
Es wäre wenig überraschend, wenn nicht auch die Welt der subatomaren Teilchen und die Quantenphysik Mysterien hervorbringen würde. Und tatsächlich werden wir nicht enttäuscht. So enthält beispielsweise das Standardmodell der Teilchenphysik nicht weniger als 19 frei justierbare Parameter. Das ist eine ganze Menge. "Mit vier Parametern kann ich einen Elefanten anpassen!", soll John von Neumann gesagt haben. An dieser Stelle könnte man auch erwähnen, dass "Schönheit" nicht gerade zu den bevorzugten Begriffen gehört, wenn man über das Standardmodell spricht.
Doch so weit muss man in der Quantenphysik gar nicht gehen, wenn man sich verwirren lassen will. Das Konzept des Spins eines Elektrons spielt in jeder Einführungsvorlesung über Quantenmechanik eine grundlegende Rolle. Spin ist der Fachausdruck für den Eigendrehimpuls des Teilchens. Doch was genau sich hier dreht, wird nie zum Thema gemacht. Einer der Erfinder dieses Konzepts, Wolfgang Pauli, hatte es zunächst sogar wieder verworfen. Denn wenn das Elektron einen endlichen Radius besitzt, worauf einige Experimente hindeuteten, dann müsste es an seiner Peripherie mit Überlichtgeschwindigkeit rotieren. Betrachten wir es hingegen als punktförmig, müssen wir uns ein rotierendes Teilchen mit Radius null vorstellen. Keine leichte Aufgabe, ganz abgesehen von dem Ärger, den uns die damit einhergehenden unendlichen Kräfte bereiten.
Schwierigkeiten unter den Teppich kehren
Für gewöhnlich ignorieren Lehrbücher der Quantentheorie selbst jene Schwierigkeiten, die mitten im Zentrum der Disziplin lauern. Die grundlegendste von ihnen ist das berüchtigte Messproblem. Die Schrödinger-Gleichung, die das Verhalten von Quantensystemen beschreibt, ist ebenso deterministisch wie die newtonsche Gravitation. Doch die Quantenmechanik sagt nur die Wahrscheinlichkeit voraus, mit der ein Experiment ein bestimmtes Ergebnis liefert. Wie ein deterministisches System, in dem das Ergebnis vorherbestimmt ist, just im Augenblick der Messung abrupt zu einem probabilistischen werden kann, ist das große ungelöste Mysterium der Quantentheorie. Doch keines der vielen mir bekannten Lehrbücher über Quantenmechanik erwähnt dieses Problem überhaupt. Ein weit verbreitetes unter ihnen treibt die Ironie gar auf die Spitze: Es enthält ein Kapitel "Messungen", ohne darin das Messproblem zu behandeln.
Gerade die Verfasser von Lehrbüchern über Quantenmechanik sind geschickt darin, konzeptionelle Schwierigkeiten unter den Teppich zu kehren. Vielleicht hängt dies mit ihrem Thema zusammen, das dem gesunden Menschenverstand so sehr widerspricht. Beim berühmten Doppelspalt-Versuch wird dies besonders deutlich. Das Experiment dient im Allgemeinen dazu, den Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts zu illustrieren, und konfrontiert uns direkt mit der Unergründlichkeit der Natur.
Im Grunde ist es ganz einfach: Man lässt einen Lichtstrahl durch ein Paar schmaler Schlitze auf einen Schirm fallen, beobachtet, was passiert, und stellt fest, dass sich Licht einerseits wie eine Welle, andererseits wie ein Teilchen verhalten kann, aber nicht beides gleichzeitig. Dieses große Paradoxon soll uns hier aber nicht interessieren, sondern vielmehr die Tatsache, dass bei der Erklärung des Experiments in Lehrbüchern üblicherweise sowohl klassische Lichtwellen als auch Lichtteilchen – Photonen – eine Rolle spielen. Gewöhnlich kapitulieren die Autoren nämlich bei der Analyse des Experiments. Unweigerlich fangen sie an, über die Intensität des einfallenden Lichts zu schreiben, die ein Maß für die Stärke der elektrischen und magnetischen Felder ist. Dann – nach einem völlig unlogischen Gedankensprung – schreiben sie plötzlich über Photonen und tun so, als besäßen diese quantenmechanischen Objekte elektrische und magnetische Felder. Das ist aber nicht der Fall. Will man das berühmte Experiment tatsächlich akkurat beschreiben, ist ein so genannter kohärenter Zustand erforderlich. Näher als mit dieser raffinierten quantenmechanischen Konstruktion kann man der Beschreibung einer klassischen Lichtwelle nicht kommen.
Tatsächlich verzichten die Lehrbuchautoren sogar völlig auf eine Erklärung des Experiments. "Erklärung" bedeutet in der Physik im Allgemeinen, einen Mechanismus zu finden, der den beobachteten Vorgang kausal in Gang setzt. Zu einem solchen Mechanismus gehören Kräfte. Statt also zu beschreiben, wie das Licht mit den Spalten wechselwirkt, und damit zu erklären, warum es sich wie beobachtet verhält, sagen sie lediglich, dass die Lichtwelle an den Rändern der beiden Spalte bestimmte Bedingungen erfüllen muss, und lassen die dabei auftretenden Kräfte unter den Tisch fallen. Die Ergebnisse stimmen zwar gut mit den Beobachtungen überein. Doch das in diesem Zusammenhang am häufigsten benutzte Verfahren vermeidet nicht nur den Kern des Problems, sondern ist auch noch mathematisch inkonsistent. Ganz zu schweigen davon, dass sich hier ebenfalls in vollem Ausmaß das Messproblem stellt.
Solche Beispiele gibt es in der Physik zuhauf. Statt so zu tun, als ob es sie nicht gäbe, sollten Physiker daher ehrlich bleiben und es gegenüber ihren Studierenden zugeben, wenn sie mit ihren Erklärungen die Abgründe vermeiden. Noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts galt Physik als empfangene Wahrheit – in ihr enthüllte Gott sein Antlitz. Einige Physiker mögen diese Vorstellung weiterhin bewahren. Ich selbst sehe die Physik lieber als eine Sammlung von theoretischen Modellen. Sie beschreiben die Landschaft, sind aber nie die Landschaft selbst. Endgültige Antworten liegen darum schlicht außerhalb unserer Reichweite. Sicher sind die Physiker bei der Beschreibung der Natur weiter vorangekommen als die Vertreter anderer Wissenschaften. Mit Verständnis sollten sie dies aber nicht verwechseln.
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