Mein zweitliebstes Organ
Es gibt viele hervorragende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Hirnforschung. Einer von ihnen ist der renommierte niederländische Hirnforscher Dirk Swaab. Sein aktuelles Buch "Wir sind unser Gehirn" ist ein Muss für alle Studenten der Neurobiologie, der Medizin und der Psychologie – und natürlich auch für alle anderen, die sich für ihre grauen Zellen interessieren.
Swaab bedient sich darin vieler Beispiele und Beobachtungen, um seinen Lesern das Denkorgan näher zu bringen. Dabei verwendet er keine komplizierte Fachsprache, sondern spricht auch über seine Erfahrungen und sein Leben, was einem nicht nur das Thema sehr nahebringt: Man kann sich dadurch wirklich in den Autor hineinversetzen – eine wunderbare persönliche Note.
Der Autor beginnt passend mit den Kindertagen des Hirns, seiner Entwicklung bis zur Geburt und später unter der elterlichen Fürsorge: Wie funktioniert das Zusammenspiel bei der Geburt zwischen Mutter und Kind? Er kommt nach eigenen Untersuchungen dazu, dass das Gehirn des Kindes im Mutterleib erfährt, wann die Nährstoffmenge zu gering wird: Dann leitet es die Geburt ein. Im zweiten Kapitel beginnt Swaab damit, dass die Geschichte eines jeden Menschen bereits im Mutterleib anfängt: Es ist die Geschichte seines Gehirns. Denn bereits im Mutterlieb beginnt seine Formung, die letztendlich unser weiteres Leben prägt. Hier beginnen alle Spuren an den Gehirnzellen, die man anhand der ausgebildeten Transmitter auch später nachverfolgen kann.
Das Buch beschreibt sehr schön, wie Veränderungen des Gehirns in den vielen verschiedenen Lebensphasen eines Menschen mit Veränderung des Verhaltens verbunden sind. Gleichzeitig klärt Swaab auch auf, was passiert, wenn dabei etwas "schiefläuft": Er beschreibt "echte" Fälle, wie Autismus, Schizophrenie, Halluzinationen oder Alzheimer, Fälle, in denen das Gehirn aus dem Rahmen fällt und nicht mehr normal funktioniert. Vieles davon entzieht sich völlig unserer Kontrolle, weil es bereits geentisch angelegt ist.
An anderen Entwicklungen sind wir selbst schuld. Im dritten Kapitel nimmt Swaab deshalb kein Blatt vorm Mund: Er erklärt und schildert eindrucksvoll, welche Wirkungen verschiedene Suchtmittel wie Alkohol und Zigaretten oder Medikamente auf das fetale Gehirn haben. Resultat sind oft schwerwiegende Entwicklungsstörungen bei den Kindern. Im vierten Kapitel geht es um die sexuelle Differenzierung des Gehirns in der Gebärmutter. Genügen da die Einteilung und das Wissen über die Chromosomen? Sind wir tatsächlich weiblich mit zwei X-Chromosomen und ein Mann mit einem X- und einem Y-Chromosomen? Nein, denn auch hier spielen die vielen Hormone und ihre An- oder Abwesenheit eine große Rolle, die sich zwischen Mann und Frau deutlich unterscheiden können. Weitere Themen behandeln die Pubertät, Aggressionen, Gehirn und Bewusstsein, Moralverhalten, das Gedächtnis oder die Verknüpfungen von Gehirn und Religion.
Swaab "schont" seine Leser dabei nicht und bringt auch unangenehme Fakten: Erschreckend ist zum Beispiel die Tatsache, dass seit dem Zweiten Weltkrieg etwa 400 Boxer totgeschlagen wurden, und das in aller Öffentlichkeit. Darüber regt sich niemand auf, wohl aber über vermeintlich oder tatsächlich aggressive Computerspiele. Kritikwürdig ist aber seine Aussage, dass der allgegenwärtige Spruch "Wer rastet, der rostet" nicht stimmt. Denn jeder Sport, außer Denksport, sei nicht gesund, da stets Verletzungen die Folge sind. Daher empfiehlt Swaab Schach als einzigen Sport.
In den Niederlanden stand das Werk monatelang auf der Bestsellerliste. Kein Wunder: Mit seinem wunderbaren Schreibstil und seiner Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse über unser Denkorgan weiterzugeben, ohne mit der sonst in solchen Lektüren üblichen Vermittlung von Grundlagen zu den anatomischen und physiologischen Gegebenheiten unseres Gehirns zu langweilen, fesselt er den Leser von der ersten bis zur letzten Seite. Ich schließe das Buch mit der Erkenntnis, dass ich mich selbst erst dann richtig verstehe und kenne, wenn ich mein Gehirn kenne. Ob das in diesem Leben noch gelingen wird, wage ich zu bezweifeln. Aber "Wir sind unser Gehirn" hat mir viele neue Türen zum Nachdenken eröffnet.
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