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Pflichtlektüre für Entscheider

Die Überraschung ist groß. Da hat sich ein in der Energiebranche unbekannter Technikjournalist darangemacht, die Energiewende zu hinterfragen! Seit Jahren verfolgen Experten, Unternehmer, Umweltaktivisten und Politiker ihre eigenen Positionen. Und nun legt dieser Grünschnabel mit seinem unscheinbaren Buch die gewaltige Herausforderung offen und hinterfragt Lösungswege.

Eigentlich wollte Johannes Winterhagen zu Beginn seiner mehrjährigen Recherche nur in Erfahrung bringen, wie eine umweltfreundliche Energieversorgung in der Zukunft aussehen könnte – wissend, dass für den fortschreitenden Klimawandel der CO2-Anstieg in der Atmosphäre verantwortlich ist. Doch unmittelbar nach Fukushima überholte ihn die politische Dynamik. Kanzlerin Merkel rief den Ausstieg aus der Atomkraft und die Energiewende aus. So bekam sein Vorhaben aktuelle Brisanz und einen neuen Fokus.

Weil Winterhagen stets auf dem Boden der Fakten bleibt, liefert er das wahrscheinlich Beste zur Energie der Zukunft, das derzeit im Angebot ist – für den interessierten Laien wie für den Fachmann, der die Übersicht behalten will. Nüchtern und gleichwohl spannend analysiert er das Problem und bietet allen Lösungsvarianten genügend Raum. Er bleibt neutral, versucht nicht, ins Blaue zu spekulieren oder gar die einzig beste Lösung aus dem Hut zu zaubern.

Nebenbei ist das Werk ein bisschen Abenteuerbuch für Jugendliche, denn Winterhagen geht an vielen Stellen auf die Fragen seiner Kinder ein, denen er das Werk auch gewidmet hat. Nach der Einführung mit Jim Knopf und der Wilden 13 geht es um den wissenschaftlichen Wettlauf, den sich Julius Robert von Mayer (1814 – 1878) und James Prescott Joule (1818 – 1869) in den 1840er Jahren um die Entdeckung des Energieerhaltungssatzes lieferten.

Bis heute hat sich ihre Erkenntnis noch nicht überall herumgesprochen: Jedes Jahr werden hunderte neue Erfindungen zum Patent angemeldet, die auf ein Perpetuum mobile hinauslaufen, also eine Maschine, die aus dem Nichts neue Energie gewinnt und so die Menschheit beglückt. Tragisch, dass so etwas unmöglich ist. Winterhagen hat Recht: Wenn dies gelänge, wäre sein Buch entbehrlich – und die Energiewende sowieso.

Die größte Stärke des Autors ist unzweifelhaft die Ausgewogenheit, mit der er die vielfältigen Energieformen und ihre Umwandlungen im Einzelnen vorstellt. Völlig unaufgeregt, nahezu wissenschaftlich legt er Vor- und Nachteile offen, macht deutlich, dass "Speicherung" immer nur vorübergehend und mit Verlusten behaftet ist.

An der Kapitelfolge kann man den Erkenntnisprozess Winterhagens nachvollziehen. Zuerst widmet er jeder "alternativen Energie" von Wasser- über Windkraft und Fotovoltaik bis hin zu Solar- und Geothermie und schließlich Biomasse ein eigenes Kapitel. Da ihr Hauptproblem die heftig schwankende und kaum vorausberechenbare Verfügbarkeit ist, bespricht er folgerichtig Speichertechnologien und Infrastrukturen, die den fluktuierenden Strom aus erneuerbaren Energien zwischenlagern und zur richtigen Zeit am richtigen Ort bereitstellen sollen.

Hier spielt das Elektroauto als virtueller, verteilter Speicher im Smart Grid, dem intelligenten Stromnetz der Zukunft, eine wesentliche Rolle. Wären die 50 Millionen Pkws auf unseren Straßen alle mit einer ordentlichen Batterie von 200 Kilowattstunden Speicherkapazität ausgerüstet, könnten sie "eine knappe Woche lang Deutschland fast allein mit Strom versorgen und so auch eine längere Windflaute bei gleichzeitigem heftigem Schneefall überbrücken".

Hier wie an anderen Stellen begnügt sich Winterhagen nicht mit technischen Beschreibungen und Rechnungen, sondern geht auch mit Industrie und Politik ins Gericht. "Dass man sich auf Aufholjagd befindet, bestreiten selbst Automanager mit Benzin im Blut nicht." Gemeint ist: Erst haben sie die Entwicklung verschlafen, nun lassen sie sich von der Politik mit Fördergeldern zum Jagen tragen. Zum Ziel der Bundesregierung, bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf die Straße zu bringen, äußert er skeptisch: "Es gilt allerdings als offenes Geheimnis, dass es nicht mehr zu halten ist."

Wasserstoff, Brennstoffzelle, der zehn Millionen teure Druckluftspeicher ADELE, bei dem der Energieversorger RWE die Federführung des EUProjekts hat, oder auch Pumpspeicherwerke: Alle Technologien nimmt sich der Autor der Reihe nach vor. Für die Wasserspeicher fährt er eigens nach Alta in Norwegen, um herauszufinden, ob das Land bereits genügend Energie für ganz Europa speichern könnte. Immerhin erzeugt es 99 Prozent seines Stroms aus Wasserkraft und verfügt über 50 Prozent der europäischen Reservoirkapazitäten. Doch vor Ort muss Winterhagen erkennen, dass die abrufbare Leistung begrenzt ist. Zu schnelles Ablassen der gespeicherten Wassermassen würde die technischen Einrichtungen beschädigen. Quintessenz seiner Interviews: "Die norwegische Batterie könnte uns fünf windstille Tage lang mit 16 GigawattEnergie versorgen" – solange Deutschland der einzige Nachfrager wäre.

Weltweit trifft er Forscher am Arbeitsplatz, besucht amerikanische Solarthermiewerke, Offshore-Windparks in England, Geothermieanlagen in Bayern oder die "energieautarke" Insel Samsø in Dänemark, die trotzdem für alle Fälle ein Stromkabel zum Festland besitzt. Die Reise nach China, wo sich die Energiefrage mit noch größerer Schärfe stellt, steht noch aus. Überhaupt sind seine Reportagen brillant. Dabei versteht er es, exakte Zahlen so geschickt einzubauen, dass der Leser nicht darüber stolpert.

Obgleich die Techniken zu alternativen Energien durch neue Materialien, veränderte Konstruktionen oder effizientere Verfahren noch erheblich an Ertrag zulegen können, werden sie nicht so viel Strom liefern, wie sich die Politik erhofft. Da der Atomausstieg nun besiegelt ist, so die bittere Erkenntnis Winterhagens, müssen wir für die Grundversorgung vorläufig auf fossile Brennstoffe zurückgreifen, mit den bekannten negativen Auswirkungen. Wahrscheinlich werden wir noch viele Jahre und Jahrzehnte mit ihnen leben müssen.

Zum Schluss formuliert Winterhagen sechs Thesen: 1. Energiesparen rettet die Welt nicht; 2. Wind- und Sonnenstrom reichen auf absehbare Zeit nicht aus; 3. Es geht nicht ohne große zentrale Kraftwerke; 4. Neue fossile Kraftwerke sollten Vorfahrt erhalten; 5. Die Energieforschung muss intensiviert werden; 6. Vergessen wir den Konsens! Streiten wir über den Weg! Besonders die letzte These unterstreicht, dass sich alle um die Zukunft der Energie Gedanken machen müssen. Dafür liefert das Buch eine ideale Basis. Es sollte jedem Politiker als Pflichtlektüre empfohlen werden.

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 8/2012

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