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Königsmumien: Streit um Tutanchamun

Schädelmaße, Röntgentechnik, genetische Fingerabdrücke – seit mehr als 100 Jahren rücken Naturwissenschaftler den Königsmumien der 18. Dynastie mit den Hightechmethoden ihrer Zeit zu Leibe. Doch decken sich ihre Erkenntnisse nicht immer mit denen der Ägyptologen.

"Können Sie etwas sehen?", fragte Lord Carnarvon aufgeregt. "Ja", flüsterte Howard Carter. "Wunderbare Dinge!" Der englische Archäologe hatte an diesem denkwürdigen 26. November 1922 die unversehrten Siegel eines Grabs gebrochen, dessen Inhaber bis heute Forschern Rätsel aufgibt: Tutanchamun, der dritte König nach Echnaton. Durch eine kleine Öffnung in der Wand tauchte Carter eine Kerze ins schwarze Dunkel und berichtete seinem Geldgeber, welche Wunder er im schwachen Schein der Flamme erblickte: kostbare Truhen und Schreine, vergoldete Betten, kunstvolle Stühle und Hocker, Statuen aus Ebenholz, Streitwagen und Alabastergefäße – "die Requisitenkammer einer untergegangenen Kultur", wie er später in sein Tagebuch schrieb.

Dieser Artikel stammt aus epoc 4/2012
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Dass Carter diese Ruhestätte nach langen Jahren unermüdlicher Suche im Tal der Könige schließlich finden konnte, "verdankte" er zwei Menschen: zum einen Haremhab, dem letzten Pharao der 18. Dynastie, der alle Erinnerungen an Tutanchamun und die übrigen Herrscher der Amarnazeit auszulöschen versucht hatte. Schon wenig später galt er den Ägyptern als direkter Nachfolger Amenhoteps III. Echnaton, Königin Anchetcheprure, Semenchkare, Tutanchamun und Eje – es war als hätten diese Pharaonen nie existiert. Erst im 19. Jahrhundert stießen Forscher immer wieder auf Hinweise, dass die überlieferten Königslisten nicht vollständig sein konnten. Der millionenschwere Hobbyarchäologe Theodore M. Davis war es dann, der 1907 Tutanchamuns Namen wieder aus dem Dunkel der Geschichte hob. Als er das Tal der Könige nach Gräbern durchkämmte, entdeckte er auch ein Balsamierungsdepot – eine Grube mit Krügen, Mumienbinden, leeren Natronbeuteln und Resten eines Leichenschmauses. Das Ensemble lieferte nicht nur einen deutlichen Hinweis auf ein Grab, sondern auch einige Tonsiegel mit dem Namen des vergessenen Pharaos. Davis hatte dem Fund wenig Beachtung geschenkt und 1912 das Tal mit den Worten verlassen: "Ich fürchte, jetzt ist das Tal der Könige ausgeschöpft". Doch für Carter war klar: Das Grab eines gewissen Tutanchamun harrte noch seiner Entdeckung.

Schon im Schutt vor dessen Ruhestätte "Kings’ Valley" (KV) 62 war Carter auf Gefäßfragmente gestoßen, die den Namen Amenhoteps III., seines Sohns Echnaton, Semenchkares und Tutanchamuns trugen. Ebenso erwiesen sich die unzähligen Beigaben im Innern des Grabs als Abkömmlinge der Amarnakunst: etwa die Rückenlehne eines goldenen Thronsessels, die den Pharao zusammen mit seiner Königin Anchesenamun, einer Tochter Echnatons, unter der Strahlensonne des Aton zeigte. Doch in welcher verwandtschaftlichen Beziehung stand Tutanchamun zu den vielen Figuren der Amarnafamilie? Darüber gaben die Grabbeigaben nicht viel her. Waren womöglich Echnaton und Nofretete seine Eltern gewesen oder brachte ihn eine Nebenfrau zur Welt – oder entstammte er einer Seitenlinie?

Dürftige Quellen

Diese Fragen beschäftigen Ägyptologen seit den 1920er Jahren – und Anthropologen nicht minder. Im Oktober 1925 war Carter nämlich bis zum letzten der drei Goldsärge Tutanchamuns vorgedrungen und blickte schließlich in das Angesicht seiner Mumie. Als Erste untersuchten zwei Ärzte die Überreste und stellten fest, dass Tutanchamun mit 17 oder 19 Jahren gestorben war. Mit ihm ging offenbar die königliche Stammeslinie der 18. Dynastie zu Ende.

Eine Amme stillt das Kind der Nofretete | Eine Amme stillt das Kind der Nofretete – dieses Relief, das heute verloren ist, befand sich einst im Königsgrab von Amarna. In der Inschrift neben der Frau mit dem Säugling wird in der ovalen Kartusche Königin Nofretete als Mutter genannt. Doch wie der Name des Kindes zu deuten ist, darüber streiten Ägyptologen.

Denn aus Inschriften weiß man: Seine Nachfolger Eje und Haremhab waren bürgerlicher Abstammung und vor ihrer Thronbesteigung einflussreiche Würdenträger am Hof Echnatons gewesen, der eine Wesir, der andere Generalissimus. Beide hatten vermutlich als Regenten für den Kindpharao agiert. Die wenigen, meist bruchstückhaften Quellen, die Hinweise auf Tutanchamuns Herkunft liefern, legen Ägyptologen bis heute unterschiedlich aus. Im Fall seines Vaters sind sich die Experten noch recht einig. Aus Amarna etwa stammt ein Relief, auf dem Tutanchamun mit seinem ursprünglichen Namen – Tutanchaton – als Königssohn bezeichnet wird: "Großer lebendiger Aton ... Herr der Erde in der Sonnenschattenkapelle des leiblichen Königssohns Tutanchaton in Achet-Aton." Echnaton ließ so genannte Sonnenschattenkapellen aber nur für die engsten Mitglieder seiner Familie errichten. Dass Echnaton der Vater ist, wird somit wahrscheinlich – obgleich auch der letzte, zeit seines Lebens in Achet-Aton residierende, heute wenig bekannte Pharao Semenchkare als Kandidat in Frage käme. Inzwischen sehen die meisten Fachleute in ihm eher Tutanchamuns Bruder oder Halbbruder, da er vermutlich nur ein dutzend Jahre älter war.

Mumienfamilie aus dem Tal der Könige | 1898 kam im Tal der Könige ein Sammellager königlicher Mumien zu Tage – darunter auch die "Elder Lady" (links), die Mumie eines Jungen und die "Younger Lady" (rechts). Einige Forscher deuten sie als Mitglieder von Echnatons Familie.

Große Unsicherheit herrscht hingegen um Tutanchamuns Mutter. Ägyptologen zogen bislang vor allem zwei Frauen in Betracht: die "Große königliche Gemahlin" Nofretete und die "Gemahlin und Große Geliebte des Königs" Kija. Letztere gebar Echnaton wahrscheinlich eine Tochter. Dass sie die Mutter Tutanchamuns gewesen sein könnte, ergibt sich allerdings erst im Umkehrschluss. Da Nofretete und Echnaton in den Beamtengräbern von Achet-Aton ausschließlich mit Töchtern – insgesamt sechs an der Zahl – dargestellt sind, gibt es schlicht keine Hinweise auf einen Sohn dieser beiden. Neuen Schwung in die Debatte brachte 1999 Marc Gabolde. Der Ägyptologe von der Université Paul Valéry Montpellier III. überprüfte die Inschriften in Echnatons Königsgrab in Tell-el Amarna und kam zu dem Schluss: Es muss ein siebtes Kind gegeben haben! So zeigt ein Relief die Totenklage des Königspaars um seine Tochter Maket-Aton, die schon im Kindesalter starb. In einer Szene nahebei, die mittlerweile leider zerstört ist und heute nur noch auf alten Fotografien studiert werden kann, war aber zudem ein Säugling auf den Armen einer Amme zu sehen. Es war ein Kind der Nofretete, wie es die daneben stehende Inschrift besagt. Doch wo ursprünglich der Name des Kindes stand, war nur noch eine Lücke. In den zur Verfügung stehenden Platz, so Gabolde, passen indes einzig die Hieroglyphen eines Namens: Tutanchaton. Der Forscher glaubte sogar, noch Reste eines der Zeichen identifizieren zu können.

Gaboldes These ließ viele Ägyptologen jubeln – war damit doch endlich belegt, dass Nofretete und Echnaton Tutanchamuns Eltern waren. Andere zweifelten allerdings. "Seine Rekonstruktion ist höchst fragwürdig", konstatiert Jacobus van Dijk, Experte für das Neue Reich an der Rijksuniversiteit in Groningen. Besagten Hieroglyphenrest liest er als das Zeichen, das im Ägyptischen das weibliche Geschlecht kennzeichnet. Und er bemängelt, dass der Sprössling in den Armen der Amme keinen Penis habe, wie es für die Darstellung eines Jungen in der ägyptischen Kunst zu erwarten wäre. "Das Kind ist somit kein Sohn, sondern eine Tochter der Nofretete", meint van Dijk – vielleicht ebenjene verstorbene Maket-Aton. Was an Zeugnissen zu Tutanchamun und seiner Familie die Zeiten überdauerte, liefert also allenfalls Indizien, die sich unterschiedlich auslegen lassen.

"Seine Rekonstruktion ist höchst fragwürdig!"Jacobus van Dijk

Um den Stammbaum der Amarnafamilie aufzudröseln, werten Ägyptologen deshalb nicht nur archäologische Quellen aus, sondern beziehen auch anatomische und molekularbiologische Daten von den königlichen Mumien jener Zeit ein. Dabei rücken die Forscher vor allem vier Mumien aus den Gräbern KV 35 und KV 55 in den Mittelpunkt ihres Interesses. Als der Franzose Victor Loret 1898 in KV 35 das Grab von Pharao Amenhotep II. (1425 – 1400 v. Chr.) entdeckte, stieß er dort auf nicht weniger als 14 Mumien. Wie Aufschriften auf den Mumienbinden verrieten, hatten Amunpriester am Beginn der 21. Dynastie (1076 – 944 v. Chr.) die toten Herrscher dorthin umgebettet, nachdem Grabräuber deren Ruhestätten beraubt und ihre Leichname teilweise zerfleddert hatten. Die Priester wickelten die Körper neu ein und versteckten sie in KV 35. Unter den Toten befanden sich den Aufschriften zufolge auch Amenhotep III. und einige bedeutende Könige der 19. Dynastie. Von ihnen bot Echnatons Vater einen besonders beklagenswerten Anblick. Der Kopf war abgerissen, die Haut vom Gesicht geschabt, der ganze Körper nahezu skelettiert und die Beine waren gebrochen. In einer Seitenkammer von KV 35 lagen noch drei weitere Leichname, denen Loret allerdings keine große Bedeutung beigemessen hatte: die langhaarige, ziemlich ramponierte "Elder Lady", ein Jugendlicher mit der für sein Alter typischen Seitenlocke und die zierliche, aber arg in Mitleidenschaft gezogene "Younger Lady". Ihr fehlte der rechte Arm, die Brust war eingebrochen und am Mund klaffte ein notdürftig mit Binden gestopftes Loch. Die Art und Weise der Mumifizierung verriet erst späteren Forschern, dass diese Toten aus der Königsfamilie um Echnaton stammen mussten.

Zweifel an der Rekonstruktion | Die Deutung der entscheidenden Reliefinschrift aus Echnatons Königsgrab ist auch deshalb umstritten, weil die Szene mittlerweile leider zerstört ist und heute nur noch auf alten Fotografien (rechts) studiert werden kann. In der Lücke, in der ursprünglich der Name des Kindes stand, passen einzig die Hieroglyphen eines Namens: Tutanchaton – meint zumindest eine Streitpartei um Marc Gabolde. Der Forscher glaubt sogar, Reste eines der Zeichen identifizieren zu können. Diese Rekonstruktion hält etwa der Experte Jacobus van Dijk allerdings für "höchst fragwürdig". Er liest besagten Hieroglyphenrest als jenes Zeichen, das im Ägyptischen das weibliche Geschlecht kennzeichnet (siehe seine Rekonstruktionsvariante links) und bemängelt, dass der Sprössling in den Armen der Amme keinen Penis habe, wie es für die Darstellung eines Jungen in der ägyptischen Kunst zu erwarten wäre.

Im Jahr 1975 nahmen die beiden US-amerikanischen Anthropologen James E. Harris und Edward F. Wente die "Elder Lady" genauer unter die Lupe. Der Grund: Ihr linker Arm lag quer über der Brust. "Diese einzigartige Haltung zeigt an, dass sie zu Lebzeiten große Bedeutung besessen hatte – vielleicht war es Königin Hatschepsut oder Teje, die Gemahlin Amenhoteps III." In der Tat wurde Teje so auch in der ägyptischen Kunst dargestellt. Das Sterbealter schätzten Harris und Wente auf 40 bis 50 Jahre, was gut zu Tejes überlieferten Lebensdaten passte. Um Sicherheit zu erlangen, röntgten sie die Dame und verglichen ihre Schädelform mit den Köpfen anderer Mumien aus dem Tal der Könige. Die größte Übereinstimmung ergab sich mit Tuja, Königin Tejes Mutter (die Mumien ihrer Eltern fand man 1905 unberührt in ihren Sarkophagen in der Königsnekropole).

Haarspalterei

Doch Harris und Wente wollten sich weiter absichern: Unter den unzähligen Beigaben in Tutanchamuns Grab fand sich auch ein handgroßer Miniatursarg, der eine geflochtene Haarlocke enthielt. Der Inschrift auf dem Kästchen zufolge stammte sie von der "Großen Königlichen Gemahlin" Teje. Mit Hilfe einer Elektronenstrahlmikroanalyse bestimmten Harris und Wente die chemische Zusammensetzung der Strähne – und wendeten dasselbe Verfahren auf Haare der "Elder Lady" an: "Die Proben stammen von ein- und derselben Person – es ist Königin Teje", befanden die Forscher.

Und die "Younger Lady" aus KV 35? Wer war sie gewesen? Triftige Argumente, dass es sich um die Überreste keiner anderen als Nofretete handeln müsse, sammelte erstmals Joann Fletcher. Die Ägyptologin von der University of York wies 2003 unter anderem auf die Ähnlichkeit der Mumie mit dem Gesicht der Berliner Nofretetebüste hin. Mit ihrer Vermutung überzeugte sie Zahi Hawass, damals Generalsekretär der ägyptischen Altertumsverwaltung. Er erlaubte Fletcher, die Mumien in der Seitenkammer zu röntgen – wo sie damals immer noch aufgebahrt lagen. Dabei erkannte die Forscherin, dass nicht alle Beschädigungen das Werk rücksichtsloser Grabräuber gewesen waren. Vielmehr hatte man die Mundpartie schon kurz nach dem Tod eingeschlagen – womöglich, um die "Younger Lady" als geächtete Person noch um ihr jenseitiges Leben zu bringen. Mit versehrtem Leib hätte sie nämlich nach ägyptischen Vorstellungen im Jenseits nicht existieren können.

In der Seitenkammer von KV 35 fand Fletcher auch zwei lose Arme, die für die fehlende Rechte der Mumie in Frage kamen – der eine war gebeugt, der andere gestreckt, beide aber zu schlecht erhalten, um sie Bruch an Bruch an die Schulter der Mumie anzupassen. Die Ägyptologin ließ daher deren Körperhaltung vermessen und tatsächlich: Der rechte Arm könnte stark angewinkelt gewesen sein. "Sie war in der Haltung eines Pharaos aufgebahrt worden", frohlockte Fletcher. Endgültige Gewissheit über die Identität der Toten lieferte schließlich eine forensische Gesichtsrekonstruktion, die große Ähnlichkeit mit den Bildnissen Nofretetes offenbarte. Doch dann ging die Ägyptologin mit ihrem Fazit an die Öffentlichkeit, ohne Zahi Hawass oder die Altertumsbehörde vorher davon zu unterrichten. Der Generalsekretär entzog ihr kurzerhand die Lizenz. Vier Jahre später präsentierte er die Ergebnisse einer neuen, von ihm beauftragten CT-Untersuchung. Der Befund der Radiologen überraschte allerdings: Die bei ihrem Ableben zirka 25 bis 35 Jahre alte "Younger Lady" war eines unnatürlichen Todes gestorben. Ebenjene schweren Gesichtsverletzungen hatten ihr das Leben gekostet. Sie waren also nicht erst der Mumie beigebracht worden, um das Andenken an die Tote zu tilgen. Zudem stellte sich anhand der gemessenen Knochendichte heraus, dass nicht der gebeugte, sondern der gestreckte, lose Arm zur "Younger Lady" gehörte. Von einer Königinnenpose könne also keine Rede sein. Hawass’ Fazit: "Es gibt keinen überzeugenden Grund, die 'Younger Lady' als Nofretete zu identifizieren."

Den Irritationen um Tutanchamuns Mutter folgten bald neue um die Identität seines Vaters. 2007 ließ Hawass noch ein männliches Skelett mit dem Computertomografen scannen, dessen Identifikation die Ägyptologen bislang entzweit wie kein anderes. Theodore M. Davis hatte es 1907 in KV 55 im Tal der Könige entdeckt. Zunächst war er dort auf einige Beigaben der Amarnazeit gestoßen: vier Eingeweidekrüge, die ursprünglich zur Grabausstattung von Echnatons Nebenfrau Kija gehörten, ein vergoldeter Holzschrein desselben Königs für seine Mutter Teje, Ziegel mit Zaubersprüchen und seinem Namen sowie zahlreiche Siegel Tutanchamuns. Offenbar ließ Letzterer das Grab einrichten – vermutlich für einen seiner Vorgänger. In Frage kommen eigentlich nur sein Vater Echnaton und sein mutmaßlich älterer Bruder Semenchkare. Der bedeutendste Fund zur Klärung dürfte der mit Gold und Glas verzierte Holzsarg aus KV 55 sein, in dem nur mehr das Skelett des Grabinhabers lag. Bestimmten zwei Ärzte vor Ort die Überreste zunächst als Knochen einer älteren Frau, befand der Mumienexperte Grafton Elliot Smith schon 1907: "Es ist der größte Teil des Skeletts eines jungen Mannes, der beim Zeitpunkt seines Todes zirka 25 bis 26 Jahre alt war." Das Sterbealter folgerte Smith daraus, dass an einigen Knochen die Wachstumsfugen noch nicht völlig geschlossen waren. Danach fanden nicht weniger als fünf weitere Untersuchungen statt – alle endeten mehr oder weniger mit demselben Ergebnis: "KV 55" starb als junger Mann, nicht älter als 25. Und das verringerte die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um die Gebeine Echnatons handeln könnte. Mit 17 Regierungsjahren und einer Tochter, die im ersten Herrschaftsjahr zur Welt kam, konnte Echnaton bei seinem Tod nicht viel jünger als Anfang 30 gewesen sein.

Nun kamen wieder die Ägyptologen ins Spiel, um die Identität des Unbekannten zu bestimmen. Aus Inschriften am Sarg konnten sie aber lediglich ablesen, dass dieser ursprünglich für ein Mitglied der Amarnafamilie gefertigt worden war; insbesondere weil alle Kartuschen mit dem Königsnamen fein säuberlich aus den goldenen Schriftzügen herausgetrennt worden waren. 2001 nahmen Münchner Experten den Sarg in Augenschein. Die künstlerische Qualität, die kostbaren Materialien – besonders das dicke Goldblech – und Attribute wie die Uräusschlange und der Götterbart sprächen dafür, dass der Sarg ursprünglich für einen König gemacht wurde; für einen, der in den Inschriften als "das vollendete Kind des lebenden Aton" angerufen wird – und dieser Titel ist bislang nur für Echnaton überliefert. Der Sarg war also offensichtlich für ihn gearbeitet worden. Waren es demnach doch Echnatons Gebeine, die im Sarg aus KV 55 lagen, den anatomischen Befunden zum Trotz?

Nein, sagt Hermann Schlögl, Ägyptologe und Amarnaexperte von der Universität Fribourg. "Warum sollte man Echnatons Königsnamen fein säuberlich herauslösen, wenn er ohnehin in dem Sarg lag?" Bei dem Skelett müsse es sich vielmehr um die Knochen Semenchkares handeln. Außerdem stehe auf dem Sarg der Beiname 'Geliebter des Einzigen des Re' und "diesen Titel kennen wir nur von ihm". Vorsichtiger ist da Christian E. Loeben, Kurator vom Museum August Kestner in Hannover. Ein denkbares Szenario wäre durchaus, dass Tutanchamun Echnaton aus dem Königsgrab von Amarna nach Theben in KV 55 umbetten und ihn dort mit einer zusammengewürfelten Notausstattung an Beigaben versorgen ließ. "Aber gerade dieses Sammelsurium verbietet es uns heute, aus dem Grabinventar auf den Namen des Grabinhabers zu schließen." Seit jeher kreisen die Deutungen von "KV 55" um Echnaton und Semenchkare. Für Letzteren sprach bislang auch das von Anthropologen diagnostizierte Sterbealter von 20 bis 25 Jahren.

Die entscheidende Wende kam 2010. Zahi Hawass hatte ein Mammutprojekt ins Rollen gebracht, das die verwandtschaftlichen Verhältnisse, mögliche Erkrankungen und Todesursachen von Tutanchamun und den Königen der 18. Dynastie klären sollte. Im Rahmen des "King Tutankhamun Family Project" hatte ein internationales Team aus Anthropologen, Humangenetikern, Radiologen und Medizinern 16 Mumien jener Zeit untersucht. Nun machte Hawass die Ergebnisse öffentlich – welche die Ägyptologie wie einen Donnerschlag rührten.

Insbesondere die Resultate der DNA-Analyse: Für den genetischen Fingerabdruck hatten die Forscher Proben tief aus dem Inneren der Knochen einer jeden Mumie entnommen –, "um keine kontaminierte Substanz zu erhalten", erklärt Carsten Pusch von der Universität Tübingen, einer der Genetiker des Projekts. Anschließend unterzogen sie die Mumien dem gleichen Prozedere wie bei einem modernen Vaterschaftstest. Dabei kam heraus, dass der als Amenhotep III. beschriftete Leichnam aus KV 35, das Skelett aus KV 55 und die Mumie Tutanchamuns aus KV 62 derselben väterlichen Linie entstammten. Nun wissen Ägyptologen aber aus Schriftzeugnissen, dass Amenhotep III. und Teje zwei Söhne hatten: den früh verstorbenen Thutmosis und Amenhotep IV. – Echnaton. War "KV 55" damit endgültig als der "Ketzerpharao" und darüber hinaus als Vater Tutanchamuns identifiziert? Eine durchgeführte CT-Analyse der Gebeine schien das zu bestätigen. Die Radiologen entdeckten auf den hoch aufgelösten Schnittbildern Abnutzungen an der Wirbelsäule, den Knien und Beinen, wie sie einfache Röntgenaufnahmen nicht zeigen konnten. Solche Verschleißerscheinungen treten allerdings erst in einem Alter zwischen 35 und 45 Jahren auf. Zahi Hawass folgerte daraus: "Die Mumie aus KV 55 ist ziemlich sicher Echnaton."

"Das ist doch höchst sonderbar", wendet Schlögl ein, der das Skelett weiterhin als den jung verstorbenen Semenchkare deutet. Waren die bisherigen anatomischen Untersuchungen doch mehr oder minder zu dem einhelligen Ergebnis gekommen, dass der Tote von KV 55 mit 20 bis 25 Jahren starb. "Es drängt sich die Vermutung auf, dass man diese Ergebnisse außer Acht ließ, um die Überreste passend zu machen", vermutet Schlögl. Projektteilnehmer Carsten Pusch widerspricht. "Ich stehe hinter dem diagnostizierten Sterbealter – nicht weil es passt, sondern weil es wahr ist." Damit steht Aussage gegen Aussage.

Vater, Mutter, Kind

Um das Verwandtschaftsgeflecht der Amarnazeit zu entzerren, wollten die Forscher des "King Tutankhamun Family Project" mit Hilfe von Genanalysen auch wissen, welche Mumien sich als Vater, Mutter, Kind interpretieren lassen. Das Erbgut eines Menschen besteht nämlich aus den Chromosomensätzen der Mutter und des Vaters. Vergleicht man nun bestimmte Genabschnitte mutmaßlich miteinander verwandter Personen, lassen sich die Beziehungen offen legen und es kann ein Stammbaum erstellt werden. "Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent bekamen wir schließlich eine einzige, solide Möglichkeit – die zudem noch historisch Sinn ergab!", jubelt Pusch. Durch die sicher identifizierten Mumien ihrer Eltern bestätigte sich der frühere Befund, dass die "Elder Lady" Königin Teje war. Sie wiederum hatte mit Amenhotep III. den Unbekannten in KV 55 gezeugt, welcher Tutanchamuns Vater war. Als seine Mutter entpuppte sich die "Younger Lady" –, die aber zugleich mit "KV 55" eng verwandt war. Mehr noch: Sie war seine Schwester gewesen. Tutanchamun also das Produkt einer Geschwisterehe!

"Das ist doch höchst sonderbar!"Hermann Schlögl

Hatte Zahi Hawass damit das Argument gefunden, die junge Dame aus KV 35 mit Nofretete zu identifizieren – wie es Joann Fletcher vermutete? Keineswegs. Weder Kija noch Nofretete seien Tutanchamuns Mutter, sondern eine von Echnatons historisch verbürgten Schwestern. Für Ägyptologen keine ungewöhnliche Konstellation, konnte doch der König mehrere Frauen haben, und die Geschwisterehe war gängige Praxis.

Für Schlögl steht das molekularbiologische Ergebnis indes in einem unlösbaren Widerspruch zu den historischen Quellen: Den Inschriften aus Achet-Aton zufolge war Echnaton der Vater Tutanchamuns, und Nofretete die Mutter. Das bezeuge die Hieroglyphenzeile neben dem Bild der Amme mit Kind im Königsgrab – sofern Marc Gaboldes Lesung richtig ist. Aber noch wichtiger sei: Als vermeintliche Tochter von Königin Teje und Pharao Amenhotep III. hätte Nofretete den Titel 'Königstochter' tragen müssen. "Das ist jedoch nicht überliefert", sagt Schlögl und bekräftigt: "Echnaton und Nofretete waren keine Geschwister."

Der Grund für den Schlamassel: Bei der Aufstellung des Stammbaums sei ein grundlegender Fehler begangen worden, meint Schlögl. Da man davon ausging, dass die Mumie aus KV 35 auch wirklich Amenhotep III. sei. Tatsächlich gaben Forscher immer wieder zu bedenken, dass sie beim Umbetten falsch beschriftet worden sein könnte. Insbesondere Eje, Tutanchamuns Nachfolger, kommt für Schlögl als Kandidat in Frage. Denn rund 300 Jahre nach Amarna kannten die Priester dessen Namen nicht mehr und schrieben einen anderen Namen auf die Mumie. Wer auch immer der Leichnam aus KV 35 einst war, der DNA-Analyse zufolge bleiben "KV 55" und die "Younger Lady" seine Kinder sowie die "Elder Lady" deren Mutter. Schlögl glaubt, dass sich diese Konstellation mit den schriftlichen Quellen in Deckung bringen lässt: mit Semenchkare als "KV 55", Nofretete als "Younger Lady" und Eje als die Mumie aus KV 35. Am Hof von Amarna trug dieser den Beinamen "Gottesvater", was so viel bedeutet wie königlicher Schwiegervater. Als er Pharao wurde, integrierte er den Titel sogar in seinen Königsnamen. Wie Schlögl meint, um sich als Mitglied der Herrscherfamilie zu legitimieren. Die Idee, dass Nofretete eine Tochter Ejes war, ist allerdings unter Ägyptologen umstritten, da seine Frau nirgends als Mutter der Nofretete überliefert ist. Schlögl irritiert das nicht. Ejes Gattin sei vermutlich eine jüngere Schwester der Königinmutter Teje, die später sogar deren Namen angenommen hatte. Damit erkläre sich zudem, warum die Locke aus Tutanchamuns Grab mit den Haaren der "Elder Lady" chemisch übereinstimmt: Das Totengeschenk an den Enkel stammte nicht von Echnatons Mutter, sondern von Ejes Frau. "Die ältere Teje war nämlich, als Tutanchamun starb, schon mehr als 16 Jahre tot."

So schlüssig diese These erscheint, erklärt sie nicht die Geschwistereltern Tutanchamuns. Zwar kommt Schlögl zu dem Schluss, dass Nofretete und Semenchkare Bruder und Schwester waren, sieht sie aber nicht als die Eltern von Tutanchamun. Damit kann er die Ergebnisse der DNA-Untersuchung nicht vollständig mit den historischen Fakten in Einklang bringen. Naturwissenschaftliche Methoden und altertumswissenschaftliche Textanalysen stehen sich also weiterhin unvereinbar gegenüber. Vielleicht kann das Team vom "King Tutankhamun Family Project" mehr Klarheit schaffen, das bald neue Ergebnisse liefern will. "Und die ergänzen sich", sagt der Genetiker Pusch, "wunderbar mit dem, was wir bereits herausgefunden haben." Der Streit der akademischen Disziplinen ist offenbar noch nicht entschieden.

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