Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch
Ein halbstarker Pavian packt ein Baby so heftig an, daß es laut zu schreien beginnt. Sofort stürzen einige erwachsene Tiere der Gruppe auf ihn zu, um ihn zur Ordnung zu rufen; er aber richtet sich steil auf und starrt ins Weite. Das ist ein Verhalten, das Paviane zu zeigen pflegen, wenn sie etwa einen Leoparden entdecken (vergleiche „Wie Affen sich verstehen“ von Robert M. Seyfarth und Dorothy L. Cheney, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1993, Seite 88). Der unmittelbare Effekt ist, daß nun auch die anderen umherblicken. Die Bestrafung ist vergessen.
Wir sind mitten im Thema dieses Buches, das der Göttinger Anthropologe und Primatologe Volker Sommer hier ansprechend aufbereitet hat. Er identifiziert sich weitgehend, jedoch nicht unkritisch, mit den Konzepten der Soziobiologie. Schade, daß er bei der Behandlung der Tarnung im Zusammenhang mit zwischenartlichen Beziehungen das ideenreiche Buch „Tarnung und Täuschung bei Tieren und Pflanzen“ von Helge Zabka (Landbuch, Hannover 1990) nicht genutzt hat.
Die Darstellung reicht weit in die Humanpsychologie hinein. Sie ist auch eine Herausforderung für Biologen, die Anwendungen humanpsychologischer Begriffe auf tierisches Verhalten für unzulässig halten, weil der Referenzrahmen einer höheren Ebene auf tiefere (entwicklungsgeschichtlich ältere) nicht anwendbar sei. Man sollte im Blick behalten, daß es – ähnlich wie beim Gebrauch von Gegenständen – Verhaltensausstattungen gibt, die zum normalen Repertoire der betreffenden Art gehören, und solche, die erst mit individueller Erfahrung aufgebaut werden, wobei auch Beobachtungslernen recht bedeutsam sein kann. So sind die Primaten besonders angesprochen.
Die Evolution optimiert das Verhalten; sie liefert die Bewertungskriterien. Andererseits setzen unsere ethischen Normen ein von uns geschaffenes Weltbild voraus. Doch diese beiden Bewertungssysteme sind einander gar nicht so fremd, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Was Sommers Anliegen eindrucksvoll sichtbar werden läßt, kann vielleicht in diese Form gebracht werden: Um den Menschen zu verstehen, muß man die Schimpansen kennen – und umgekehrt.
Bei den höheren Primaten gibt es sogar Verhaltensweisen, die den Erfolg einer Täuschung verhindern oder einen Täuschenden täuschen. Da ist ein Schimpansenmann im Gombe-Nationalpark in Tansania dabei, Bananen aus einem nur ihm bekannten Versteck zu verzehren. Sowie ein anderes Mitglied der Gruppe naht, verläßt er den Platz und schaut intensiv in eine andere Richtung. Der zweite geht weiter, versteckt sich aber hinter einem Baum. Nun glaubt sich der erste in Sicherheit und sucht sein Versteck wieder auf – aber schon ist der stärkere Mann da und nimmt das Futter in Besitz.
Dieses Buch muß man ganz lesen; das Thema ist hochaktuell. Eine moderne Psychobiologie gewinnt Konturen. Wenn wir Evolution als Selbstorganisation interpretieren, dann ist es vielleicht zwingend, neben der Geschichte der Ratio gleichwertig auch die ästhetische sowie die ethische Dimension im Blick zu haben. Es gibt offenbar bei Tieren nicht nur ratiomorphes, sondern auch ethomorphes Verhalten.
Sommer hat einen anregenden Beitrag zu einer Diskussion geliefert, die eigentlich erst begonnen hat.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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