Pinguine im Teilchenzoo
Manche Elementarteilchen können sich über schwerere Gebilde - Pinguine zum Beispiel - in andere Partikel umwandeln. kürzlich gelang es mit einem Speicherring, die ersten Exemplare dieser künstlichen Geschöpfe zu entdecken.
Gemeinhin sind die zur Familie Spheniscidae zählenden flugunfähigen Meeresvögel mit ihren 18 bekannten Arten nur auf der Südhalbkugel der Erde anzutreffen; man findet sie hauptsächlich in großen Kolonien lebend in den unwirtlichen Küstenregionen der Antarktis. Ihr drolliger, schwankender Gang und ihre ritualisierte Gestik, mit der sie Territorialstreitigkeiten ausfechten oder bei der Balz Geschlechtsgenossen auszustechen suchen, erinnert unweigerlich an eine Karikatur aufgeregter kleiner Männchen; verstärkt wird dieser Eindruck noch durch das unablässige Geschnatter, Kreischen und Piepen, das oft kilometerweit zu hören ist.
Das ungewöhnliche Verbreitungsgebiet dieser possierlichen Frackträger läßt sie nur selten in freier Wildbahn mit einer besonderen der zahlreichen Unterarten des Homo sapiens zusammentreffen: den theoretischen Elementarteilchenphysikern, welche sich ihrerseits bevorzugt grüppchenweise in einigen der renommiertesten Hochburgen moderner Forschung auf der nördlichen Halbkugel aufhalten. Entgegen landläufiger Meinung sind letztere durchaus kontaktfreudig veranlagt und umgänglich, so daß sie – wie wir noch sehen werden – gelegentlich auch Wirtshäuser oder ähnliche Einrichtungen geselligen Beisammenseins aufsuchen. Lediglich als böswilliges Gerücht ist hingegen die Behauptung anzusehen, ihre Gangart nach Verlassen einer derartigen Lokalität ähnele in gewisser Weise derjenigen der antarktischen Watscheltiere.
Indes sind auch die kommunikativen Ausdrucksformen des Homo sapiens physicus particularum viel subtiler als beispielsweise die von Pygoscelis adeliae: Während die Vertreter der menschlichen Subspezies mit gewöhnlichen Artgenossen eine als normal einzustufende und zumeist verständliche Konversation betreiben, verfallen sie bei Versammlungen untereinander in ein seltsames Kauderwelsch, das sich anhört wie: "Unsere Analyse basiert auf der Korrelation von Lambda l–, wobei das Lepton und das Lambda-Baryon im semileptonischen Zerfall Lambdab -> Lambdac l Ny gefolgt von Lambdac -> Lambda X produziert werden." Außerhalb solcher in regelmäßigen Abständen sich ereignender Populationsverdichtungen setzen besonders umtriebige und des Schreibens kundige Individuen ihre inhaltsschweren Diskussionen in eigens dafür geschaffenen Fachjournalen fort.
Trotz dieser Unterschiede in regionaler Verbreitung und sozialen Verhaltensweisen haben beide Spezies eine gewisse Neigung zum Schabernack gemein, aus der sich nun kürzlich im Zoo der Elementarteilchen erste Kontakte zwischen den sonst so ungleichen Arten ergaben: Forscher am Elektronen-Speicherring CESR (Cornell Electron Storage Ring) der Cornell-Universität in Ithaca (US-Bundesstaat New York) registrierten in ihrem Teilchendetektor CLEO-II ein ungewöhnliches Ereignis, das sich bei genauerer Untersuchung als erste gesicherte Beobachtung eines Pinguins in einem Teilchenbeschleuniger erwies ("Physical Review Letters", Band 71, Heft 5, Seiten 674 bis 678, 2. August 1993).
Dieser Befund hat weitreichende Konsequenzen für die Wissenschaft vom Mikrokosmos – zeigt er doch, daß bestimmte schwere, instabile Partikel über einen seltenen, mehrstufigen Prozeß in leichtere zerfallen können. Unter anderem kann dies die makrokosmische Frage klären helfen, warum es im Universum weit mehr Materie zu geben scheint als Antimaterie.
Was die Teilchenphysiker im einzelnen beobachteten, war der Zerfall eines B-Mesons in ein angeregtes K-Meson und ein Photon. Daß dies nur über den sogenannten elektromagnetischen Pinguin-Zerfall geschehen kann, wird deutlich, wenn man die daran beteiligten Quarks betrachtet. Ein B-Meson besteht aus einem schweren b-Quark und einem leichten u**- oder d**-Antiquark, das angeregte K-Meson dagegen aus einem s-Quark und dem gleichen Antiquark, das im B-Meson enthalten ist. Da das Antiquark bei dem Zerfall unverändert bleibt, hat sich damit im Prinzip ein b-Quark in ein s-Quark und ein Photon umgewandelt.
Dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik zufolge ist ein solcher Prozeß nicht direkt möglich, weil das Quark dabei seine Ladung ändern müßte; b- und s-Quarks tragen aber beide die Ladung –1/3. Pinguine indes erlauben einen Zwischenschritt (Bild): Das b-Quark zerfällt nun zunächst in ein W– (ein Trägerteilchen der schwachen Wechselwirkung mit der Ladung -1) und ein u-, c- oder t-Quark mit der Ladung +2/ 3. Beide Zerfallsprodukte rekombinieren sodann zu einem s-Quark mit der Ladung –1/3, das eine geringere Masse hat als das ursprüngliche b-Quark. Aus Gründen der Impulserhaltung muß ein weiteres Teilchen, ein Photon, entstehen.
Nach den Gesetzen der klassischen Physik wäre der Zerfall eines b-Quarks in ein W–, das etwa die 20fache Masse hat, nicht möglich. Die quantenmechanische Unschärferelation erlaubt diesen Prozeß jedoch, sofern die Lebensdauer des W– klein genug ist.
Der Nachweis von Pinguin-Zerfällen bestätigt nun eine Vorhersage des britischen Physikers John Ellis vom Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik CERN bei Genf und seinen Kollegen Serge Rudaz, Mary K. Gaillard und Dimitri V. Nanopoulos. Eines Abends Anfang 1977 suchten Ellis und Rudaz Zerstreuung in einem englischen Pub in Genf, wo sie ihre Kollegin Melissa Franklin – inzwischen an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) – zu einem Dart-Spiel herausforderten. Um den Reiz zu erhöhen, vereinbarte man eine Wette: Sollte Ellis ein Spiel verlieren, müsse er in seiner nächsten Fachveröffentlichung das Wort "Pinguin" verwenden.
Was einem Ornithologen oder Südpolarforscher wohl nicht schwergefallen wäre, mag dem Theoretiker Ellis gewisse Seelenqualen bereitet haben. Wie die Wette ausging, ist jedenfalls in der nachfolgenden Veröffentlichung von Ellis und seinen drei Kollegen verbürgt, in der sie Zerfallsmöglichkeiten von b- und t-Quarks untersuchten ("Nuclear Physics B", Band 131, Heft 2/3, Seiten 285 bis 307, 5./12. Dezember 1977): Dort sind Diagramme angegeben, denen zufolge b-Quarks in Anwesenheit von Gluonen, den Trägern der starken Kraft, pinguinförmig in leichtere Quarks zerfallen sollten – so wie es jetzt die Experimente an der Cornell-Universität bestätigt haben.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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