Das Rätsel des bewußten Erlebens
Je genauer die Neurowissenschaftler die Funktionsweise unseres Gehirns zu beschreiben vermögen, desto deutlicher wird, daß all ihre Messungen und Modelle just den zentralen Aspekt des Bewußtseins nicht erfassen: das subjektive Innewerden von Qualitäten wie Farbe oder Geruch, einer Überlegung oder einer Emotion.
Das bewußte Erleben unserer Sinneswahrnehmungen ist das vertrauteste und zugleich rätselhafteste Geschehen überhaupt. Über nichts wissen wir direkter Bescheid als über das Bewußtsein, aber sein Dasein läßt sich nur äußerst schwer mit allem, was wir sonst noch wissen, in Einklang bringen. Warum existiert es? Was tut es? Wie vermag es aus neuronalen Prozessen im Gehirn hervorzugehen? Solche Fragen gehören seit jeher zu den großen Rätseln menschlichen Forschens und Denkens.
Objektiv betrachtet ist das Gehirn ein einigermaßen verständliches Gebilde. Wenn Sie etwa diese Seite betrachten, läuft im Nu eine Serie von Verarbeitungsschritten ab: Ihre Netzhaut absorbiert Photonen, elektrische Signale wandern durch den Sehnerv zu verschiedenen Hirnarealen, und schließlich reagieren Sie vielleicht mit einem Lächeln, einem verdutzten Stirnrunzeln oder einer Bemerkung. Doch derselbe Vorgang hat auch einen rein persönlichen Aspekt. Wenn Sie die Seite anblicken, sind Sie sich dessen bewußt; Sie erfahren die Wörter und die farbige Abbildung unmittelbar als Teil Ihres eigenen geistigen Erlebens. Sie haben den lebhaften Eindruck bunter Blumen und eines leuchtenden Abendhimmels. Gleichzeitig könnten sich Gefühle regen und Gedanken formen. All diese Erfahrungen zusammen machen Bewußtsein aus: das subjektive Innenleben des Geistes (siehe "Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel?" von Peter Bieri, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1992, Seite 48).
Viele Jahre lang mieden die Hirnforscher und sogar viele Psychologen den Begriff Bewußtsein. Man meinte, Wissenschaft sei auf Objektivität angewiesen und könne sich mit etwas so Subjektivem nicht abgeben. Die Behavioristen, Vertreter einer vor allem in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts mächtigen Strömung in der Psychologie, untersuchten nur extern beobachtbares Verhalten und verbaten sich jede Aussage über interne mentale Prozesse. Mit dem Aufschwung der Kognitionswissenschaften wandte man sich später zwar den Vorgängen im Gehirn zu, aber das Bewußtsein galt weiterhin als unwissenschaftliches Thema – höchstens geeignet für Spekulationen zu später Stunde bei einem Glas Wein.
Doch seit einigen Jahren widersetzen sich immer mehr Neurowissenschaftler, Psychologen und Philosophen der Ansicht, das Bewußtsein lasse sich nicht ergründen, und suchen in seine Geheimnisse einzudringen. Wie bei einem derart neuen Forschungsgebiet nicht anders zu erwarten, ist rasch eine Vielfalt einander widersprechender Theorien entstanden, wobei Grundbegriffe oft in unvereinbarer Weise gebraucht werden. Um das Durcheinander zu entwirren, sind philosophische Überlegungen unerläßlich.
Die Ansichten reichen von reduktionistischen Modellen, die voraussetzen, daß Bewußtsein sich mit den gängigen Methoden von Neurowissenschaften und Psychologie erklären lasse, bis zur Position der sogenannten Mysteriker, denen zufolge wir es niemals verstehen werden (Spektrum der Wissenschaft, September 1994, Seite 74). Ich glaube, daß bei genauer Analyse beide Extreme sich als falsch erweisen und daß die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt.
Gegen den Reduktionismus wende ich ein, daß die durchaus leistungsfähigen Mittel der Neurowissenschaften das bewußte Erleben nicht vollständig darzustellen vermögen. Gegen die Mysteriker behaupte ich, daß das Bewußtsein sich doch durch eine neue Art von Theorie erklären lassen dürfte. Zwar sind uns deren Einzelheiten noch nicht zugänglich, aber über ihre allgemeine Beschaffenheit können uns sorgfältige Überlegung und plausible Schlüsse einiges verraten. Beispielsweise wird sie vermutlich neue fundamentale Gesetze enthalten, und der Begriff Information wird wohl dafür wesentlich sein. Schon die groben Umrisse einer solchen Theorie lassen ahnen, daß sie überraschende Folgen für unser gesamtes Weltbild und das Verständnis unserer selbst haben könnte.
Das schwierige Problem
Die Forscher benutzen das Wort Bewußtsein in mannigfaltiger Weise. Darum müssen wir zunächst die Probleme, die oft unter diesem Begriff zusammengeworfen werden, säuberlich trennen. Dafür finde ich es nützlich, zwischen den vielen "einfachen" und dem einen "schwierigen Problem" zu unterscheiden. Erstere sind keineswegs trivial – sie sind nicht leichter zu klären als die meisten Themen von Psychologie und Biologie; aber in letzterem verbirgt sich das eigentliche Rätsel.
Zu den einfachen Problemen des Bewußtseins gehört etwa: Wie vermag ein Mensch Sinnesreize zu unterscheiden und angemessen auf sie zu reagieren? Wie faßt das Gehirn Informationen aus vielen verschiedenen Quellen zusammen und nutzt sie zur Steuerung des Verhaltens? Wie ist es möglich, daß Menschen ihre internen Zustände in Worte fassen? Obwohl all diese Fragen mit Bewußtsein zusammenhängen, betreffen sie stets die objektiven Mechanismen des kognitiven Systems. Darum haben wir allen Grund zu der Annahme, daß sie sich durch weitere Arbeit auf den Gebieten von kognitiver Psychologie und Neurowissenschaften beantworten lassen sollten.
Das schwierige Problem ist hingegen, wie physikalische Prozesse im Gehirn subjektives Erleben hervorbringen. Dieses Rätsel betrifft den inneren Aspekt von Denken und Wahrnehmung: die Art und Weise, wie das Ich der Dinge und Vorgänge innewird beziehungsweise wie sie sich für es ausnehmen. Wenn wir zum Beispiel etwas sehen, dann erleben wir visuelle Eindrücke, etwa ein kräftiges Blau. Oder denken wir an den unsäglich anrührenden Klang einer fernen Oboe, die Qual eines starken Schmerzes, ein überschäumendes Glücksgefühl oder die meditative Qualität eines gedankenverlorenen Augenblicks. All das gehört für mich zum Bewußtsein, und solche Phänomene machen das eigentliche Geheimnis des Geistes aus.
Um den Unterschied von einfach und schwierig in diesem Zusammenhang deutlicher zu machen, wollen wir ein Gedankenexperiment des australischen Philosophen Frank Jackson nachvollziehen. Angenommen, Mary, eine Neurologin des 23. Jahrhunderts, ist die führende Expertin für alle Hirnvorgänge, die mit der Wahrnehmung von Farben zusammenhängen. Sie hat jedoch ihr ganzes Leben in einem schwarz-weißen Zimmer verbracht und niemals Farben gesehen (Bild 1).
Ihr ist alles bekannt, was man über die physischen Vorgänge im Gehirn sowie über dessen Biologie, Struktur und Funktion überhaupt wissen kann. Darum begreift sie alles, was es über die einfachen Probleme zu wissen gibt: wie das Gehirn Reize unterscheidet, Informationen zusammenfaßt und verbale Äußerungen hervorbringt. Aus ihrer theoretischen Kenntnis des Farbensehens weiß sie, welche Wellenlängen des Spektrums bestimmten Farbnamen entsprechen. Aber dennoch gibt es etwas Entscheidendes, das Mary nicht weiß: wie es ist, eine Farbe – zum Beispiel Rot – wirklich zu erleben. Daraus folgt, daß es Tatsachen über bewußtes Erleben gibt, die sich nicht aus physiologischen Fakten über die Arbeitsweise des Gehirns herleiten lassen.
Eigentlich weiß niemand, warum diese physischen Vorgänge überhaupt von bewußten Erlebnissen begleitet sind. Warum haben wir eine Farberfahrung von dunklem Violett, wenn unser Gehirn Licht einer bestimmten Wellenlänge verarbeitet? Warum haben wir überhaupt Erlebnisse? Könnte ein Automat ohne Bewußtsein nicht dieselben Aufgaben genausogut erledigen? Auf solche Fragen sollte uns eine Theorie des Bewußtseins Antwort geben.
Ich bestreite nicht, daß Bewußtsein aus der Tätigkeit des Gehirns entsteht. Wir wissen zum Beispiel, daß subjektive Seherlebnisse eng mit Vorgängen in der Sehrinde (dem visuellen Cortex) zusammenhängen. Doch der Zusammenhang selbst ist rätselhaft. Offensichtlich geht subjektives Erleben aus einem physikochemischen Prozeß hervor – aber wir haben keine Ahnung, wie oder warum.
Reicht die Neurowissenschaft aus?
Angesichts der wachsenden Flut von neurowissenschaftlichen und psychologischen Arbeiten zum Bewußtsein möchte man meinen, das Rätsel kläre sich nun allmählich auf. Aber wie sich bei näherem Hinsehen herausstellt, behandelt die Forschung fast immer nur die einfachen Probleme. Das Vertrauen in die reduktionistische Sichtweise nährt sich aus den dabei erzielten Fortschritten – aber für das schwierige Problem springt dabei gar nichts heraus.
Nehmen wir die Hypothese, die Francis Crick vom Salk-Institut für biologische Studien in San Diego (Kalifornien) und Christof Koch vom California Institute of Technology in Pasadena aufgestellt haben. Sie meinen, Bewußtsein entstehe aus gewissen Schwingungen in der Großhirnrinde, die dadurch entstehen, daß Neuronen rund 40mal pro Sekunde synchron feuern (Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 144). Crick und Koch glauben, dieses Phänomen könne erklären, wie verschiedene Attribute eines einzigen Wahrnehmungsobjekts (etwa Farbe und Form), die in verschiedenen Gehirnarealen verarbeitet werden, zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt werden. Demzufolge werden zwei Teilinformationen genau dann verbunden, wenn das ihnen entsprechende Feuern von Neuronen sie synchron repräsentiert.
Diese Hypothese erklärt möglicherweise eines der einfachen Probleme, nämlich wie das Gehirn Informationen integriert. Aber warum sollen synchronisierte Schwingungen – wieviel Integration dabei auch immer stattfinden mag – ein visuelles Erlebnis hervorbringen? Diese Frage zielt auf das schwierige Problem, und dazu weiß die Hypothese nichts zu sagen. Tatsächlich sind Crick und Koch Agnostiker bezüglich der Frage, ob sich das schwierige Problem überhaupt wissenschaftlich lösen lasse (siehe Kasten auf Seite 44/45).
Die gleiche Art Kritik trifft auf fast alle neueren Arbeiten zum Bewußtseinsproblem zu. In seinem 1991 erschienenen Buch "Consciousness Explained" (deutsch 1994 als "Philosophie des menschlichen Bewußtseins") entwickelte der Philosoph Daniel C. Dennett von der Tufts-Universität in Medford (Massachusetts) eine ausgeklügelte Theorie darüber, wie zahlreiche unabhängige Hirnvorgänge so zusammenwirken, daß eine kohärente Reaktion auf ein wahrgenommenes Ereignis entsteht. Diese Beschreibung mag vielleicht recht gut erklären, wie wir verbale Aussagen über unsere inneren Zustände hervorbringen, aber sie sagt uns sehr wenig darüber, warum hinter diesen Aussagen ein bewußtes Erlebnis stehen soll. Gleich anderen reduktionistischen Ansätzen ist auch Dennetts Theorie eine Antwort auf die einfachen Probleme.
Bei all diesen Problemen geht es stets darum, wie eine kognitive Funktion oder ein bestimmtes Verhalten zustande kommt. Letztlich steckt immer die Frage dahinter, wie das Gehirn eine Aufgabe ausführt – wie es Reize unterscheidet, Informationen integriert, verbale Erlebnisberichte hervorbringt und so weiter. Sobald nun die Neurobiologie geeignete Mechanismen angibt und zeigt, wie diese Aufgaben bewältigt werden, sind die einfachen Probleme gelöst.
Das schwierige Problem des Bewußtseins geht hingegen weit über die Frage hinaus, wie bestimmte Funktionen ausgeführt werden. Selbst wenn jede mit Bewußtsein verknüpfte kognitive Funktion und jedes bewußte Verhalten erklärt wären, bliebe immer noch ein Geheimnis übrig: Warum ist das Ausführen dieser Funktionen von bewußtem Erleben begleitet? Erst diese Zusatzfrage macht die Schwierigkeit des Problems aus.
Die Erklärungslücke
Manche meinen, man müsse zu seiner Lösung neue Erklärungsinstrumente ins Spiel bringen: etwa nichtlineare Dynamik, aktuelle Entdeckungen der Neurowissenschaften oder die Quantenmechanik. Aber diese Ideen kranken an genau derselben Schwäche.
Zum Beispiel behaupten Stuart R. Hameroff von der Universität von Arizona in Tucson und Roger Penrose von der Universität Oxford (England), Bewußtsein erwachse aus quantenphysikalischen Prozessen, die in Mikrotubuli – gewissen Proteinstrukturen innerhalb der Neuronen – stattfänden. Es ist möglich (wenn auch nicht wahrscheinlich), daß sich aufgrund einer solchen Hypothese erklären läßt, wie das Gehirn Entscheidungen fällt, oder sogar, wie es mathematische Sätze beweist (letzteres ist ein besonderes Anliegen des Mathematikers Penrose). Aber selbst eine erfolgreiche Theorie dieser Art würde nichts darüber aussagen, wie solche Prozesse bewußte Erlebnisse hervorbringen. Dasselbe Problem tritt unweigerlich bei jeder Theorie des Bewußtseins auf, die nur auf der physikochemischen Verarbeitung von Sinnesdaten beruht.
Denn solche Theorien sind nun einmal auf die Frage zugeschnitten, warum Systeme eine gewisse Struktur haben und wie sie verschiedene Funktionen ausführen. Die meisten Probleme der Naturwissenschaft haben diese Form. Um beispielsweise das biologische Phänomen des Lebens zu erklären, müssen wir beschreiben, wie ein materielles System sich zu reproduzieren, an die Umwelt anzupassen und mit ihr Stoffwechsel zu betreiben vermag. Das Problem des Bewußtseins ist aber ganz anderer Art, denn es geht über die Erklärung von Struktur und Funktion hinaus.
Gewiß sind die Neurowissenschaften für die Erforschung des Bewußtseins nicht unwichtig. Vielleicht können sie sein neuronales Korrelat enthüllen – das heißt die unmittelbar mit bewußtem Erleben zusammenhängenden Vorgänge im Gehirn; sie könnten sogar eine detaillierte Entsprechung zwischen speziellen Hirnprozessen und gewissen Erfahrungskomponenten angeben. Aber erst wenn wir wissen, warum diese Prozesse überhaupt bewußte Erfahrung hervorbringen, werden wir – nach den Worten des Philosophen Joseph Levine – die Erklärungslücke zwischen physischen Prozessen und Bewußtsein überwunden haben. Um diesen Sprung zu schaffen, ist eine neue Art Theorie nötig.
Eine Theorie über wirklich alles
Als Ausgangspunkt dient uns die Beobachtung, daß in der Naturwissenschaft nicht alle Wesenheiten durch noch grundlegendere erklärt werden. Zum Beispiel gelten in der Physik Raum-Zeit, Masse und Ladung (unter anderem) als fundamentale Wesenszüge der Welt, weil sie sich nicht auf noch einfachere zurückführen lassen. Trotz dieser Irreduzibilität verbinden detaillierte und nützliche Theorien diese Wesenheiten miteinander durch fundamentale Gesetze. Zusammen erklären diese Wesenszüge und Gesetze eine Vielfalt komplexer und subtiler Phänomene.
Viele glauben, die Physik liefere einen vollständigen Katalog der fundamentalen Eigenschaften und Gesetze des Universums. Der amerikanische Physiker Steven Weinberg nennt in seinem Buch "Dreams of a Final Theory" (auf deutsch 1993 unter dem Titel "Der Traum von der Einheit des Universums" erschienen) als Ziel der Physik eine "theory of everything" ("Theorie über Alles"), aus der sich vollständig herleiten lasse, was man vom Universum wissen kann. Weinberg gibt freilich zu, daß dabei das Bewußtsein problematisch ist: Trotz der Allgemeingültigkeit der theoretischen Physik läßt sich seine Existenz anscheinend nicht aus physikalischen Gesetzen herleiten. Weinberg verteidigt die Physik mit dem Argument, sie werde wohl eines Tages die objektiven (das heißt neuronalen) Korrelate des Bewußtseins erklären – aber selbstverständlich wäre damit das Bewußtsein selbst noch nicht erklärt. Doch wenn seine Existenz sich nicht aus physikalischen Gesetzen herleiten läßt, ist eine physikalische Theorie keine Theorie über wirklich alles. Eine allumfassende Theorie muß eine zusätzliche fundamentale Komponente enthalten.
Darum schlage ich vor, das bewußte Erleben (conscious experience) als fundamentalen, irreduziblen Wesenszug anzuerkennen. Diese Idee mag zunächst befremden, aber sie scheint mir unumgänglich.
Zum Beispiel stellte sich im 19. Jahrhundert heraus, daß die elektromagnetischen Phänomene nicht durch bereits bekannte Prinzipien zu erklären waren. Deshalb führte man die elektrische Ladung als neue Grundgröße ein und formulierte neuartige fundamentale Gesetze. Das gleiche sollte für das Bewußtsein gelten: Wenn die vorhandenen Theorien es nicht erfassen können, muß etwas Neues her.
Zu einer fundamentalen Eigenschaft gehören fundamentale Gesetze. In diesem Falle müssen sie das bewußte Erleben mit Elementen der physikalischen Theorie verbinden. Diese Gesetze werden fast gewiß mit denen der physikalischen Welt nicht in Konflikt geraten; anscheinend bilden letztere ein geschlossenes und selbständiges System. Vielmehr werden die neuen Gesetze, indem sie beschreiben, wie das Erleben von zugrundeliegenden physikalischen Prozessen abhängt, eine Brücke bilden und die Erklärungslücke schließen.
Somit wird eine vollständige Theorie zwei Komponenten haben: zum einen physikalische Gesetze für das Verhalten physikalischer Systeme von unendlich kleinen bis zu kosmologischen Größenordnungen – und zum andern psychophysikalische Gesetze, die besagen, wie einige dieser Systeme mit bewußtem Erleben assoziiert sind. Erst diese beiden Komponenten zusammen werden eine echte Theorie über Alles bilden.
Auf der Suche nach einer Theorie
Angenommen, solche psychophysikalischen Gesetze existieren – wie könnten wir sie entdecken? Das größte Hindernis ist Mangel an Daten. Da Bewußtsein etwas Subjektives ist, gibt es keine direkte Möglichkeit, es in anderen zu beobachten. Aber das ist nur ein Hindernis, keine Sackgasse. Zunächst hat jeder von uns Zugang zu seinen eigenen Erlebnissen, und aus diesem reichen Erfahrungsschatz lassen sich Theorien formulieren. Außerdem dürfen wir uns auf indirekte Informationen stützen, die andere Menschen liefern, indem sie ihre Erlebnisse beschreiben. Auch philosophische Argumente und Gedankenexperimente werden eine Rolle spielen. Solche Methoden haben ihre Grenzen, aber sie leisten für den Anfang mehr als genug.
Da diese Theorien sich nicht streng überprüfen lassen, werden sie spekulativer sein als die der herkömmlichen Naturwissenschaften. Trotzdem wären sie keineswegs beliebig, denn sie müßten sowohl unsere eigenen – in der ersten Person formulierten – Erlebnisse als auch das Erfahrungsmaterial aus den Berichten anderer exakt wiedergeben. Wenn wir eine Theorie finden, die den Daten besser entspricht als jede andere von gleicher Einfachheit, dann werden wir gute Gründe haben, sie zu akzeptieren. Vorläufig haben wir nicht einmal eine einzige, die zu den Daten paßt, und insofern wären Gedanken zur Überprüfbarkeit verfrüht.
Fürs erste könnten wir nach Überbrückungsgesetzen suchen, die physikalische Prozesse mit gewöhnlichen Alltagserlebnissen verknüpfen. Die grobe Form eines solchen Gesetzes läßt sich aus der Beobachtung erschließen, daß wir, wenn wir uns einer Sache bewußt sind, normalerweise danach handeln und darüber sprechen können – das heißt, objektiv-physikalische Funktionen auszuführen vermögen. Umgekehrt ist eine für Handeln und Sprechen unmittelbar zugängliche Information im allgemeinen auch bewußt. Demnach ist Bewußtsein (consciousness) eng mit Gewahrwerden (awareness) korreliert – das heißt mit dem Vorgang, durch den Informationen im Gehirn für alle möglichen motorischen Prozesse wie Sprechen und Körperbewegungen verfügbar gemacht werden.
Dies mag als trivial erscheinen; aber Gewahrwerden im hier definierten Sinne ist objektiv und physikalisch, Bewußtsein hingegen nicht. Die Definition muß freilich noch verfeinert werden, damit sie auch auf Tiere oder Kleinkinder paßt, die nicht sprechen können. Aber zumindest in groben Umrissen zeichnet sich die Form eines psychophysikalischen Gesetzes ab: Wo Gewahrwerden auftritt, herrscht auch Bewußtsein, und umgekehrt.
Nun betrachten wir die Struktur von bewußtem Erleben selbst. Das Gesichtsfeld beispielsweise erleben wir als ein sich fortwährend veränderndes Mosaik von Farben, Formen und Mustern mit detailliertem geometrischem Aufbau. Diese Struktur können wir beschreiben, nach vielen ihrer Komponenten greifen oder anderweitig handelnd auf sie eingehen; dies spricht dafür, daß sie unmittelbar der Struktur der Information entspricht, die im Gehirn durch die neuronalen Prozesse des Gewahrwerdens bereitgestellt wird.
Zudem haben unsere Farberlebnisse eine dreidimensionale Struktur in einem abstrakten Farbenraum, die sich in der Struktur der in der Sehrinde des Gehirns ablaufenden Informationsprozesse widerspiegelt. Farben lassen sich nämlich zu einem systematischen Muster ordnen: auf einer Achse von Rot nach Grün, auf einer zweiten von Blau nach Orange und auf einer dritten von Violett nach Gelb, und dies in allen Helligkeitsabstufungen. Diese Struktur wird teilweise durch die bunten Kreise oder Farbtafeln veranschaulicht, mit denen schon die Maler und Naturforscher der Goethe-Zeit den Farbphänomenen auf den Grund zu gehen suchten.
Je näher benachbart zwei Farben auf einem solchen Farbkreis sind, als desto ähnlicher erlebt man sie (Bild 2). Höchstwahrscheinlich entsprechen ihnen dann auch ähnliche Wahrnehmungsrepräsentationen im Gehirn, wobei die Neuronen ein kompliziertes und noch nicht ganz geklärtes System dreidimensionaler Codierungen aufbauen. Insgesamt kann man von einem Prinzip struktureller Kohärenz sprechen: Die Struktur bewußten Erlebens spiegelt sich in der Struktur der Information beim Gewahrwerden wider und umgekehrt (Bild 3).
Ein weiterer Kandidat für ein psychophysikalisches Gesetz ist das Prinzip der organisatorischen Invarianz. Es besagt, daß physikalische Systeme mit gleichartiger abstrakter Organisation stets gleiche bewußte Erlebnisse hervorbringen – unabhängig davon, woraus die Systeme bestehen. Wenn man zum Beispiel das Wechselspiel unserer Neuronen mit Halbleiter-Chips exakt kopieren könnte, käme dasselbe bewußte Erleben zustande. Dieses Prinzip ist zwar umstritten, doch dafür sprechen Gedankenexperimente, bei denen Neuronen sukzessive durch Chips ersetzt werden (siehe Kasten auf Seite 46). Die bemerkenswerte Folgerung ist, daß ausreichend komplexe Maschinen im Prinzip Bewußtsein haben können.
Physikalische und erlebte Informationen
Das Fernziel einer Theorie des Bewußtseins ist eine Reihe einfacher und eleganter Grundgesetze, ähnlich wie in der Physik. Die oben beschriebenen Prinzipien sind aber wohl kaum fundamental; wahrscheinlich handelt es sich um eher oberflächliche psychophysikalische Regeln, denen in der Physik vielleicht manche makroskopischen Prinzipien der Wärmelehre oder der Kinematik entsprechen würden. Noch weiß niemand, wie die fundamentalen Gesetze tatsächlich aussehen, aber ich möchte darüber schon ein wenig spekulieren.
Vermutlich wird, wie angedeutet, in den grundlegenden psychophysikalischen Gesetzen der Begriff Information eine zentrale Rolle spielen. Seine abstrakte Definition, die in den vierziger Jahren Claude E. Shannon vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge eingeführt hat, geht von einer Menge separater Zustände aus, die eine Grundstruktur von Ähnlichkeiten und Unterschieden aufweisen. Wählen wir beispielsweise für die Informationszustände eine zehn Bit lange Binärcodierung, so lassen sie sich durch physikalische Zustände – etwa elektrische Spannungen – darstellen, deren unterschiedliche Werte dann durch eine Telephonleitung übertragen werden können.
Auch im bewußten Erleben steckt Information. Zum Beispiel läßt sich das Muster der im Sehfeld erscheinenden Farbflecke mit den Pixeln auf einem Bildschirm vergleichen. Interessanterweise findet man die gleichen Informationszustände sowohl in bewußten Erlebnissen als auch in den zugrundeliegenden physischen Hirnvorgängen. So legt die dreidimensionale Codierung des Farbenraums nahe, daß der Informationszustand bei einem Farberlebnis unmittelbar einem Informationszustand im Gehirn entspricht. Wir können die beiden sogar als unterschiedliche Aspekte eines einzigen Informationszustands betrachten, der gleichzeitig durch physische Verarbeitung und als bewußtes Erlebnis realisiert wird.
Daraus ergibt sich die naheliegende Hypothese, daß Information – zumindest manchmal – zwei verschiedene Aspekte hat: einen physikalischen und einen erlebnishaften. Diese Hypothese hat den Charakter eines fundamentalen Prinzips für die Beziehung zwischen physischen Prozessen und Erlebnissen. Bewußtes Erleben existiert stets als ein Aspekt eines Informationszustands, dessen anderer Aspekt ein physischer Hirnvorgang ist. Dieser Vorschlag ist gewiß erst die vorläufige Skizze einer Theorie, doch er paßt gut zu den vorhin erwähnten Prinzipien – etwa zu dem, daß Systeme mit gleichartiger Organisation die gleiche Information verkörpern –, und er könnte viele Eigenschaften unseres Erlebens erklären.
Diese Idee ist zumindest vereinbar mit der Ansicht des amerikanischen Quantentheoretikers John A. Wheeler, Information bilde die Grundlage einer universellen Physik. Die physikalischen Gesetze lassen sich vielleicht letzten Endes informationstheoretisch formulieren; damit würden sie den psychophysikalischen viel ähnlicher. Vielleicht werden theoretische Physik und Theorie des Bewußtseins sich sogar eines Tages in den Rahmen einer übergeordneten Theorie der Information fügen.
Ein Problem bildet dabei die Allgegenwart von Information. Selbst ein Thermostat verkörpert ein wenig Information, aber ist er sich ihrer bewußt?
Darauf gibt es wenigstens zwei mögliche Antworten. Zum einen könnten wir die fundamentalen Gesetze so einschränken, daß nur manche Informationen einen Erlebnisaspekt haben – etwa je nachdem, wie sie physikalisch verarbeitet werden. Zum anderen könnten wir in den sauren Apfel beißen und zulassen, daß jede Information einen Erlebnisaspekt hat: Wo komplexe Informationsverarbeitung stattfindet, gibt es komplexe Erlebnisse, und bei einfachen Verarbeitungsschritten nur simple. Wenn dem so wäre, könnte sogar ein Thermostat Erlebnisse haben; freilich wären sie viel primitiver als selbst eine einfache Farbempfindung, und gewiß würden sie nicht von Gefühlen oder Gedanken begleitet. Das mag seltsam anmuten, aber wenn Erleben tatsächlich fundamental sein soll, muß es weit verbreitet sein. Jedenfalls würde die Wahl zwischen diesen Alternativen davon abhängen, welche sich in die umfassendste Theorie einbauen läßt.
Falls diese Überlegungen nicht in eine völlig falsche Richtung zielen, könnte sich daraus ein konkreterer Ansatz entwickeln, der die genaue Struktur unseres bewußten Erlebens aus physischen Prozessen im Gehirn vorhersagt. Wenn dieses Projekt Erfolg hat, werden wir die Theorie aus gutem Grunde akzeptieren. Wenn es scheitert, wird man andere Wege beschreiten und vielleicht andere fundamentale Theorien entwickeln. Auf diese Weise werden wir vielleicht eines Tages doch hinter das größte Geheimnis des Bewußtseins kommen.
Literaturhinweise
- Absent Qualia, Fading Qualia, Dancing Qualia. Von David J. Chalmers in: Conscious Experience. Herausgegeben von Thomas Metzinger. Ferdinand Schöningh, 1995.
– Explaining Consciousness: The "Hard Problem". Sonderheft von: Journal of Consciousness Studies, Band 2, Heft 3, Herbst 1995.
– The Nature of Consciousness: Philosophical and Scientific Debates. Herausgegeben von Ned Block, Owen Flanagan und Güven Güzeldere. MIT Press (im Druck).
– Gehirn und Bewußtsein. Mit einer Einführung von Wolf Singer. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1994.
– Gehirn und Geist. Spektrum der Wissenschaft Spezial 1, Heidelberg 1993.
– Schatten des Geistes. Wege zu einer neuen Physik des Bewußtseins. Von Roger Penrose. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1995.
– Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins. Artemis & Winkler, München 1994.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 40
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