Wechselwirkungsfreie Quantenmessung
Gewöhnlich geht in der Mikrowelt jede Messung unweigerlich mit einem störenden Eingriff in den beobachteten Zustand einher. Doch aufgrund subtiler Quanteneffekte vermag man im Prinzip ein Objekt in absoluter Dunkelheit zu entdecken, ohne es auch nur einem einzigen Lichtquant auszusetzen.
Der griechischen Sage nach wurde Perseus in einen aussichtslos scheinenden Kampf gegen die Medusa geschickt: Schon der Anblick ihres gräßlichen, von Schlangenhaaren wimmelnden Hauptes verwandelte jeden Gegner sofort zu Stein. Mit geschlossenen Augen läßt sich schlecht kämpfen; doch der schlaue Perseus hielt der Medusa seinen glänzenden Schild vor, so daß sie ihr eigenes Spiegelbild sah und dadurch selbst erstarrte.
Die Physiker stehen vor einem ähnlichen Dilemma wie der Sohn von Zeus und Danae. Als scheinbar selbstverständliche Behauptung hat es der Engländer Dennis Gabor (1900 bis 1979; für die Erfindung der Holographie erhielt er 1971 den Nobelpreis) im Jahre 1962 formuliert: Ein Gegenstand läßt sich nur beobachten, wenn er zumindest von einem Photon – einem Lichtquant – getroffen wird.
Doch in den letzten Jahren hat sich auf dem an bizarren Phänomenen rei-chen Forschungsfeld der Quantenoptik gezeigt, daß dies keineswegs selbstverständlich ist. Wir wissen nun, wie man im Prinzip das Vorhandensein eines Gegenstands nachzuweisen vermag, ohne daß ihn auch nur ein einziges Photon tangiert hätte.
Das scheint ein Widerspruch in sich zu sein: Wie kann es eine Messung geben, wenn keine Wechselwirkung stattfindet? Gewiß eine berechtigte Frage – jedenfalls solange man sich auf dem Gebiet der klassischen Physik bewegt und das Verhalten von Fußbällen, Planeten oder anderen nicht zu kleinen Objekten untersucht. Doch die Quantenmechanik, die für Elektronen, Photonen und an-dere Teilchen subatomarer Größenordnung zuständig ist, läßt ausgeklügelte Experimente dieser Art zu. Wäre Perseus seinerzeit mit solchem Wissen gewappnet gewesen, hätte er die Medusa zu orten vermocht, ohne daß von ihr reflektiertes Licht in seine Augen gefallen wäre – er hätte sie gleichsam sehen können, ohne sie anzuschauen.
Solche Quantengaukeleien eröffnen durchaus Anwendungsmöglichkeiten, die nicht nur mythischen Helden im Kampf mit Ungeheuern nützen würden. Die neuen Ideen mit ihren verblüffenden philosophischen Folgen versteht man am besten anhand von Gedankenexperimenten, wobei jeder technische Ballast über Bord geworfen und nur der prinzipielle Versuchsaufbau analysiert wird.
Betrachten wir als erstes eine Variante des bekannten Hütchenspiels, bei dem eine Murmel unter einem von zwei Hütchen versteckt ist. Allerdings verwenden wir keine gewöhnliche Murmel: Unsere zerfällt augenblicklich zu Staub, sobald sie mit Licht in Berührung kommt (Bild 1). Wie kann man sie finden, ohne sie zu zerstören?
Wenn der Spieler sich damit zufriedengibt, lediglich in der Hälfte aller Fälle zu gewinnen, braucht er einfach nur das Hütchen zu heben, unter dem er die Murmel nicht vermutet. Hat er recht, dann weiß er, daß sie sich unter dem anderen befindet, obwohl er sie nicht gesehen hat. Freilich läuft diese Strategie auf bloßes Raten hinaus.
Was aber ist, wenn wir nur noch ein Hütchen verwenden, unter dem mit einer bestimmten – aber unbekannten – Wahrscheinlichkeit eine Murmel liegt? Sieht der Spieler nicht nach, vermag er gar keine Information zu gewinnen. Hebt er das Hütchen, kann er sich noch so sehr bemühen, möglichst schwaches Licht einfallen zu lassen – falls eine Murmel vorhanden ist, hat er verloren. Der klassische Physiker hat damit keine Möglichkeit mehr, seine Gewinnchance abzuschätzen.
Die Superbombe von Elitzur und Vaidman
Um das Gedankenexperiment dramatischer zu gestalten, haben Avshalom C. Elitzur und Lev Vaidman von der Universität Tel Aviv (Israel) sich anstelle der Murmel eine Superbombe vorgestellt, die schon durch ein einzelnes Photon zur Detonation gebracht wird. Zu prüfen ist nun, ob die Bombe vorhanden ist oder nicht.
Elitzur und Vaidman fanden als erste eine Lösung, die allerdings wiederum nur in der Hälfte der Fälle erfolgreich ist. Doch zeigten sie damit immerhin, daß die Quantenmechanik gewisse Gewinnchancen eröffnet.
Ihre Methode beruht darauf, daß Licht aus Photonen besteht und somit Teilcheneigenschaften hat, aber auch charakteristisches Wellenverhalten aufweist, insbesondere durch Interferenz. Dieses für Wellen typische Überlagerungsphänomen läßt sich zum Beispiel im Doppelspalt-Experiment beobachten, indem man Licht durch zwei eng benachbarte Schlitze in einer Abblendmaske auf einen weit entfernten Schirm fallen läßt (Bild 3): Dabei entstehen helle Streifen dort, wo die Wellenberge und -täler der von den beiden Spalten kommenden Lichtwellen einander verstärken (konstruktive Interferenz), dunkle hingegen, wo die Täler der einen Welle die Berge der anderen auslöschen (destruktive Interferenz). Im Teilchenbild bedeutet dies, daß die hellen (beziehungsweise dunklen) Streifen den Gebieten auf dem Schirm entsprechen, die mit hoher (beziehungsweise geringer) Wahrscheinlichkeit von Photonen getroffen werden.
Nach den Regeln der Quantenmechanik treten Interferenzen nur dann auf, wenn es mehr als einen möglichen Weg gibt, auf dem das betreffende Ereignis zustande kommen kann, und wenn diese beiden Wege sich auf keinerlei Weise unterscheiden lassen. Im Doppelspalt-Experiment können die Lichtquanten den rechten oder den linken Schlitz passieren. Ließe sich irgendwie feststellen, durch welchen ein Photon den Schirm erreicht hat, würde kein Streifenmuster entstehen, sondern lediglich ein Bild wie das, wenn man abwechselnd je einen der beiden Spalte öffnet (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1995, Seite 50).
Im Gedankenexperiment von Elitzur und Vaidman durchlaufen einzelne Photonen ein Mach-Zehnder-Interferometer. Diese von dem österreichischen Physiker Ludwig Mach und seinem Schweizer Kollegen Ludwig Albert Zehnder entwickelte und im Jahre 1891 beschriebene Vorrichtung besteht aus zwei Strahlteilern und zwei Spiegeln, die das einfallende Licht zunächst in zwei Wellenzüge aufspalten, diese dann wieder überlagern und zu zwei Detektoren weiterleiten. Demnach kann jedes Photon auf zwei möglichen Wegen von der Quelle zu einem der beiden Detektoren gelangen (Bild 4).
Sind die Wege exakt gleich lang, entspricht dieser Aufbau praktisch dem Doppelspalt-Experiment, außer daß jetzt die beiden Detektoren die Funktion des Schirms übernehmen. Entscheidend ist, daß bei dieser Konfiguration das gesamte Licht nur auf einen Detektor fällt – entsprechend den hellen Streifen im Doppelspalt-Experiment (wir nennen diesen Detektor D-hell). In der Richtung zum anderen Detektor (D-dunkel) tritt destruktive Interferenz auf, und folglich registriert er kein Photon.
Was geschieht nun, wenn wir in einen der beiden Wege unsere lichtempfindliche Murmel legen? Sofern der erste Strahlteiler wie ein exakt halbdurchlässiger Spiegel wirkt, wird das Photon mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit diesen Weg nehmen und die Murmel zu Staub zerfallen lassen (beziehungsweise die Superbombe zünden). Nimmt es den anderen, so trifft es zwar nicht auf die Murmel; aber nun kann keine Interferenz mehr auftreten, denn zwischen Quelle und zweitem Strahlteiler existiert nur noch ein möglicher Weg. Deshalb wird an dieser Stelle das Photon wiederum zufällig zu einem der beiden Detektoren gelenkt.
Strahlengang mit Hindernissen
Wird das Photon vom Strahlteiler reflektiert und trifft es auf D-hell, liefert der Versuch keine Information, da dieses Resultat auch ohne Murmel einträte. Aber genausogut kann das Photon jetzt den Strahlteiler auch geradeaus durchlaufen und auf D-dunkel treffen. Dann wissen wir mit Sicherheit, daß eine Murmel im Interferometer liegt – sonst hätte D-dunkel nicht ansprechen dürfen. Und da wir nur ein einziges Photon verwendet haben, das in D-dunkel angelangt ist, kann es nicht auf die Murmel getroffen sein. Somit haben wir eine wechselwirkungsfreie Messung durchgeführt: Die Murmel wurde mit Gewißheit nachgewiesen, ohne daß ein Photon mit ihr in Wechselwirkung getreten wäre.
Auch wenn in der Hälfte der Versuche die Murmel zerstört wird, so gilt doch: Wenn das Schema funktioniert, dann mit eindeutigem Resultat.
Das zugrundeliegende Prinzip ist ein Eckpfeiler der Quantenmechanik, nämlich des Welle-Teilchen-Dualismus. Alles hat, wie das Licht, sowohl Teilchen- als auch Wellencharakter und manifestiert sich je nach Versuchsaufbau als das eine oder das andere. Sind beide Wege des Interferometers frei, verhält das Licht sich als Welle: Es kann den zweiten Strahlteiler entlang beider Wege erreichen und zeigt Interferenz. Doch wenn die Murmel einen der beiden Wege blockiert, verhält sich das Photon als unteilbares Partikel und folgt nur einem bestimmten Weg; die bloße Anwesenheit der Murmel reicht somit aus, Interferenz zu verhindern, selbst wenn das Photon nicht mit der Murmel wechselwirkt.
Vor zwei Jahren haben wir zusammen mit Thomas Herzog, der jetzt an der Universität Genf tätig ist, das Gedankenexperiment von Elitzur und Vaidman in die Tat umgesetzt und gezeigt, daß man tatsächlich wechselwirkungsfreie Meßgeräte zu bauen vermag. Als Quelle für einzelne Photonen verwendeten wir einen speziellen optisch nichtlinearen Kristall: Fällt ein ultraviolettes Photon darauf, so wird es mitunter in zwei Tochterphotonen umgewandelt, die zwei separate und wohldefinierte Richtungen einschlagen. Indem wir eines der beiden Photonen nachwiesen, wußten wir ganz gewiß, daß das andere gerade in unseren Versuchsaufbau eintrat.
Für unser Experiment wählten wir ein Michelson-Interferometer, benannt nach dem amerikanischen Physiker Albert A. Michelson (1852 bis 1931). Es enthält nur einen Strahlteiler und ist einfacher zu justieren als ein Mach-Zehnder-Interferometer (Bild 5 oben). Die Spiegel und der Strahlteiler waren so angeordnet, daß die Photonen wieder zurück zum Herkunftsort gelenkt wurden; das entspricht dem Weg zum Detektor D-hell beim Gedankenexperiment von Elitzur und Vaidman. War keine Murmel im Interferometer, registriert D-dunkel praktisch keine Photonen (wegen kleiner Fehler der Justierung und der Komponenten jedoch ab und zu eines).
Das änderte sich gründlich, wenn wir in einen der beiden Strahlenwege das Pendant einer Murmel plazierten – einen kleinen Spiegel, der das Photon zu einem weiteren Detektor (D-Murmel genannt) umlenkte. Wie im Gedankenexperiment sprach dieser Detektor tatsächlich in etwa der Hälfte der Versuche an. In einem Viertel der Fälle erhielten wir keine Information, da das Photon wieder den Rückweg zu seinem Herkunftsort einschlug. Doch im restlichen Viertel der Versuche signalisierte ein Klick von D-dunkel wie erwartet eine wechselwirkungsfreie Messung (Bild 5 unten).
Durch eine einfache Änderung dieses Aufbaus ließ sich seine Wirksamkeit steigern: Wir verringerten die Reflektivität des Strahlteilers, damit das Photon weniger oft in Richtung D-Murmel abgelenkt wurde. Dadurch kehrt das Photon freilich auch häufiger zu seinem Ausgangspunkt zurück, und das Experiment muß entsprechend öfter wiederholt werden, um eine statistisch eindeutige Aussage zu ergeben. Zugleich näherte sich die Anzahl von erfolgreichen Versuchen (indirekter Nachweis der Murmel in D-dunkel) immer mehr der Anzahl der Fehlversuche (Zerstörung der Murmel durch Nachweis in D-Murmel) an. Das heißt: Nach dem Elitzur-Vaidman-Schema können wir tendenziell in der Hälfte der Fälle eine Messung ohne Wechselwirkung durchführen.
Der quantenphysikalische Zenon-Effekt
Ist diese fünfzigprozentige Wirksamkeit schon die oberste Grenze – oder gibt es einen weiteren quantenmechanischen Trick, mit dem sich auch diese Hürde überwinden ließe? Schließlich brachte uns Mark A. Kasevich von der Universität Stanford (Kalifornien) im Januar 1994 während seines Aufenthalts in Innsbruck auf die richtige Spur. Demnach läßt sich im Prinzip in allen Fällen die Anwesenheit der Murmel wechselwirkungsfrei feststellen (wiederum abgesehen von experimentellen Ungenauigkeiten). Die neue Technik nutzt ein weiteres seltsames Quantenphänomen, das Baidyanath Misra, der jetzt an der Universität Brüssel tätig ist, und E.C. George Sudarshan von der Universität von Texas in Austin schon im Jahre 1977 beschrieben hatten. Sie entdeckten, daß ein Quantensystem sich in seinem Anfangszustand gleichsam einfrieren läßt, obwohl es, wenn man es sich selbst überließe, in einen anderen Zustand übergehen würde. Verursacht wird dieser sogenannte Quanten-Zenon-Effekt durch die Auswirkungen einer Messung auf das Quantensystem. Ähnliche Paradoxien formulierte der griechische Philosoph Zenon (um 490 bis 430 vor unserer Zeitrechnung), indem er unter anderem folgerte, ein fliegender Pfeil könne nie an sein Ziel gelangen, weil er sich in jedem Augenblick nur an einem Punkt aufhalte (siehe Spektrum der Wissenschaft, Januar 1995, Seite 66). Während aber Zenons klassisches Paradoxon sich durch die infinitesimale Mathematik auflösen läßt, hat der Meßprozeß in der Quantenmechanik tatsächlich einen bestimmenden Einfluß auf das Resultat und ermöglicht damit das Einfrieren des Zustands; das entsprechende Prinzip heißt Projektionspostulat (Bild 10). Die neue Methode der wechselwirkungsfreien Messung greift im wesentlichen das wohl einfachste Beispiel des Quanten-Zenon-Effekts auf, das Asher Peres vom Technion in Haifa, dem Israelischen Institut für Technologie, 1980 vorgeschlagen hat. Dabei kommt eine weitere Welleneigenschaft des Lichts ins Spiel, nämlich seine Polarisation; sie bezeichnet die Schwingungsebene, in der es als transversale Welle oszilliert – auf und ab oder vertikal, von links nach rechts oder horizontal und so weiter (Bild 6). Von der Sonne oder fast allen anderen Quellen ausgehendes Licht ist unpolarisiert, das heißt, es schwingt in allen möglichen Richtungen; doch durch ein Polarisationsfilter läßt sich eine bestimmte Schwingungsebene auswählen. Zudem kann man diese durch polarisationsdrehende Substanzen – etwa eine Zuckerlösung – verändern. Passiert ein ursprünglich horizontal polarisiertes Photon zum Beispiel sechs Polarisationsrotatoren mit je 15 Grad Drehwirkung, so ist es schließlich vertikal polarisiert. Schickt man solche Photonen dann durch einen Polarisator, der nur waagrecht polarisiertes Licht durchläßt, so erreicht keines den Detektor, weil sie zuvor vom Polarisator absorbiert werden (Bild 7 oben). Doch nun suchen wir die stufenweise Drehung der Schwingungsebene mit Hilfe des Quanten-Zenon-Effekts zu unterbinden. Dazu genügt es, hinter jeden Polarisationsrotator einen horizontalen Polarisator zu plazieren (Bild 7 unten). Der erste Rotator verdreht die Polarisationsrichtung nur um 15 Grad, und darum beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß das erste Polarisationsfilter das Photon absorbiert, lediglich 6,7 Prozent (die Absorptionswahrscheinlichkeit entspricht dem zum Quadrat erhobenen Sinus des Drehwinkels). Wird das Photon im ersten Filter nicht absorbiert, bleibt es exakt horizontal polarisiert, denn nur solche Photonen können den Waagrecht-Polarisator passieren. Vom zweiten Rotator wird die Schwingungsebene erneut um 15 Grad gedreht und das Photon wiederum vom zweiten Polarisator mit derselben geringen Wahrscheinlichkeit absorbiert. Dieser Prozeß wiederholt sich, so daß das Photon schließlich am letzten Polarisator ankommen kann. Alles in allem hat ein in das System eintretendes Photon eine gute Chance von rund zwei Dritteln, nicht absorbiert zu werden und durch den gesamten Versuchsaufbau zum Detektor zu gelangen; die exakte Wahrscheinlichkeit dafür ist (cos2(15 Grad))6. Wenn wir die Zahl der Zwischenschritte erhöhen und die einzelnen Drehwinkel entsprechend anpassen (nach der Formel 90 Grad geteilt durch Anzahl der Schritte), so erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, daß das Photon den Detektor erreicht – bei 20 Schritten auf fast 90 Prozent. Mit 2500 Zwischenschritten würde das Photon nur noch mit der Wahrscheinlichkeit eins zu tausend absorbiert, und im theoretischen Grenzfall unendlich vieler Schritte könnte es sogar ungehindert passieren. Auf diese Weise läßt sich die Entwicklung des gedrehten Zustands im Prinzip gänzlich unterdrücken. Um den Quanten-Zenon-Effekt in der Praxis zu studieren, erzeugten wir wiederum mittels eines nichtlinearen Kristalls einzelne Photonen. Anstelle von sechs Rotatoren und sechs Polarisatoren verwendeten wir nur je einen, schickten aber den Lichtstrahl sechsmal durch diese Konfiguration, indem er eine geknickte Spirale durchlief (Bilder 2 und 8). Ohne Polarisator war das Photon am Ende stets vertikal polarisiert, mit Polarisator ungefähr in zwei Dritteln aller Fälle horizontal – wie nach dem Gedankenexperiment zu erwarten war.
Erhöhter Wirkungsgrad
Mit Hilfe dieses Tricks suchten wir nun die Effizienz unserer wechselwirkungsfreien Messung zu steigern, das heißt, mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit ein opakes Objekt nachzuweisen, ohne es mit Photonen zu treffen. Im Gegensatz zum eben beschriebenen Quanten-Zenon-Experiment sollte das horizontal polarisierte Test-Photon statt der geknickten Spiralbahn immer denselben Hin- und Rückweg beschreiben, also mehrmals – sagen wir sechsmal – zwischen Spiegeln reflektiert werden (um es in eine solche Anordnung bringen zu können, muß sich der eine Spiegel sehr schnell zwischen transparent und hochreflektierend umschalten können lassen; wir konnten dafür schaltbare Interferenzsysteme aus der Lasertechnik adaptieren). An einem Ende des Spiegelsystems dreht wiederum ein Rotator die Polarisationsebene in 15-Grad-Schritten, am anderen liegt ein Polarisationsinterferometer, das zum Nachweis des Objekts dient. Es ist sehr ähnlich aufgebaut wie das Interferometer unseres ersten Experiments, doch nun teilt ein polarisierender Strahlteiler das Licht auf zwei gleich lange Arme auf (Bild 9).
Dieser Strahlteiler läßt alles horizontal polarisierte Licht durch, während er vertikal polarisiertes vollständig reflektiert; die Alternative zwischen Transmission und Reflexion entspricht im wesentlichen den zwei Pfaden im Doppelspalt-Experiment. Befindet sich kein Gegenstand in diesem Interferometer, so wird das je nach Polarisation aufgespaltene Licht von Spiegeln reflektiert und am Strahlteiler überlagert. Bei exakter Einstellung des Experiments kommt das Photon wieder in genau dem Zustand aus dem Interferometer heraus, in dem es in das Gerät eintrat (also zum Beispiel nach dem ersten Mal wieder genau um 15 Grad gedreht). Nach sechs solcher Zyklen hat somit die Polarisationsrichtung wiederum von horizontal nach vertikal gewechselt.
Dies ändert sich, sobald wir ein opakes Objekt in den reflektierten Arm des Interferometers setzen. Da der vertikal polarisierte Anteil nun absorbiert wird, ist das Photon, sofern es wieder aus dem Interferometer kommt, immer horizontal polarisiert. Dies entspricht genau dem Einbringen der Polarisatoren im Quanten-Zenon-Experiment. Im ersten Durchlauf ist demnach die Wahrscheinlichkeit, daß das Photon mit seiner um 15 Grad aus der Horizontalen gedrehten Polarisation am Strahlteiler reflektiert – und vom Objekt absorbiert – wird, relativ klein (wie zuvor nur 6,7 Prozent). Wird das Photon nicht absorbiert, so muß es durch den horizontal polarisierten Arm gegangen sein und wird darum das Interferometer horizontal polarisiert verlassen.
Wie im Quanten-Zenon-Experiment wiederholt sich dieser Vorgang, bis wir nach sechs Zyklen den unteren Spiegel sehr schnell auf transparent schalten, um das Photon aus der Testanlage zu entlassen. Wenn wir nun seine Polarisation messen, so wird sie im erstgenannten Fall – ohne Murmel – auf vertikal gewechselt haben.
Doch sofern im anderen Fall die Murmel den Interferometerarm blockiert, hat der Quanten-Zenon-Effekt die Polarisationsänderung verhindert, und wir messen horizontale Polarisation; daraus können wir auf das Vorhandensein der Murmel schließen. Indem wir die Zahl der Zyklen erhöhen, lassen sich der Drehwinkel pro Zyklus und damit die Wahrscheinlichkeit einer Absorption des Photons im Prinzip beliebig verringern. In ersten Versuchen am Los-Alamos-Nationallaboratorium der USA in New Mexico haben wir einen Wirkungsgrad von 70 Prozent erreicht, hoffen aber bald bis auf etwa 85 Prozent zu kommen.
Anwendungsmöglichkeiten
Wozu mag all diese Quantenzauberei in der Praxis dienen? Es scheint sich damit zu verhalten wie mit dem Laser, anfangs einer faszinierenden Laborkuriosität, für die erst Einsatzmöglichkeiten zu finden waren.
Vom Prinzip der wechselwirkungsfreien Messung könnten wir immer dann profitieren, wenn ein Objekt abgebildet werden sollte, ohne es Licht oder einer anderen Strahlung auszusetzen. Diese seltsame Photographie könnte folgendermaßen funktionieren: Statt eines einzigen Photons würde man viele – für jedes Bildpixel eines – in Richtung des Objekts schicken und damit parallel wechselwirkungsfreie Messungen durchführen. Überall dort, wo das Objekt nicht den Weg der Photonen blockiert, würde sich ihre Polarisation stufenweise von horizontal zu vertikal ändern. An den übrigen Stellen würde (mit geringer Wahrscheinlichkeit) das jeweilige Photon verlorengehen, sonst aber die Polarisation unverändert bleiben. Nach der erforderlichen Zahl von Umläufen ließe sich durch ein Polarisationsfilter eine Abbildung des Objekts herstellen – mit Photonen, die es nie getroffen hätten: Mit einem horizontal orientierten Filter ergäbe sich eine Art Schattenriß, mit einem vertikal orientierten Negativ. In bestimmten Fällen ließe sich auch ein Bild von teilweise transparenten Objekten und vielleicht sogar für unterschiedliche Farben produzieren (Bild 11).
Diese Methode ist keineswegs auf sichtbares Licht beschränkt. Röntgenstrahlen etwa – und aufgrund des Welle-Teilchen-Dualismus auch alle Arten von Materiestrahlung – lassen sich ebenfalls für wechselwirkungsfreie Messungen verwenden. Wichtig ist, daß die benutzten Quantenteilchen für interferometrische Zwecke geeignet präpariert werden können. Zum Beispiel würden sich auf diese Weise im Prinzip lebende Zellen mit Röntgenstrahlen photographieren lassen; Geräte dieses Typs könnten das Strahlungsrisiko für den Patienten deutlich senken. Wie das praktisch funktionieren soll ist allerdings noch nicht abzusehen, weil optische Systeme für entsprechende Wellenlängen äußerst schwierig herzustellen sind.
Vorderhand bietet sich vor allem die Vermessung von Quantensystemen an, zum Beispiel von ultrakalten Atomwolken. Kürzlich hat man nach Erreichen sehr niederer Temperaturen und hoher Dichten erstmals die sogenannte Bose-Einstein-Kondensation experimentell beobachtet. Dabei gehen alle Atome in den gleichen Quantenzustand über; sie verhalten sich nicht mehr unabhängig voneinander, sondern kollektiv als Einheit (Spektrum der Wissenschaft, September 1995, Seite 32). Normalerweise würde bereits die Streuung eines einzigen Photons ein Atom solch einer Wolke stark aufheizen und es sofort aus dem Verband stoßen. Wechselwirkungsfreie Meßtechniken böten die Möglichkeit, diesen Quantenzustand direkt darzustellen.
Außerdem könnte die wechselwirkungsfreie Messung auch zur Manipulation von Quantensystemen dienen. Da eine Messung den Zustand des Meßapparats direkt mit dem des beobachteten Systems koppelt, kann man auf diese Weise die Eigenschaften mehrerer Quantensysteme verknüpfen.
In den letzten Jahren wurden große experimentelle Fortschritte in der Interferometrie mit Materiewellen erzielt. Dabei beobachtet man das Interferenzverhalten von massiven Teilchen – von Elektronen, Neutronen, Atomen und kürzlich sogar von Molekülen. Nehmen wir nun an, der zu beobachtende Gegenstand sei ein Atom, das sich gerade auf einem von zwei möglichen Wegen eines Interferometers bewegt. Unsere wechselwirkungsfreie Messung sei entlang des ersten Wegs so justiert, daß das Photon horizontal polarisiert wird, wenn das Atom hier vorbeikommt, und vertikal, wenn das Atom den anderen Weg nimmt. Damit haben wir aber eine Eigenschaft des Atoms (zum Beispiel: "befindet sich auf dem ersten Weg") direkt mit einer Eigenschaft des Photons ("horizontal polarisiert") verknüpft.
Ein solcher Zustand wird – nach dem österreichischen Physiker Erwin Schrödinger (1887 bis 1961; Nobelpreis 1933) – als verschränkt bezeichnet. Schickt man anstelle eines einzigen Photons mehrere durch die Meßvorrichtung, so wird eine Eigenschaft aller Photonen mit einer des Atoms verknüpft. Diese verschränkten Vielteilchenzustände würden, wenn es gelänge, sie im Labor zu erzeugen, tiefere Einblicke in das Gefüge der Quantenmechanik eröffnen.
Analogien für Schrödingers Katze
Benutzen wir nicht nur einzelne abgezählte Photonen für die wechselwirkungsfreie Messung, sondern ganze Lichtpulse aus dem Laser, so koppeln wir die Eigenschaften eines Quantensystems mit denen eines klassisch beschreibbaren Systems und realisieren damit ein berühmtes quantenphysikalisches Gedankenspiel, nämlich Schrödingers Katze. Schrödinger warf seinerzeit die Frage auf, ob eine unbeobachtete Katze noch lebe oder schon tot sei (oder beides zugleich), wenn sie in einen Kasten mit einem Mechanismus gesperrt ist, der mit gewisser Wahrscheinlichkeit ein Giftgas freisetzt. Ähnlich unserem Quantenteilchen, von dem wir nicht mehr sagen konnten, entlang welchen Weges es das Interferometer durchquert hat, existiert das Tier in einer Überlagerung zweier möglicher Zustände.
Vor etwa einem Jahr ist es Wissenschaftlern des National Institute of Standards and Technology in Boulder (Colorado), erstmals gelungen, ein einzelnes Beryllium-Ion in solch einen verschränkten Zustand zu versetzen. Dabei manipulierten sie mit Laserpulsen das in einer Falle gefangene Teilchen derart, daß es als makroskopische Überlagerung mehrerer Schwingungszustände präpariert wurde (Spektrum der Wissenschaft, August 1996, Seite 24). Mit einer perfekten Messung könnte man ebenso einen ganzen Lichtpuls mit einer Überlagerung von makroskopisch unterscheidbaren Eigenschaften verschränken und so den Grenzbereich zwischen Quantenwelt und klassischer Physik genauer untersuchen.
Die intuitiver Einsicht widerstrebenden Phänomene der Quantenwelt strapazieren auch das Vorstellungsvermögen von uns Physikern. Unterdessen haben mehrere Forscher die Idee der wechselwirkungsfreien Messung aufgenommen und für andere optische und interferometrische Systeme verallgemeinert. Gewiß wird man künftig zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten entwickeln. Die theoretischen Grundlagen dafür – das Komplementaritätsprinzip, der Welle-Teilchen-Dualismus und die seltsame Wirkung einer Quantenmessung – sind bereits seit den dreißiger Jahren bekannt; doch erst seit kurzem vermag man auf diesem faszinierenden Gebiet vom Gedankenexperiment zum praktischen Laborversuch überzugehen.
Literaturhinweise
- QED: The Strange Theory of Light and Matter. Von Richard P. Feynman. Princeton University Press, 1985.
– Quantum Mechanical Interaction-Free Measurements. Von Avshalom C. Elitzur und Lev Vaidman in: Foundations of Physics, Band 23, Heft 7, Seiten 987 bis 997, Juli 1993.
– Interaction-Free Measurement. Von P. G. Kwiat, H. Weinfurter, T. Herzog, A. Zeilinger und M.A. Kasevich in: Physical Review Letters, Band 74, Heft 24, Seiten 4763 bis 4766, 12. Juni 1995.
– Zu wechselwirkungsfreien Messungen siehe im World Wide Web unter http://info.uibk.ac.at/c/c7/c704/qo/photon/#Inter und unter http://p23.lanl.gov/Quantum/kwiat/ifm-folder/ifmtext.htm
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1997, Seite 42
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