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Sterben für eine Quadratwurzel?

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In der veröffentlichten Meinung sehen gegenwärtig die Polen nicht gut aus: Plötzlich beharren sie auf einer Berechnungsformel mit einer Quadratwurzel, von der bisher noch nie jemand so richtig gehört hat, und erscheinen damit wie störrische Quertreiber. Nein, bitte nicht noch so eine Serie quälender Nachtsitzungen! Das hatten wir doch schon beim Vertrag von Nizza und beim Entwurf einer EU-Verfassung. Natürlich will jedes Land im EU-Ministerrat mit einem möglichst großen Stimmgewicht vertreten sein. Aber wie groß diese Zahl im Einzelnen sein sollte? Das muss ausgehandelt werden, und da sollen doch diese Polen nicht kurz vor Schluss mit neuen Ideen kommen, die sowieso kein Mensch versteht und deren einzige Folge wäre, dass Polen – und vielleicht noch Tschechien – etwas besser dasteht.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Erstens ist die Idee mit der Quadratwurzel alles andere als neu und wurde auch bei den Verhandlungen schon beizeiten vorgebracht. Zweitens: Die Formel "Quadratwurzel aus der Bevölkerungszahl geteilt durch Landesfläche", die im Moment eine Tageszeitung von der anderen abschreibt, ist in der Tat absurd, und zwar so krass, dass man es nach zwei Minuten Nachdenken merken kann. Drittens und entscheidend: Wahrscheinlich ist die Formel mit der Quadratwurzel (ohne den Unfug mit der Landesfläche) die vernünftigste überhaupt.
Die Ausarbeitung dazu kommt ausgerechnet aus Deutschland. Werner Kirsch, Professor für mathematische Physik in Bochum, hat eine 1946 erschienene Arbeit des britischen Arztes, Genetikers und Mathematikers Lionel Penrose (1898 – 1972) aufgegriffen und weiterentwickelt (es handelt sich um den Vater des Mathematikers Roger Penrose). Danach wird ein Machtgleichgewicht unter allen EU-Bürgern genau dann erreicht, wenn das Stimmgewicht jedes Landes proportional zur Quadratwurzel seiner Einwohnerzahl ist (siehe Link zur Uni Bochum auf der linken Seite).

Wie kommt Penrose zu seiner Wurzel?

Wie kann das sein? Warum soll man überhaupt von dem guten alten Prinzip "one man, one vote" (neuerdings politisch korrekt: "one person, one vote") abgehen?
Die erste, vorläufige Antwort ist: weil die Macht in einem Gremium wie dem Ministerrat, in dem verschiedene Mitglieder verschiedene Stimmgewichte haben, nicht einfach proportional diesem Stimmgewicht ist. Ein einfaches Gegenbeispiel ist ein Gremium – sagen wir eine Aktiengesellschaft –, in der ein Mitglied über die Mehrheit der Stimmen verfügt. Offensichtlich sind dann die Stimmen aller anderen Mitglieder nichts wert, selbst wenn sie nahezu 50 Prozent aller Stimmen überhaupt ausmachen. Gern zitiert wird auch das Beispiel Luxemburg, das im Ministerrat der alten, kleineren EU eine Stimme hatte. Der Vertreter des Großherzogtums hätte sich an den Abstimmungen überhaupt nicht zu beteiligen brauchen. Denn einerlei, welcher Teil der anderen, deutlich größeren Länder für beziehungsweise gegen eine Vorlage stimmte: Es gab keine einzige Konstellation, in der es auf die Stimme Luxemburgs angekommen wäre.
Also wie groß ist die Macht eines Gremienmitglieds nun wirklich? Eine von mehreren denkbaren Antworten ist der Banzhaf'sche Machtindex (Spektrum der Wissenschaft 11/1993, S. 12, siehe Link auf der linken Seite); für eine Alternative siehe Spektrum der Wissenschaft 1/1987, S. 32). Man nehme ein Mitglied x aus dem Gremium heraus und bilde alle möglichen Aufteilungen der restlichen Mitglieder in zwei "Lager", sagen wir die Zustimmer und die Ablehner. Der Banzhaf'sche Machtindex des Mitglieds x ist der Anteil derjenigen Aufteilungen, in denen das Stimmverhalten von x den Ausschlag gibt, x also das "Zünglein an der Waage" ist.
Idealisieren wir nun den Entscheidungsprozess innerhalb des Ministerrats ein wenig. Es werden nur Fragen vorgelegt, zu denen man "ja" oder "nein" sagen kann; die Verhandlerei hinter den Kulissen lassen wir schlicht außer Acht. Der Vertreter jedes Landes folgt dem imperativen Mandat, das heißt, vor jeder derartigen Entscheidung fragt er sein Volk und stimmt dann so ab, wie die Mehrheit seines Volkes es will. (Ich sage doch, es ist eine Idealisierung.) Welche Macht hat bei dieser Volksbefragung der einzelne Bürger?
Nicht viel, und je größer das Volk ist, desto weniger. Aber es ist nicht so viel weniger, wie man erwarten würde.
Meine Stimme gibt genau dann den Ausschlag, wenn der Rest meines Volkes in zwei genau gleich große Lager gespalten ist. Idealisieren wir noch etwas weiter: Alle meine Mitbürger bilden sich ihre Meinung unabhängig voneinander, und sie kreuzen mit gleicher Wahrscheinlichkeit "ja" oder "nein" auf dem Stimmzettel an. Dann gibt es bei n Wahlberechtigten (mich selbst nicht mitgerechnet) zwar 2n mögliche Wahlausgänge, darunter aber gar nicht so wenige, bei denen es auf mich ankommt; ihre Anzahl ist gleich dem Binomialkoeffizienten von n und n/2, und nach einigem Herumrechnen mit der Stirling'schen Formel für Fakultäten großer Zahlen stellt sich heraus: Mein persönlicher Machtindex ist nicht etwa proportional zu 1/n, sondern zur Wurzel aus 1/n.
Innerhalb meines Landes ist dieser Zahlenwert bedeutungslos, denn meinen Mitbürgern geht es genauso wie mir. Auf europäischer Ebene sollte ich jedoch dieselbe Macht haben wie mein Mitbürger aus den Nachbarstaaten. Damit das hinkommt, muss die Stimme meines Landes mit √n multipliziert werden – und eben nicht mit n, wie dem Prinzip "one person, one vote" entspräche. Das ist die Begründung für die Wurzelformel von Penrose.

Der Wähler als kleiner Spin

Wenn Sie an dieser Stelle ein gewisses Stirnrunzeln überkommt, sind Sie wahrscheinlich nicht ganz allein. Lassen wir die Sache mit dem imperativen Mandat noch als unvermeidliche Vereinfachung gelten – ein mathematisches Modell kann die Wirklichkeit halt nicht in ihrer ganzen Vielfalt erfassen –; aber die ganze Argumentation unterstellt ja, der Fall, dass es in ganz Deutschland ausgerechnet auf meine Stimme ankommt, sei irgendwie von Bedeutung oder wenigstens repräsentativ für eine Vielzahl von Fällen. Das ist schon harter Tobak.
Es ist Kirsch gelungen, den Grundgedanken hinter Penroses Herleitung etwas plausibler zu fassen. Warum soll man überhaupt von der schlichten Proportionalität abweichen? Weil die Stimmen jedes Landes einheitlich abgegeben werden. Damit fallen die Meinungen derjenigen Bürger, die in ihrem eigenen Land in der Minderheit sind, unter den Tisch. (Sowie die Einheitlichkeit der Stimmabgabe nicht mehr gefordert ist, entfällt dieses Argument; niemand kommt auf die Idee, eine Quadratwurzelformel etwa auf die Besetzung des Europäischen Parlaments anzuwenden.)
Wie in jedem mehrstufigen Entscheidungsverfahren kann auf diesem Wege der Wille der Gesamtbevölkerung in sein Gegenteil verkehrt werden: Eine Mehrheit der Amerikaner hatte Gore gewählt, gleichwohl wurde Bush Präsident, eben weil eine (möglicherweise knappe) Mehrheit in einem Bundesstaat sämtliche Wahlmännerstimmen dieses Bundesstaats auf die Seite dieser Mehrheit bringt. Vom Standpunkt eines aufrechten Demokraten ist das das Schlimmste, was passieren kann. Also gilt es, die Differenz zwischen den Mehrheitsverhältnissen im Volk (sprich allen Wählern Europas) und denen im Gremium (dem Ministerrat), das so genannte Mehrheitsdefizit, möglichst klein zu halten.
Das ist eine klassische Minimierungsaufgabe; sie wird zu einem definierten mathematischen Problem, wenn man geeignete Annahmen über das Verhalten der Wähler macht. An dieser Stelle greift Kirsch auf die Modelle zurück, die ihm als statistischem Physiker geläufig sind: Spinsysteme. Ein Spin ist in dieser Abstraktion nichts weiter als ein kleines Teilchen, das den Zustand 1 oder –1 annehmen kann, wie eben ein Wähler, der zu einer politischen Frage "ja" oder "nein" sagt. Unter der Annahme, dass alle diese Teilchen ihre Zustände unabhängig voneinander annehmen und mit gleicher Wahrscheinlichkeit "ja" wie "nein" sagen, stellt sich heraus: Die Lösung der Minimierungsaufgabe ist die Wurzelformel. Bestimmt man nach ihr die Stimmstärken des Gremiums, so minimiert man das Mehrheitsdefizit und damit die Wahrscheinlichkeit, dass eine Entscheidung im Ministerrat dem Willen der europäischen Bevölkerung widerspricht.
Dieses Ergebnis hat eine interessante politische Interpretation. Das kann schon sein, dass die Brüder Kaczynski sich für die Wurzelformel ins Zeug legen, um damit die Deutschen zu deckeln. Nur: Die Wurzelformel schützt nicht nur die Polen vor der Übermacht der Deutschen, sondern vielleicht auch eine Minderheit der Deutschen vor der Mehrheit der Deutschen. Nehmen wir an, zu einer bestimmten Frage sagen alle Polen "ja", aber 52 Prozent der Deutschen "nein" und 48 Prozent "ja". Vertreter beider Länder halten sich an die Mehrheit im jeweils eigenen Land; das gibt selbst nach der Wurzelformel mehr Nein- als Ja-Stimmen. Immerhin ist die Differenz geringer als nach der proportionalen Stimmgewichtung, sodass die Chance für ein Endergebnis "ja" etwas größer ist.
Für Deutschland und Polen zusammengenommen entspräche das Ergebnis "ja" sogar dem Willen einer großen Mehrheit. Die 48 Prozent der Deutschen, deren Stimmen unter den Tisch fallen, sind schließlich etwas mehr als alle Polen zusammen. Es wäre im Sinne der Demokratie, wenn deren Meinung auf dem Umweg über die polnischen Stimmen doch noch zur Geltung käme. Und da die Deutschen in ganz Europa tendenziell die größten Minderheiten haben (sie haben nämlich die größte Einwohnerzahl), muss man diese Minderheiten am intensivsten schützen, indem man das Stimmgewicht der Deutschen am stärksten deckelt.
Nun ist die Annahme, die Wähler seien nichts weiter als unabhängige, identisch verteilte Zufallsgrößen, immer noch ziemlich fern der Realität. Nationale Traditionen spielen eine erhebliche Rolle und erklären, warum die Wähler in verschiedenen Ländern der EU dieselbe Frage höchst unterschiedlich beantworten; außerdem neigen Wähler ohne klare Präferenzen dazu, sich den Meinungsführern ihres Landes anzuschließen. Aber Kirsch hat für diese Fälle die Modellierungswerkzeuge der Vielteilchenphysik bereits in der Kiste: Eine meinungsbildende Instanz wie beispielsweise die katholische Kirche wirkt wie ein externes Magnetfeld, das die Spins in eine bestimmte Richtung auszurichten trachtet. Dass Spins sich ihren Nachbarn anzugleichen versuchen, ist ein beliebtes Modell für magnetische Kristalle. Beides kann man durchrechnen und kommt zu dem Ergebnis, dass unter derartigen Umständen die optimale Verteilung der Stimmgewichte vom Quadratwurzelgesetz in Richtung auf das Prinzip "one person, one vote" abweicht. Zu allem Überfluss kann man aus dem vergangenen Wahlverhalten der Bevölkerung erschließen, ob es sich um eine eher individualistische oder eher uniforme Gesellschaft handelt, und die Formel entsprechend anpassen.

Ein Kontinuum von Stimmgewichtsformeln

Damit schält sich so etwas wie ein Gesamtbild heraus. Es gibt die Extrempositionen "one person, one vote" und "one country, one vote". Letztere wird in der Vollversammlung der Vereinten Nationen praktiziert und funktioniert nur deshalb, weil diese Vollversammlung sowieso keine ernsthaften Beschlüsse fassen kann. Auch in der EU vertritt niemand die Forderung, Malta sollte so viel zu sagen haben wie Deutschland.
Gleichwohl lassen sich für diese Position gute, wenn auch nicht ausschließlich geltende Argumente finden: Staaten haben ein gewisses Eigenleben und sollten deshalb als solche und nicht nur kraft ihrer Einwohnerzahl ein gewisses Stimmgewicht bekommen.
Na gut; interpolieren wir also zwischen den beiden Extremen. Das geht ganz einfach. Das Stimmgewicht eines Landes mit n Einwohnern berechnet sich nach der Formel Cna. Dabei ist C ein eher unbedeutender Normierungsfaktor, mit dem man die Gesamtsumme der Stimmgewichte auf einen gewünschen Wert bringen kann. Der Exponent a ist eine Zahl zwischen 0 und 1; dabei entspricht der Extremwert 0 dem Prinzip "one country, one vote" und der Wert 1 dem Prinzip "one person, one vote". Und siehe da: Das geschmähte Quadratwurzelgesetz liegt mit a=1/2 genau in der Mitte!
Es kommt noch ein weiterer interessanter Zusammenhang hinzu. Alle Formeln der Gestalt Cna erfüllen eine Bedingung, die der französische Mathematiker Michel Balinski "Kohärenz" nennt. Wie er in seinem Artikel "Die Mathematik der Gerechtigkeit" (Spektrum der Wissenschaft 3/2004, S. 90, wieder abgedruckt im Dossier 5/2006 "Fairness, Kooperation, Demokratie", S. 24; siehe Links auf der linken Seite) erläutert, ist Kohärenz eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Zuteilungsverfahren von allen Beteiligten als gerecht empfunden wird und vor allem nachträglichen Wünschen nach Umverteilung keine Rechtfertigung liefert.
Auf Balinskis Artikel hin hat unser Leser Josef Lamprecht die im Vertrag von Nizza festgelegten Stimmgewichte für die Staaten der EU durch die Formel Cna auszudrücken versucht. Die beste Anpassung gelang mit dem Wert a=0,555, also geringfügig oberhalb des Quadratwurzelgesetzes. Gemessen an dieser Formel waren damals Polen und Spanien zu gut weggekommen, Rumänien und Deutschland dagegen zu schlecht (Spektrum der Wissenschaft 6/2004, S. 7).
Dieser Fehler scheint sich – auch ohne Formel – unter den Zuständigen herumgesprochen zu haben und wurde allem Anschein nach im Entwurf der europäischen Verfassung korrigiert. Allerdings haben die Erarbeiter des Entwurfs beim Korrigieren wohl etwas zu viel des Guten getan, sodass nun die Polen Anlass zum Klagen hatten.
Über den Wert des Exponenten a hinaus steht den Konstrukteuren der Abstimmungsprozedur eine weitere Stellschraube zur Verfügung: das so genannte Quorum, also der Prozentsatz aller Stimmen, der für die Annahme einer Vorlage erforderlich ist. Ein Quorum von 50 Prozent entspricht der schlichten Mehrheitsentscheidung; der Verfassungsentwurf enthält ein Quorum von 55 Prozent der Stimmen im Ministerrat mit der Zusatzbedingung, dass die zustimmenden Länder mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung enthalten müssen.
Auf jeden Fall zeigt dieser Abgleich, dass die Vorstellungen der europäischen Regierungen, abzulesen am Vertrag von Nizza einerseits und am Verfassungsentwurf andererseits, vom Quadratwurzelgesetz nicht sonderlich weit entfernt sind. Wenn diese Regierungen sich dazu durchringen könnten, dieses Gesetz tatsächlich zu praktizieren – vielleicht mit einem etwas höheren Exponenten und garniert durch ein geeignetes Quorum –, würden sie die Diskussion von der Ebene der Interessen einzelner Länder auf ein höheres, abstrakteres Niveau transportieren. Dort sollte sich ein Konsens deutlich leichter finden lassen.
In einem Fall ist es Balinski und seinem Augsburger Fachkollegen Friedrich Pukelsheim schon gelungen, mit einem einleuchtenden mathematischen Algorithmus Stimmzahl-Zuweisungsprobleme für alle Beteiligten überzeugend und konsensfähig zu lösen (Spektrum der Wissenschaft 4/2007, S. 76; siehe Link auf der linken Seite). Das Gremium war zwar deutlich kleiner: der Zürcher Gemeinderat. Aber eine ähnliche Anstrengung auf europäischer Ebene wäre sicherlich der Mühe wert.
Die europäischen Bürokraten müssten sich allerdings mit so ungewohnten Dingen wie Quadratwurzeln oder – schlimmer noch – Potenzen mit nicht-ganzen Exponenten zwischen 0 und 1 anfreunden. Nur keine Panik! Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, sind diese Begriffe nicht wirklich schwer.

Christoph Pöppe

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