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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer bitteren Arznei mit ungeahnter Wirkung

Eigentlich wollte der junge deutsche Arzt nur den venezolanischen Freiheitskampf unterstützen. Warum es dank einer bitteren Erfindung ganz anders kam, erzählen unsere Kolumnisten.
Ein Fläschchen Angostura Aromatic Bitters
Angosturabitter kam ursprünglich als Tonikum gegen allerlei Verdauungsbeschwerden auf den Markt. Erfunden hat es ein junger Deutscher, der in Venezuela in Diensten der Unabhängigkeitsbewegung nach einem neuem Leben suchte.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Johann Gottlieb Benjamin Siegert war zwar erst 24, aber bereits ein erfahrener Wundarzt, als ihn Lopez Mendez mitten in Hamburg ansprach. Jemanden wie ihn könnten sie gebrauchen, drüben in Venezuela, erklärte ihm der Mann. Jemand, der eine Perspektive sucht, vielleicht das Abenteuer. Geld. Jemand, der Teil der großen Sache sein will, die der berühmte Simón Bolívar dort ausfocht – für das Volk und gegen die spanische Krone. Ob er sich nicht der Armee des Unabhängigkeitskämpfers anschließen wolle?

Den Krieg kannte Siegert. Keine fünf Jahre zuvor hatte er in preußischen Diensten gestanden, war als blutjunger Regimentsarzt an der Schlacht von Waterloo beteiligt, mit 19 Jahren. Anschließend hatte er Medizin in Berlin studiert, sein Bruder hatte das Geld vorgeschossen, es kam zum Zoff, die beiden überwarfen sich. Ahnte er schon, als er 1820 in Hamburg ein Segelschiff bestieg, dass er nie mehr nach Europa zurückkommen sollte?

Wie Siegert ging es vielen Veteranen der Koalitionskriege. Seit Napoleon im Exil lebte, seitdem Friede eingekehrt war auf dem alten Kontinent, mangelte es an Arbeit für die professionellen Kämpfer, speziell für die höheren Ränge. Söldnerwerber wie Lopez Mendez stießen bei ihnen auf offene Ohren. Einer nach dem anderen schrieb sich in die Revolutionsarmee ein.

Auch Siegert unterzeichnete und gab seinem Leben eine neue Wendung. Jahre später wird er es mit einer anderen Unterschrift, diesmal auf dem Etikett eines kleinen Fläschchens, zur Berühmtheit bringen: Bis heute ist seine Signatur in millionenfacher Ausfertigung in den Supermärkten der Welt zu finden.

Unter Bolívar kämpfte Südamerika für die Unabhängigkeit

Zunächst aber stand seine Reise über den Atlantik an. Als sich der junge Arzt Richtung Südamerika einschiffte, hatte das heutige Venezuela schon Jahre des Konflikts hinter sich. Die Unabhängigkeitsbewegung war um 1808 entstanden, als Napoleons Invasion in Spanien das Mutterland von seinen Kolonien abschnitt. Daraufhin nutzten die Freiheitskämpfer ihre Chance und setzten ihre spanischen Gouverneure ab. 1809 machte Ecuador den Anfang, erklärte sich für unabhängig, zwei Jahre später rief Venezuela die »Erste Venezolanische Republik« aus.

»El Libertador« | Simón Bolívar (1783-1830) gilt wegen seiner Rolle in den Unabhängigkeitskriegen in vielen Ländern Lateinamerikas als Volksheld. Der Freiheitskampf zog Männer aus ganz Europa an, so auch Johann Siegert. Die Malerei stammt von José Gil de Castro.

Mit dabei in der Junta der Unabhängigkeitskämpfer war auch ein gewisser Simón Bolívar – zunächst noch nicht als deren Führer. In Caracas, der wichtigsten Stadt Venezuelas und zugleich sein Geburtsort, musste er miterleben, wie die Spanier die Republikaner vertrieben. Ein Jahr später, 1813, marschierte er dann selbst an der Spitze eines kleinen Heers, dem sich im Lauf des Feldzugs immer mehr venezolanische Freiwillige anschlossen, Richtung Caracas. Die »Campaña Admirable« endete mit einem triumphalen Einzug in die Hauptstadt und der Ausrufung der Zweiten Republik.

Doch der Krieg ging weiter. 1818 kam es in Angostura, einer Stadt am Orinoko, dem wichtigsten Fluss Venezuelas, zu einem wegweisenden Treffen: Bolívar gab beim »Kongress von Angostura« das Ziel aus, das Vizekönigreich Neugranada zu zerschlagen und den Staat Großkolumbien schaffen zu wollen. Schon ein Jahr später erreichte »El Libertador« sein Ziel. Er war nun erster Präsident der neu gegründeten Republik, die aus den heutigen Staaten Kolumbien, Ecuador, Panama, Venezuela und Teilen Perus und Guyanas bestand. Das Vizekönigreich Neugranada war Geschichte. Die Kämpfe gingen allerdings weiter, in Venezuela dauerte es bis 1823, ehe die letzten spanischen Streitkräfte kapitulierten.

Nicht nur für die Feldzüge, auch für den Aufbau des neuen Staats brauchte es fähige Leute, wie Siegert recht bald erfuhr, als er 1820 den Orinoko flussaufwärts nach Angostura fuhr. Schon kurze Zeit später galt er als wichtigster Arzt in der Gegend. Er versorgte verwundete Soldaten als Militärchirurg, wurde später Leiter des städtischen Krankenhauses, eröffnete eine eigene Praxis und betrieb eine Apotheke. Und fand offenbar bei alldem noch ausreichend Zeit, sich mit den Pflanzen und Heilkräutern vor Ort zu beschäftigen. Viele davon waren ihm völlig neu.

Ein Kräutermix mit Doppelnutzen

Irgendwann startete er den Versuch, durch das Mischen von unterschiedlichen Kräutern ein Tonikum herzustellen, das gegen allerlei Probleme mit der Verdauung helfen sollte: Blähungen, »Magenerkältungen« und Diarrhöen. Ab 1824 war er mit seiner Mixtur so weit zufrieden, dass er sie in der Apotheke zum Kauf anbot. Auch gegen Appetitlosigkeit, Blutarmut und diverse Arten der Schwäche sollte das bitter schmeckende Getränk wirken. Siegert war jetzt nicht nur Arzt, sondern auch Unternehmer, das Kräutertonikum »Amargo de Angostura« sein Produkt.

Die genaue Rezeptur ist bis heute natürlich ein Firmengeheimnis. Bekannt ist, dass der »Angostura« neben Enzianwurzel auch Gewürznelken, Kardamom, Zimt sowie Chinarinde enthält, sein Alkoholgehalt liegt bei über 44 Volumenprozent. Bald schon schickte Siegert die ersten Flaschen nach Europa. In Südamerika war sein Tonikum da längst ein gefragtes Mittel.

Der Vertrieb lief sogar so gut, dass er 1856 seine Arztpraxis und auch die Leitung des Krankenhauses aufgab, um sich mehr seinem Unternehmen widmen zu können. Denn mit der Zeit waren speziell die Seeleute auf den Geschmack gekommen. Sie hatten entdeckt, dass ein wenig Angostura nicht nur dem Magen gut bekam, sondern auch ihren Drinks. Ihre Vorliebe für einen Spritzer Bitter in Rum, Gin oder Whisky trug das Tonikum um die Welt.

Früher Heilmittel, heute Cocktailbitter

1873 erhielt Angostura bei der Wiener Weltausstellung eine Goldmedaille. Das lässt sich noch heute auf dem Etikett nachlesen, das nicht nur merkwürdig über die Schulter der Flasche hinausschaut, sondern auch erstaunlich viel Text enthält. Dort wird die komplette Firmengeschichte nacherzählt, außerdem gibt es die Porträts und die Unterschrift von Siegert zu sehen, neben dem Bild von Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916). In die Regierungszeit des österreichischen Potentaten fiel die Weltausstellung, auf der Angostura prämiert wurde.

Im Lauf der Jahre wurde Angostura immer weniger als medizinisches Getränk verkauft, sondern etablierte sich schließlich als Zutat für zahlreiche Cocktails – wofür es noch heute verwendet wird.

Das geschah aber erst nach dem Tod des Erfinders. Siegert, der als Militärarzt aus Deutschland auswanderte, um Bolívar zu unterstützen und ein weltweit bekanntes Kräutertonikum erfand, starb 1870 in Ciudad Bolívar, wie Angostura inzwischen hieß. Daraufhin übernahmen seine Kinder das Unternehmen und verlagerten den Standort 1875 nach Port of Spain auf Trinidad und Tobago. In dem Inselstaat vor dem Orinokodelta wird der Cocktailbitter noch heute produziert.

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