Geräuschempfindlichkeit: Misophonie – ein Defekt im Gehirn?
Misophonie – im Deutschen auch manchmal Selektive Geräuschintoleranz – bezeichnet einen Zustand, in dem Menschen durch bestimmte Alltagsgeräusche wütend werden oder sich davon stark gestört fühlen. Beispiele sind Essgeräusche, Gähnen oder Räuspern. Dabei handelt es sich um keine offiziell anerkannte psychische (oder neurologische) Störung. Dass es Leute mit diesen Problemen gibt, ist in der Forschung nicht umstritten. Wohl aber, was die Ursache dafür ist.
Die psychologische Perspektive schließt auf eine gelernte Verbindung zwischen den negativen Gefühlen und dem auslösenden Geräusch. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden innerhalb kürzester Zeit drei Packungen Ihrer Lieblingschips essen. Davon würde Ihnen speiübel. Beim nächsten Mal bräuchten Sie die Chips nur aus der Ferne zu sehen, damit sich Ihnen schon der Magen umdrehte. Ähnliches könnte auch mit Geräuschen funktionieren.
Die neurologische Sichtweise vermutet demgegenüber eine Störung im Gehirn, durch die manche Geräusche so negativ erfahren werden. Da sich natürlich auch Lernvorgänge im Gehirn widerspiegeln, könnte es sein, dass die psychologische und die neurologische Perspektive einmal ineinander aufgehen.
Forscher kreieren ihre Welt
Britische Hirnforscher um Sukhbinder Kumar vom Institut für Neurowissenschaften der Newcastle University haben zum Thema gerade in der Zeitschrift "Current Biology" eine Studie veröffentlicht. Dieser haben sie den wenig bescheidenen Titel "The Brain Basis for Misophonia" gegeben. Als ob es für die Störung eine klare Ursache im Gehirn gäbe und sie diese nun gefunden hätten. Dieser weit reichende Titel sollte einen schon wegen der kleinen Stichprobe (N = 20) stutzig machen. Diese Personen wurden zudem mit Werbeanzeigen auf einer Informationsseite für Betroffene rekrutiert und anhand eines selbst gebastelten Fragebogens untersucht. Die von den Amsterdamer Psychiatern Arjan Schröder, Nienke Vulink und Damiaan Denys 2013 vorgeschlagenen Diagnosekriterien wurden nicht verwendet.
Im Folgenden soll es nicht darum gehen, das Leiden der Betroffenen zu relativieren. Vielmehr soll eine Analyse der Aussagen der Hirnforscher ein besseres Verständnis dafür liefern, wie Wissenschaftler über psychische Störungen kommunizieren und damit eine eigene Realität kreieren. Hierbei handelt es sich mitnichten um einen Einzelfall. Ich danke einem Leser, der mich auf diese Studie aufmerksam machte.
Für die Untersuchung unterschieden die Hirnforscher drei verschiedene Arten von Stimuli: Auslösergeräusche (wie Geräusche des Essens, Atmens oder Trinkens), unangenehme Geräusche (etwa ein schreiendes Baby oder eine schreiende Person) und neutrale Geräusche (so wie Regen oder ein lebhaftes Café). Neben den 20 Betroffenen wurden auch 22 Kontrollpersonen untersucht.
Wie zu erwarten, fanden die Betroffenen die Auslösergeräusche furchtbar. Dies äußerte sich nicht nur in Befragungen, sondern auch in einer gesteigerten Herzfrequenz und Hautleitfähigkeit. Dies sind klassische Merkmale einer Angst- oder Stressreaktion. Bei den Kontrollpersonen oder den unangenehmen Geräuschen kam es zu keiner solchen Reaktion.
Tautologische Forschung
Interessant war jetzt der Blick aufs Gehirn: Die Forscher untersuchten die Reaktion der Probanden auf die Stimuli nämlich im Kernspintomografen. Die Auslösergeräusche korrelierten dabei mit stärkeren Aktivierungen der Betroffenen in den Insulae (Inselrinden) links und rechts. Dieser Gehirnbereich wird allgemein mit negativen Emotionen wie Angst oder Ekel in Zusammenhang gebracht.
Dabei werfen einige der Aussagen, die die Neurowissenschaftler über ihre Funde tätigen, sprachliche Probleme auf. Beispielsweise schreiben sie:
"... Jetzt, da wir die vordere Inselrinde als Schlüsselregion identifiziert haben, die die Auslösergeräusche in den misophonischen Patienten unterscheidet ..."
Übers. d. A.
Hier wird eine Gehirnregion zum Akteur gemacht. Es sind nicht mehr die Betroffenen oder die Versuchsleiter, die die Geräusche in unterschiedliche Kategorien einteilen. Es sind auch nicht die Auslösergeräusche, die die Gehirnaktivität verursachen. Nein, plötzlich unterscheidet das Gehirn, welche Stimuli die problematischen sind und welche nicht.
Ich würde dieses Beispiel, das hier relativ harmlos sein mag, nicht so betonen, käme es nicht ständig vor. Es passiert in den Lebenswissenschaften so oft, dass die theoretischen Voraussetzungen einer Untersuchung plötzlich als deren Ergebnis aufgetischt werden.
Ein klassisches Beispiel sind Untersuchungen zur Vorhersage kriminellen Verhaltens oder von Erkrankungen. Diese beginnen in aller Regel mit der Unterscheidung von Personen in Problem- und Kontrollgruppen. Dann findet man einen Faktor, der bei beiden Gruppen im Mittelwert unterschiedlich ist. Das kann, wie hier, eine Gehirnreaktion sein, aber auch schlicht das Ergebnis eines Fragebogens oder eines Verhaltenstests.
Im letzten Schritt wird dann behauptet, der gefundene Faktor könne die Gruppen unterscheiden und womöglich gar Kriminalverhalten oder Erkrankungen vorhersagen. Tatsächlich hat man es dann aber mit einer Tautologie zu tun: Nur unter der Voraussetzung nämlich, dass man die Gruppen bereits theoretisch unterschieden hat, kann man sie schließlich mit Hilfe des im Versuch gefundenen Faktors unterscheiden.
Das wirft die Frage auf, wofür man den Faktor überhaupt braucht, wo die Unterscheidung doch schon vorgenommen ist. Es könnte sein, dass dieser bessere Unterscheidungen erlaubt. Das wäre dann ein pragmatischer Grund dafür, das alte Kriterium durch das neue zu ersetzen.
Symptome aufschlussreicher als Gehirn
Das ist bei solchen neurowissenschaftlichen Untersuchungen (und auch bei anderen physiologischen oder Verhaltensstudien) jedoch unwahrscheinlich: Die Korrelationen sind freilich nie perfekt. Nicht bei allen Personen der Zielgruppe findet sich der Faktor, und umgekehrt haben manche aus der Kontrollgruppe ihn vielleicht auch.
Denken wir kurz darüber nach, mit was für einem Problem wir es bei der Misophonie zu tun haben: Menschen erleben manche Geräusche als furchtbar. Sie bekommen dadurch vielleicht Angst, werden wütend, meiden solche Situationen, werden gestresst, womöglich gar aggressiv.
Damit liegt bereits eine Liste mit Unterscheidungsmerkmalen vor; es handelt sich auch um zuverlässig beobachtbare Merkmale. Es ist überhaupt nicht klar, was eine Untersuchung des Körpers allgemein oder des Nervensystems im Speziellen hier überhaupt für einen Vorteil haben soll.
Dass die Inselrinden mit einer ganzen Reihe psychischer Vorgänge in Zusammenhang stehen, etwa dem Erleben negativer Gefühle, relativiert den Fund weiter: Es wird niemals so sein, dass man Versuchspersonen in den Hirnscanner schiebt, ihnen Geräusche vorspielt, die Insulae misst und dann sagt: "Ah, Sie haben Misophonie!" Für keine der je nach Unterscheidung zurzeit 150, 300 oder gar 600 verschiedenen psychischen Störungen funktioniert das so.
Ein anderer interessanter Punkt ist, wie Hirnforscher immer wieder über "abnormale" Hirnfunktion sprechen. Das Wort kommt insgesamt zwölfmal in der Studie vor. Dabei sehen wir einer Hirnaktivierung – ebenso einem anderen körperlichen Signal – selbst nicht an, was sie normal oder abnormal macht. Es ist schlicht der Unterschied zur gewählten Kontrollgruppe, auf dem diese Bezeichnung beruht.
Die Hervorhebung dieser Vorgehensweise ist darum so wichtig, weil er die normative Bedingtheit solcher Untersuchungen der Lebenswissenschaften verdeutlicht: Was normal und abnormal ist, verrät uns mitnichten die Natur. Es ist wiederum eine Folge der theoretischen Unterteilung der Versuchspersonen in beide Gruppen; es liegt im Auge des Betrachters.
Normal, abnormal? Menschen entscheiden!
In einer anderen Welt würden Menschen es vielleicht als abnormal ansehen, wenn jemand sich nicht von Auslösergeräuschen gestört fühlt. Dann wäre die höhere Inselaktivierung normal, die niedrigere abnormal. Sie kennen sicher dieses Gedankenexperiment: Wer wäre der Gesunde in einer Welt von Blinden?
Das ist auch mit Blick auf einen anderen Fund von Interesse: Die Forscher haben nämlich ebenfalls magnetische Eigenschaften des Gehirngewebes gemessen, die mit bestimmten strukturellen Eigenschaften einhergehen. Einen Unterschied zwischen den Gruppen fanden sie allerdings nicht in den Inselrinden, sondern im ventromedialen präfrontalen Kortex (über die Genauigkeit solcher Bezeichnungen habe ich hier gerade geschrieben: "Was trägt die Hirnforschung zur Kunst bei?"). Es handelt sich dabei um ein Stückchen Hirn vor dem Gyrus cinguli, der die Oberseite des Balkens zwischen den Hemisphären umschließt.
Diesen Befund bringen sie mit der Myelinisierung von Nervenfasern in Zusammenhang. Eine sprachliche Schlampigkeit: In der Zusammenfassung, die Journalisten vielleicht nur lesen, wird dies als Fakt dargestellt. Im eigentlichen Text wird dies hingegen (korrekt) als spekulative Erklärung angeboten.
Myelin ist eine Substanz aus Proteinen und Fetten, die Nervenfasern von ihrer Umgebung isoliert. Überraschend ist nun, dass dieser Prozess bei den Betroffenen stärker ausgeprägt sein soll als bei der Kontrollgruppe. Dabei wird in der Regel gerade eine angegriffene Myelinschicht mit Erkrankungen in Verbindung gebracht, etwa mit der multiplen Sklerose. Nichtsdestotrotz, Sie ahnen es vielleicht schon, ist die stärkere Myelinisierung bei den Menschen mit Misophonie selbstverständlich abnormal.
Die Forscher schreiben am Ende noch, ihre Studie würde zur Klassifikation und Behandlung der "schädlichen Störung" (englisch: "pernicious disorder") beitragen. Das mag nach den hier vorgebrachten Einwänden bezweifelt werden.
Beim "Time Magazine" sieht man das jedoch anders. Dort wird der Anschein erweckt, bei Misophonie sei bisher nicht klar gewesen, ob es sich um eine Störung handle, und dass dies dank der Untersuchung jetzt anders sei. Der Forscher wird dort mit den folgenden Worten zitiert:
"... Für viele Menschen mit Misophonie werden dies gute Neuigkeiten sein, denn wir haben zum ersten Mal einen Unterschied in der Gehirnstruktur und -funktion der Betroffenen gefunden. Diese Studie zeigt die entscheidenden Gehirnveränderungen. Diese liefern weitere Hinweise zum Überzeugen einer skeptischen medizinischen Gemeinschaft, dass es eine echte Störung ist ..."
Übers. d. A.
Dass Unterschiede des Erlebens mit Unterschieden im Gehirn einhergehen, ist dabei kein interessanter Befund. Es ist schlicht eine Notwendigkeit des in Forscherkreisen verbreiteten materialistischen Denkens. Man kann beliebige Gruppen bilden: Menschen mit Stress im Vergleich mit Menschen ohne; Personen, deren Lieblingsfarbe Rot ist und solche, die Blau lieben; müde und muntere Menschen.
Teure Banalitäten
Aus der Tatsache, dass ein anderer Faktor damit korreliert, wird die Unterscheidung nicht realer – denn diese ist ja bereits vorgenommen. Keinesfalls folgt daraus, dass eine der Gruppen eine psychische Störung hat, die andere nicht.
Hierfür ist nach herrschender Meinung wesentlich, ob die Betroffenen stark leiden und/oder stark in ihrem Alltagsleben eingeschränkt sind. Das wird bei einigen, die die Kriterien für eine Misophonie erfüllen, der Fall sein; bei anderen nicht. Ob dieses Störungsbild eines Tages in ein offizielles Diagnosewerk aufgenommen wird, werden Fachleute am Konferenztisch entscheiden, nicht jedoch Gehirnscanner.
Was solche Forschung bringt, ist mir ein Rätsel. Allein die Messzeiten dürften in diesem Fall rund 50 000 Euro gekostet haben. Dabei wird die Kernspintomografie auf Grund knapper Heliumressourcen immer teurer, Geräte-, Gebäude- und Personalkosten noch gar nicht mitgerechnet.
Wie wir an diesem Beispiel gesehen haben, arbeiten die Forscher mit vielen sprachlichen Ungenauigkeiten, die ihre Funde jeweils in einem besseren Licht dastehen lassen. Menschengemachte Unterscheidungen – wie normal/abnormal, gestört/nicht gestört, misophonisch/nicht misophonisch – als naturgegeben dastehen zu lassen, ist zudem grundfalsch und vermischt den Bereich von Normen und Werten mit dem der Naturwissenschaften.
Seit 2010 mehrt sich die Kritik an der bildgebenden Hirnforschung, insbesondere an Experimenten mit der Kernspintomografie. Studien wie diese, die vor allem Tautologien und Banalitäten produzieren, in führenden Zeitschriften mit weit reichenden Versprechungen zu verkleiden, dürfte wohl keine vertrauensbildende Maßnahme sein.
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