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Leseprobe »Sex und Moral«: Sex und Moral – passt das zusammen?

Sex und Moral endlich voneinander zu trennen, war eine wichtige Errungenschaft. Warum sollten wir jetzt beides wieder zusammenfügen? Ein Grund dafür ist, dass Sex für alle Beteiligten etwas Schönes sein sollte – es aber leider nicht immer ist. Ein anderer Grund ist, dass Sex vor dem Hintergrund einer ungerechten und ungleichen Gesellschaft passiert – nicht alle haben immer dieselben Möglichkeiten zu äußern, was sie sexuell gerne wollen oder eben nicht wollen. Spätestens seit #MeToo sollte dies offensichtlich geworden sein.
Rote Lippen - und nicht immer sind sie echt

Die meisten von uns haben Sex. Manchmal guten, manchmal schlechten. Und die meisten sind überzeugt zu wissen, wann sie guten Sex haben und wann schlechten. Diese Frage vernünftig zu beantworten setzt die Antwort auf eine grundsätzlichere Frage voraus. Bevor wir darüber reden, was guter und was schlechter Sex ist und vor allem, warum mancher Sex moralisch problematisch ist, sollten wir fragen: Was ist eigentlich Sex? Schließlich ist es doch so, dass wir nicht sagen können, wann Sex gut oder schlecht ist, moralisch problematisch oder unproblematisch und moralisch verboten oder erlaubt, wenn wir nicht wissen, was Sex eigentlich ist. Uns würde schlicht und einfach das Objekt der Betrachtung fehlen. Wann etwas gut oder schlecht ist hängt davon ab, was der Gegenstand ist. Was also ist Sex?

Zur Aufgabe der Philosophie gehört es unter anderem, scheinbar einfache Fragen zu stellen – Was ist Zeit? Was ist das Sein? Was ist das Gute? Und eben: was ist Sex?  –, um zu zeigen, wie unfassbar schwierig es ist, eine gute und einfache Antwort zu geben. Oft sind es nämlich gerade die einfachen Fragen, die uns zeigen, wie komplex und schwierig der Sachverhalt eigentlich ist, und die uns dazu bringen, neues Wissen zu erlangen und weitere Fragen zu stellen. Hier widme ich mich also einer solchen, scheinbar ganz harmlosen Frage aus einer philosophischen Perspektive – und wir werden lernen, dass die Antwort auf die Frage viel komplexer ist, als wir zunächst denken. Dies bringt uns zu einer größeren philosophischen Einsicht: Inwieweit verstehen wir überhaupt die Begriffe und Wörter, die wir als kompetente Sprecher*innen verwenden, um die Welt zu beschreiben und miteinander zu kommunizieren? Wir scheinen zu wissen, was Sex ist, wir sind sogar davon überzeugt zu wissen, was Sex ist – aber eine Antwort lässt sich nur schwer formulieren.

Was also meinen wir, wenn wir von Sex sprechen? Abzugrenzen, welche Handlungen wir eigentlich konkret meinen, wenn wir von Sex sprechen – was also in die Kategorie ‚Sex‘ fällt und was nicht –, ist eine durchaus komplexe und diffizile Angelegenheit. Müssen wir nackt sein, um Sex zu haben? Muss eine Penetration – also ein Eindringen – stattfinden, um Sex zu haben? Ist Sex gleich Geschlechtsverkehr? Müssen alle beteiligten Personen denken, dass sie gerade Sex haben, damit die Handlung Sex ist? Oder können zwei Personen eine gemeinsame Handlung ausführen, aber nur eine der beiden Personen hat tatsächlich Sex? Müssen alle beteiligten Personen nach sexueller Befriedigung streben, um Sex zu haben? Oder genügt es, wenn dies nur eine Person tut?

Als Bill Clinton am 26. Januar 1998 vor laufender Kamera gefragt wurde, ob er eine sexuelle Beziehung mit Monica Lewinsky gehabt hätte, verblüffte er mit seiner Antwort, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Aber schließlich existierte Monica Lewinskys Aussage darüber, dass es sexuelle Kontakte zwischen ihr und Bill Clinton gegeben hatte. Außerdem wurde seine Samenflüssigkeit auf ihrem Kleid entdeckt. Hatte Monica Lewinsky Sex mit Bill Clinton, aber Bill Clinton nicht mit Monica Lewinsky? Ein Anwalt im Fall Clinton und Lewinsky unterstützte diese Annahme, indem er festlegte, dass eine Person nur dann Sex hat, wenn sie »wissend Kontakt mit Genitalien, Anus, Leistenbeuge, Brüsten, inneren Oberschenkeln oder Hintern einer anderen Person mit der Intention bewirkt, sexuelle Begierde bei einer Person oder sich selbst zu erregen oder zu befriedigen« (Starr Report 1998). Wenn Bill Clinton keinen solchen Kontakt hatte, sondern nur Monica Lewinsky, oder wenn Bill Clinton den Kontakt nicht wissend hatte oder keine sexuelle Begierde erregen oder befriedigen wollte, dann hatte zwar Monica Lewinsky Sex, aber nicht Bill Clinton.

Ganz so abwegig wie es im Fall von Clinton und Lewinsky scheint, ist die Frage nicht. Tatsächlich beschreiben einige Sexarbeiter*innen ihre Arbeit ganz ähnlich; sie selbst haben keinen Sex, sondern ‚performen‘ diesen – wie auch Schauspieler*innen ‚performen‘ – für ihre Kunden. Die Idee ist: Eine Simulation von Sex ist nicht gleichzusetzen mit Sex. Während die Kunden also Sex haben und für Sex bezahlen, haben die Sexarbeiter*innen keinen. Auch im antiken Griechenland wurde Sex unter anderem als Handlung einer Person beschrieben, die den Körper einer anderen Person »nur« benutzt, um selbst sexuelle Befriedigung zu erlangen. Darunter fiel auch die Handlung der Päderastie oder Knabenliebe, bei der erwachsene Männer sexuelle Handlungen an jugendlichen Jungen ausführten – in der Annahme, dass der Junge an der sexuellen Handlung selbst unbeteiligt ist. Die Männer hatten Sex, die Jungen nicht.

Die Dinge sind seit Bill Clinton und Monica Lewinsky nicht einfacher geworden. Können wir Sex mit virtuellen Charakteren haben? Oder mit Drachen auf dem Bildschirm? Können wir Sex mit Robotern haben? Oder mit Computern? Kann Data aus der Serie Star Trek Sex haben? Wie also können wir überhaupt zu einer allgemeingültigen – zumindest vorläufigen – Definition von Sex kommen, um uns Fragen nach gutem und schlechtem, problematischem und unproblematischem Sex zu stellen?

Fragen, die Auswirkungen darauf haben, was für Gesetze wir in Bezug auf Sex haben, wie Aufklärungsunterricht an Schulen gestaltet sein sollte und welche moralischen Normen wir in Bezug auf Sex haben wollen. Das heißt aber auch, dass es bei unserer Begriffsanalyse nicht nur darum gehen kann zu klären, was allgemein als Sex gilt – was für Intuitionen kompetente Sprecher*innen beispielsweise in bestimmten kulturellen und historischen Kontexten haben –, sondern auch, was als Sex gelten sollte angesichts der moralischen und rechtlichen Relevanz hinter dieser Frage. Es könnte beispielsweise sein, dass wir empirisch feststellen, dass viele Personen in westlichen Ländern die Intuition teilen, dass Penetration für Sex nicht unbedingt notwendig ist. Und das könnte wiederum bedeuten, dass Lapdance (ein erotischer Tanz von einer Person auf dem Schoß einer anderen Person, oftmals gegen Bezahlung) als Sex gewertet werden sollte, was Auswirkungen auf die rechtlichen Bestimmungen von Striplokalen hätte. Zusätzlich könnte es auch sein, dass unsere empirischen Feststellungen nicht übereinstimmen mit unseren philosophischen Theorien über Sex.

Wir müssen also berücksichtigen, dass unterschiedliche Untersuchungen zu Sex unterschiedliche Ergebnisse liefern können. Im Folgenden werde ich zunächst versuchen kurz zu zeigen, was philosophische Theorien auf Grundlage unserer weitläufigen Intuitionen über Sex sagen. Später werden wir feststellen, dass wir unser Verständnis von Sex vielleicht verändern sollten, um Raum zu schaffen für eine differenzierte Theorie über problematischen Sex. Bisher haben wir nicht viel mehr als die vage Intention, dass zwar Bill Clinton und Monika Lewinsky sehr wohl beide Sex (miteinander) hatten, dass es aber durchaus auch gemeinsame Handlungen geben könnte, bei denen nur eine der beteiligten Personen tatsächlich Sex hat. Eine Möglichkeit ist es nun, verwandte Fragen zu stellen, die im besten Fall Aufschluss darüber geben, was wir als Sex bezeichnen wollen und was nicht. Zum Beispiel: Wie viele Personen braucht man, um Sex zu haben? Hat Sex einen Zweck? Braucht es sexuelles Verlangen für Sex? Ist Cybersex Sex?

Um diese Fragen zu beantworten, sollte man zunächst darüber nachdenken, was denn ein typischer Fall von sexueller Interaktion ist. Was genau tun wir eigentlich, wenn wir uns sexuell begegnen? Zunächst wollen wir unserem Gegenüber vermitteln, dass wir ein sexuelles Interesse an ihm oder ihr verspüren, dass unser Körper mit bestimmten Empfindungen auf ihn oder sie »reagiert«. Intuitiv könnte man hier also zunächst sagen, dass wir in einer sexuellen Interaktion unsere Körper benutzen, um etwas auszudrücken. Wir wollen zeigen, dass wir Empfindungen der Begierde der anderen Person gegenüber haben, und wir wollen sichergehen, dass die andere Person genau dies zur Kenntnis nimmt. Aber das ist noch nicht alles. Wir wollen sicherstellen, dass die andere Person unsere Empfindungen zur Kenntnis nimmt, weil wir davon ausgehen, dass dies etwas in der anderen Person bewegt. Die Begierde einer anderen Person wahrzunehmen, kann unsere eigene Begierde steigern. Sexuelle Kommunikation bedeutet also auch, dass sich zwei Personen in einer stetig steigernden Begierde zueinander treffen. Demnach ist menschliche Sexualität durch das Zusammenspiel zwischen Kommunikation von Begierde und der Wirkung dieser Kommunikation auf unsere Begierde definiert. Ein typisches Beispiel aus der philosophischen Literatur zum Thema sieht folgendermaßen aus: Zwei Personen finden sich gegenseitig sexuell anziehend und die Erregung beider steigt durch die Wahrnehmung der körperlichen und verbalen Sprache ihres jeweiligen Gegenübers. Beide beobachten also das sexuelle Interesse der oder des Anderen als Antwort auf ihr eigenes Flirtverhalten. Hier geht es demnach um eine komplexe psychologische Dynamik, bei der zwei Personen eine sich steigernde, wechselseitige Begierde empfinden, die mit der Beobachtung der Begierde der anderen Person als Antwort auf die eigene Begierde zusammenhängt. Sex ist also ein Zusammenspiel, bei dem zwei Personen sich gegenseitig als handelnde Subjekte mit Intentionen und Begierden wahrnehmen und gleichzeitig sexuelle Intimität mit dem Körper der jeweils anderen Person begehren. Sex ist ein durch und durch soziales Verhalten, bei dem keine Person als reines Objekt gesehen wird, sondern als handelnde Person mit eigenen Empfindungen. Eine Handlung, bei der eine Person zum Objekt gemacht wird oder sich selbst zum Objekt macht – bei der es also keine gegenseitige stetig steigende, sondern nur einseitige Begierde gibt –, wäre hiernach eine sexuelle Perversion.

Es gibt aber natürlich auch ganz andere Intuitionen dazu, was Sex ist. Man könnte zum Beispiel in Frage stellen, ob Sex immer eine solche Gegenseitigkeit von Begehren aufzeigen muss. Tatsächlich ist es doch so, dass uns viele eindeutig sexuelle Interaktionen einfallen, bei denen diese Art der Kommunikation von gegenseitigem Begehren fehlt. Ein Liebespaar, dass ihr Sexualleben durch eine App steuern lässt, um sich den Kinderwunsch zu erfüllen, hat vielleicht einmal im Monat Sex, nicht aufgrund eines gegenseitigen und ständig sich steigernden Begehrens, sondern um die Chance auf ein Kind zu erhöhen. So gehen auch andere Philosophen davon aus, dass sexuelle Begierde nicht unbedingt zu gegenseitiger sexueller Kommunikation führt. Mehr noch, manche haben vielleicht auch die Intuition, dass die eigene sexuelle Begierde notwendigerweise dazu führt, andere Personen als sexuelle Objekte zu begehren. So könnten wir uns beispielsweise fragen, was wir eigentlich begehren, wenn wir eine andere Person sexuell begehren. Begehren wir die andere Person als komplexe Person mit eigenem Begehren? Oder begehren wir vielleicht einfach nur den Körper der anderen Person? Ganz sicher werden wir hier nicht alle dieselbe Intuition haben, und vielleicht stellen wir sogar fest, dass beide Formen des Begehrens vorstellbar sind; je nachdem, an wen sich unser Begehren richtet oder in welcher Verfassung wir uns selbst gerade befinden. Demnach ist es also zumindest möglich, dass sexuelle Interaktion auch davon geprägt ist, dass wir zumindest zeitweise den Körper einer anderen Person begehren und die Subjektivität dieser Person negieren – uns also ihre Intentionen und ihr Begehren für eine Weile egal sind. So argumentiert Immanuel Kant dafür, dass wir aufgrund unserer sexuellen Begierde bestimmte Körperteile – Brüste, Genitalien und so weiter – einer anderen Person genauso begehren können wie auch beliebige andere Objekte. Nach Kant macht dies unser sexuelles Begehren von Grund auf problematisch, weil wir notwendigerweise die Person der von uns begehrten Körperteile zu einem reinen Mittel zum Zweck degradieren. Wir nehmen die andere Person nicht mehr als Person wahr, sondern – zumindest zeitweise – als ein entmenschlichtes Ding, das nur dafür da ist, unser Begehren zu befriedigen. Hiernach sind sexuelle Handlungen also quasi Handlungen der Masturbation zwischen zwei Personen, die sich gegenseitig wie Dinge oder eben Sexspielzeug behandeln und wahrnehmen. Aber muss das eigentlich problematisch sein? Könnten wir nicht den Körper einer anderen Person zeitweise als Objekt der Befriedigung begehren und dieselbe Person trotzdem in anderen Situationen als komplexe Person wahrnehmen und behandeln?

Die grundlegende Frage ist: Nehmen wir uns beim Sex als gegenseitig begehrende Personen wahr, wobei diese Wahrnehmung unsere eigene Begierde noch weiter verstärkt, oder sind wir in unseren eigenen sexuellen Fantasien gefangen, so dass die andere Person als Person nebensächlich wird, wie nach Kant? Und ist es tatsächlich problematisch, wenn wir andere Personen als sexuelle Objekte begehren? Feststeht, dass unsere Intuitionen hier nicht unbedingt eindeutig sind. Vielleicht lässt sich Sex also weder auf das eine noch das andere reduzieren; schließlich gibt es eine ganze Bandbreite sexueller Praktiken, bei denen manche die andere Person zum Objekt machen und manche eben nicht. So oder so scheint Sex nach diesen Theorien eine Handlung zwischen zwei Personen zu sein. Was aber, wenn Sex mehr ist als das? Zumindest würden die meisten Personen nicht zögern, sexuelle Handlungen zwischen drei oder vier Personen als Sex zu bezeichnen. Aber können wir auch alleine Sex haben oder zumindest, ohne uns gegenseitig zu berühren? Greta Christina schreibt, dass sie eine Weile als Nackttänzerin in einer Peepshow gearbeitet hat; Kunden gehen in einen kleinen Raum, ungefähr wie eine Telefonzelle, werfen Geld in einen Automaten und der Vorhang vor der Glasscheibe, hinter dem eine nackte Frau tanzt, öffnet sich. Tänzerin und Kunde sehen sich, aber können sich nicht berühren oder verbal miteinander kommunizieren. Wenn das Geld alle ist, geht der Vorhang wieder zu. Christina erzählt, dass eines Tages ein Kunde reinkam, sich hinsetzte, sie anschaute und zu Masturbieren begann. Also sei sie nach vorne zur Glasscheibe gegangen, habe sich hingesetzt und ebenfalls masturbiert. Sie saßen sich gegenüber bis der Vorhang wieder zuging, lächelten sich an und masturbierten (und hatten beide eine tolle Zeit).

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Aber ist das Sex? Ohne Glasscheibe mit einer vertrauten Person würde dies ganz sicher als Sex gelten; schließlich zählen die meisten Personen gemeinsames Masturbieren zu sexuellen Handlungen. Aber so? Ohne auch nur die Möglichkeit des gegenseitigen Berührens? Wir sehen, nicht nur in Bezug auf das Begehren haben wir unterschiedliche Intuitionen. Die Frage ist, ob unsere unterschiedlichen Intuitionen trotzdem Aufschluss darüber geben können, was Sex eigentlich ist oder zumindest darüber, wann Sex problematisch ist und wann eben nicht. Nach der Idee, dass sexuelle Interaktion durch gegenseitiges Begehren geprägt ist, würde Christinas Erfahrung möglicherweise als Sex gelten; schließlich hat gemeinsames Masturbieren viel damit zu tun, dass wir auf das Verhalten und die Begierde der anderen Person achten und diese unser eigenes Begehren noch verstärkt. Allerdings könnte man auch sagen, dass wir uns in dieser Situation eben gerade nicht als gegenseitig begehrende Personen wahrnehmen, sondern stattdessen nur auf unsere eigene Befriedigung konzentriert sind. Vielleicht würde auch Kant gemeinsames Masturbieren als Sex betrachten; zumindest dann, wenn wir besonders einzelne Körperteile der anderen Person begehren. Aber bedeutet das auch, wie Kant es annimmt, dass es sich daher um einen moralisch problematischen Sexakt handelt, weil man sich selbst entmenschlicht und als Objekt zur Befriedigung benutzt? Hier könnte man dafür argumentieren, Kants Fokus auf den mentalen Unterschied zwischen Sex und Masturbation zu übernehmen, nicht aber dessen moralische Implikationen. So könnten wir einen Unterschied zwischen Sex und Masturbation machen und trotzdem zulassen, dass gemeinsame Masturbation möglich ist. Danach wären sexuelle Handlungen, bei denen es uns (primär) um unsere eigene Befriedigung geht, Masturbation, und solche, bei denen es uns (primär) um die gemeinsame Befriedigung oder die Befriedigung einer anderen Person geht, Sex. Das macht es aber nicht unbedingt einfacher, denn erstens, könnte man dann sagen, dass eine sexuelle Interaktion zwischen zwei Personen, bei der es beiden primär um die eigene Befriedigung geht, nicht Sex, sondern Masturbation ist. Und zweitens, dass Greta Christina Sex hat, während ihr Kunde masturbiert? Beide Szenarien scheinen sich nur schwer mit unseren grundsätzlichen Intuitionen vereinbaren zu lassen.

Wir haben also immer noch nicht abschließend geklärt, was Sex eigentlich ist, noch haben wir es geschafft, uns darüber zu einigen, ob Sex durch gegenseitiges Begehren oder durch Objektifizierung oder durch beides beschrieben werden sollte. Und ob Sex eigentlich problematisch ist, sollten wir herausfinden, dass wir uns beim Sex tatsächlich zu sexuellen Objekten machen oder dazu gemacht werden. Zudem haben wir bisher nur sehr wenig darüber gesagt, was für ein körperlicher Akt Sex eigentlich ist. Was kommt nach dem gegenseitigen Begehren oder der Objektifizierung? Was machen wir eigentlich, wenn wir unsere Körper dazu benutzen, Sex zu haben? Die Frage kann man auch so formulieren, dass gefragt wird, was »schlichter« Sex ist? Wie beschreiben wir Sex, wenn wir alle mentalen oder interpersonalen Aspekte außen vorlassen? Eine offensichtliche Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Sex ist eine Aktivität, die darauf ausgerichtet ist, sexuelles Begehren zu befriedigen.

Typischerweise haben wir Sex, weil wir damit unser sexuelles Begehren befriedigen wollen. Diese Antwort scheint auch durch unsere oben diskutierten Intuitionen gestützt zu werden. Wir waren uns zwar nicht darüber einig, was genau Begehren ist und ob dieses gegenseitig oder objektifizierend ist, aber dass Sex etwas mit Begehren zu tun hat, das scheint wenig kontrovers zu sein. Und wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen. Sexuelles Begehren ist zunächst das Begehren eines anderen Körpers und der Lust, die diese Berührung verursacht. Diese Beschreibung trifft sowohl auf die Intuition zu, dass sexuelles Begehren ein gegenseitiges Begehren ist – also die Berührung eines anderen Körpers uns Lust verschafft, weil es sich um gegenseitige Berührung oder das gegenseitige Verlangen nach Berührung handelt. Die Beschreibung trifft aber auch zu, wenn wir davon ausgehen, dass Begehren etwas damit zu tun hat, dass wir uns selbst oder den Körper einer anderen Person objektifizieren – die Berührung eines anderen Körpers, schlicht als Körper, verschafft uns Lust. Obwohl unsere Intuitionen zwar sehr unterschiedlich ausgefallen sind, was die Frage betrifft, ob Sex eine gegenseitige oder eine einseitige Handlung ist, können wir hier festhalten, dass Sex erstens, etwas mit sexuellem Begehren zu tun hat und, zweitens, sexuelles Begehren als Begehren eines anderen Körpers und der damit verbundenen Lust charakterisiert werden kann. Diese sehr einfache und auf Körperlichkeit bezogene Definition richtet sich vor allem gegen Theorien, die annehmen, dass Sex ein Ziel oder einen Zweck haben muss, der über die reine Körperlichkeit hinausgeht; wie zum Beispiel bei der veralteten Annahme, dass Sex der Reproduktion dient, dass Sex Ausdruck von Liebe ist, ein Mittel zur Kommunikation oder zur zwischenmenschlichen Wahrnehmung. Sex ist primär körperlich und eben nicht Ausdruck tieferer Bewusstseinszustände.

Obwohl es vielleicht gute Gründe geben könnte, Sex noch umfassender zu definieren, möchte ich an dieser Stelle vorschlagen, die primär körperliche Lesart als Arbeitsdefinition zu übernehmen. Damit umfasst Sex im Folgenden also eine ganze Bandbreite von Handlungen und Aktivitäten zwischen zwei und mehr Personen, bei denen sich diese körperlich berühren, um ihr sexuelles Begehren zu stillen. Sex ist also eine Aktivität, die darauf ausgerichtet ist, sexuelles Begehren zu befriedigen, wobei sexuelles Begehren das Begehren eines anderen Körpers ist sowie die Lust, die die Berührung dieses anderen Körpers verursacht. Sex ist demnach keine spezifische Handlung, sondern kann auf unterschiedliche Weise realisiert werden. Was ist dann aber mit dem Beispiel des Paares, das Sex zu einem bestimmten Zeitpunkt hat, um damit die Chancen auf ein Kind zu erhöhen? Dieses Paar hat Sex, ohne dass es zu diesem Zeitpunkt ein sexuelles Begehren verspürt. Unsere Definition von Sex muss also noch weiter ausgeweitet werden, um auch solche Beispiele einfangen zu können. Denn es wäre doch zweifelslos kontraintuitiv, wenn die Handlung des Paares, die ein Kind zeugen möchte, nicht als Sex verstanden würde. Mein Vorschlag ist, dass wir keine Definition mit hinreichenden und notwendigen Bedingungen geben, sondern eine sogenannte Prototypen-Definition.

In der Philosophie, aber auch in anderen Disziplinen, charakterisiert eine klassische Definition mit hinreichenden und notwendigen Bedingungen den Ausdruck ganz genau, d.h. so, dass keine Fragen mehr offen bleiben. Dazu werden notwendige und hinreichende Bedingungen gegeben, die den Begriff genau beschreiben: Notwendige Bedingungen sind solche, die zwingend erfüllt sein müssen, damit eine Handlung als sexuelle Handlung gilt. Es kann also schlicht nichts als sexuelle Handlung gelten, dass nicht diese Bedingungen erfüllt. Und hinreichende Bedingungen sind solche, die eine Handlung zwangsläufig als sexuelle Handlung einstufen. Wenn eine Handlung die hinreichenden Bedingungen erfüllt, dann ist sie zwangsläufig eine sexuelle Handlung. Als Beispiel können wir uns noch einmal unsere Definition oben anschauen. Sex ist eine Aktivität, die darauf ausgerichtet ist, sexuelles Begehren zu befriedigen. Für alle Handlungen, die wir als Sex beschreiben wollen, ist es hiernach also notwendig, dass diese darauf ausgerichtet sind, sexuelles Begehren zu befriedigen. Gleichzeitig ist diese Ausrichtung auch hinreichend, damit eine Handlung als Sex gilt. Das bedeutet also, dass alle Handlungen und nur solche Handlungen, die auf die Befriedigung des sexuellen Begehrens abzielen, Sex sind. Aber, wie wir schon festgestellt haben, verträgt sich diese klassische und sehr genaue Definition nicht mit unseren Intuitionen, wonach auch das Paar, dass ein Kind zeugen möchte, Sex hat. Es macht an dieser Stelle also Sinn, nach einer anderen Definitionsform zu suchen.

Eine Prototypen-Definition beschreibt bestimmte typische Beispiele eines Begriffs, so dass anhand dieser Beispiele die Bedeutung des Begriffs abgeleitet werden kann. Wir können an dieser Stelle aber Gebrauch von der schon gegebenen Arbeitsdefinition machen, so dass wir Sex als eine Aktivität verstehen, die darauf ausgerichtet ist, sexuelles Begehren zu befriedigen und damit alle körperlichen Handlungen, die dieser Aktivität ausreichend ähnlich sind, auch als Sex beschreiben. Mit anderen Worten, wir können stipulieren, dass ein typisches Beispiel von Sex eben genauso aussieht, wie unsere oben genannte Definition beschreibt, dass es aber auch noch andere Beispiele gibt, die nicht unter diese Definition fallen, aber aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der Definition trotzdem als Sex zu verstehen sind. Das beinhaltet also, dass Handlungen, in denen es nicht primär um die Lust nach sexueller Befriedigung geht, dennoch als Sex definiert werden können, wenn sie den hier charakterisierten typischen Handlungen hinreichend ähnlich sind. Sexuelle Handlungen, bei denen es eben doch ausschließlich um Reproduktion und nicht um körperliche Befriedigung geht, sind ebenfalls Sex; körperliche Handlungen, die sexuelles Begehren befriedigen, sind körperlichen Handlungen, die zur Reproduktion dienen, hinreichend nah, d.h. sie teilen genügend Eigenschaften mit der oben gegebenen Definition. Und so vielleicht auch bestimmte Formen von gemeinsamer Masturbation. Nach dieser sehr weiten Lesart wäre es allerdings merkwürdig, davon zu sprechen, dass zwei Personen eine gemeinsame Handlung ausführen, aber nur eine der beiden Personen Sex hat. Denn auch wenn nur eine Person davon motiviert ist, sexuelles Begehren zu befriedigen, so ist die körperliche Handlung der anderen Person doch hinreichend ähnlich, um ebenfalls als Sex zu gelten. Monica Lewinsky und Bill Clinton hatten also beide Sex. Gemeinsam.

Das liefert uns zwar eine Idee davon, worüber wir sprechen, wenn wir über Sex sprechen, klärt aber natürlich nicht die Frage, ob Sex eine gegenseitige Handlung ist oder auch eine einseitige Handlung sein kann oder sogar immer eine einseitige Handlung ist, weil wir andere Personen dabei objektifizieren. Und es klärt auch viele verwandte Fragen nicht. Können wir auch alleine Sex haben? Ist Cybersex Sex? Im Film Sleeper (1973) von Woody Allen gibt es ein »Orgasmatron«, eine Maschine, die denen, die sie benutzen, schnell und einfach mehrere Orgasmen liefert. Wir erfahren nicht, wie die Maschine eigentlich funktioniert – und auch heute, im Jahr 2021, ist so eine Maschine noch nicht auf dem Markt. Aber das bedeutet nicht, dass Sex immer ohne technische Hilfsmittel auskommt; viele von uns benutzen Dildos, andere Sexspielzeuge, Gleitcreme oder Viagra. Und Sex hat sich immer weiter auf den Bildschirm verlagert, entweder als herkömmlicher Porno, in Rollenspielen auf dem Computer oder vor der Kamera bei Fernbeziehungen.

Wenn wir von Cybersex reden, meinen wir also gar nicht unbedingt Maschinen wie aus einem Science-Fiction-Film, sondern virtuelle Erotik, meist mit Hilfe des Computers oder des Internets: (gemeinsame) Masturbation vor dem Bildschirm, sexuelle Chatnachrichten, erotische E-Mails, aber auch sexuelle Stimulation mit Datenhelmen oder -handschuhen. Während das gemeinsame Masturbieren vor dem Bildschirm, bei dem sich beide Personen gegenseitig beobachten können, vielleicht noch hinreichend ähnlich mit der oben genannten Definition ist – eine sexuelle Aktivität, die darauf ausgerichtet ist, sexuelles Begehren nach der Berührung eines anderen Körpers und der damit empfundenen Lust zu befriedigen – ist dies fraglich für Sex in Rollenspielen. Für den Moment jedoch können wir diese Frage erst einmal beiseitelassen. Wichtig für uns ist, dass wir eine Arbeitsdefinition von Sex haben, die es uns erlaubt, über Sex zu sprechen und eine Theorie davon zu entwickeln, was an Sex problematisch sein kann. Wir werden sehen: Sexuelle Praktiken sind dann (moralisch) gut, wenn sie auf der Grundlage von sexueller Kommunikation und Respekt aufbauen und können problematisch sein, wenn sie dies nicht tun.

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