Lexikon der Biologie: Mutationszüchtung
Mutationszüchtung, Züchtungsverfahren (Züchtung), dessen Prinzip die Erweiterung der genetischen Variabilität durch künstlich induzierte Mutationen und die nachfolgende, an einem bestimmten Zuchtziel orientierte Auslese und weitere züchterische Bearbeitung der neu entstandenen Genotypen (Mutanten) ist. Die Mutationen werden bei der Mutationszüchtung z.B. durch Röntgenstrahlen oder Neutronenstrahlen (Neutron), Kälte- oder Wärmeschocks sowie chemische Mutagene (z.B. Ethylmethansulfonat) ausgelöst. Diesen Mutagenen werden in der Pflanzenzüchtung die Samen oder Pollen von sich generativ vermehrenden Pflanzen ausgesetzt. Die meisten Mutationen sind rezessiv und manifestieren sich in der 2. Generation nach der Behandlung, in der dann die Auslese (Auslesezüchtung) der für die Weiterzüchtung (z.B. Kombination mit bereits vorhandenen Genotypen; Kreuzungszüchtung) geeigneten Mutanten beginnt. Bei der Nutzung von Mutationen im somatischen Gewebe sich vegetativ vermehrender Pflanzen werden die Organe den Mutagenen ausgesetzt, durch die die Vermehrung erfolgt (z.B. Steckreiser oder Knollen). Die Ausbeute an Mutanten mit positivem Zuchtwert ist, insgesamt gesehen, nur sehr gering. Die meisten Gene beeinflussen mehrere Merkmalsausprägungen im Organismus (Pleiotropie; pleiotrop, Polyphänie), und somit können nützliche Mutationen im Verbund mit schädlichen Nebenwirkungen auftreten. – Im Rahmen der Mutationszüchtung sind sowohl Genmutationen als auch Chromosomenmutationen und Genommutationen (Mutation) von Bedeutung. Nach Herstellung von Mutantensortimenten von Kulturpflanzen (in entsprechenden Instituten existieren z.B. 7000 Reismutanten, 1800 Tomatenmutanten) mit verschiedenen Genmutationen können z.B. durch Kreuzung entsprechender Mutanten (Kreuzungszüchtung) Sorten gewonnen werden, bei denen eine günstige genetische Gesamtkonstitution (z.B. hoher Ertrag) mit aktuellen Zuchtzielen (z.B. Resistenz gegen Krankheiten, Frühreife) kombiniert ist (z.B. mehltauresistente Gerste, bitterstoffarme Lupinen). Sehr erfolgreich ist die Mutationszüchtung bei industriell genutzten Niederen Pflanzen. So existiert z.B. eine Claviceps-purpurea-Mutante (Mutterkornpilze) mit erhöhter Syntheserate für pharmazeutisch verwertbare Mutterkornalkaloide. Wegen der einfachen Kultur und des schnellen Generationswechsels können viele Organismen den Mutagenen ausgesetzt werden, und es entstehen entsprechend viele Mutanten, so daß die Wahrscheinlichkeit, nutzbare Mutanten zu erhalten, hoch ist. Unter den Chromosomenmutationen finden z.B. Translokationen (Chromosomenaberrationen) züchterische Verwendung. So wird z.B. eine Gerstenmutante genutzt, deren Nachkommen aufgrund einer induzierten Translokation auf einem zusätzlichen Chromosom pollensterile Pflanzen mit weißen Spelzen oder pollenfertile mit schwarzen Spelzen sind, so daß die Erhaltung pollensteriler Linien für die Hybridzüchtung vereinfacht ist. Züchterisch genutzte Genommutationen sind z.B. künstlich induzierte Autopolyploidie zur Gewinnung von Pflanzen mit Gigaswuchs (sinnvoll bei Pflanzen, deren vegetativer Teil genutzt wird, z.B. bei Futterpflanzen wie Klee) oder künstlich induzierte Allopolyploidie zur Wiederherstellung der Fertilität von Interspezies-Hybriden (= Polyploidiezüchtung). Bekannte Pflanzen, die aus der Mutationszüchtung resultieren, sind z.B. Nektarine [Prunus], Brokkoli (Kohl), tetraploide Himbeeren (Rubus) und Birnen (Birnbaum). – In der Haustierzucht (Haustiere, Tierzüchtung) wird wegen der geringen Reproduktionsrate (Fruchtbarkeit), des großen Generationsintervalls und der größeren Häufigkeit von Letalmutationen bei Tieren kaum mit dem Zuchtverfahren der Mutationszüchtung gearbeitet.
D.W./S.Gä.
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