Lexikon der Chemie: Chemie
Chemie, die Wissenschaft von den Stoffen, ihren Eigenschaften, ihrem Aufbau, ihrer Zusammensetzung und Herstellung, ihren Umwandlungen und Wechselwirkungen sowie den damit in Verbindung stehenden Gesetzmäßigkeiten. Alle chem. Reaktionen basieren auf der Abgabe, Aufnahme und Verteilung von Elektronen zwischen Atomen, Atomgruppierungen und Molekülen und den Wechselwirkungen zwischen den Energieniveaus der Elektronen. Die Zahl der bisher bekannten Elemente beträgt 109, die der bisher synthetisierten chem. Verbindungen etwa 8 Millionen. Täglich kommen im Durchschnitt um die tausend neue Verbindungen hinzu.
Einteilungen. Nach dem klassischen Einteilungsprinzip wird die C. untergliedert in die vier Hauptgebiete anorganische, organische, physikalische und technische C., die sich in der spezifischen Zielstellung und im Methodenspektrum unterscheiden, zwischen denen es aber vielfältige Übergänge und Grenzgebiete gibt.
Die anorganische C. befaßt sich mit den chem. Elementen und ihren Verbindungen, ausgenommen den in der organischen C. erfaßten Kohlenstoffverbindungen, jedoch unter Berücksichtigung einiger einfacher Kohlenstoffverbindungen, wie Oxide des Kohlenstoffs, der Kohlensäure und ihrer Salze, Carbide, Metallcarbonyle u. a. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen Metalle, anorganische Polymere, Halbleiter, Silicate, Koordinationsverbindungen und Minerale. Aus der anorganischen C. hervorgegangen sind z. B. die Geo-, Komplex- und Kristallchemie.
Die organische C. befaßt sich mit den Verbindungen des Kohlenstoffs, wobei die Vielfalt der elementorganisehen Verbindungen und der bereits genannten Kohlenstoffderivate beide Hauptgebiete tangiert. Außer den Edelgasen läßt sich beinahe jedes Element des Peroidensystems in organische Verbindungen einbauen. Zum ursprünglichen Gebiet der organischen Chemie gehören die Isolierung, Strukturaufklärung und Synthese von pflanzlichen und tierischen Naturstoffen. Diese Fragestellung wird ergänzt durch Fragen nach Struktur, biologischer Funktionen sowie Konformationsanalysen. Zum neuen Rüstzeug gehören die Isolierung, Sequenzierung und Synthese genetischen Materials und mit Hilfe moderner automatisierter Synthesetechniken gelingen Totalsynthesen von biologisch aktiven Peptiden, kleinen Proteinen sowie die chem. Synthese von Oligo- und Polynucleotiden, die zur Manipulierung gespeicherter Syntheseinformationen in der Gentechnologie eingesetzt werden. Die engen Beziehungen zur Biochemie sind ebenso transparent wie die Verbindungen zur Cytochemie, Lebensmittelchemie, forensischen C., makromolekularen C., Phytochemie und pharmazeutischen C. Aus der organischen C. hat sich die Biochemie entwickelt, die unter Nutzung chem., physikalischer und mathematischer Verfahren den chem. Aufbau lebender Systeme allumfassend erforscht. Durch die Untersuchung des chem. Verhaltens, der Wirkungsweise und Biotransformation, der Synthese und Analyse von Pharmaka steht die pharmazeutische C. ebenfalls in enger Beziehung zur organischen C. Aus der Biochemie und der anorganischen C. hat sich in den letzten Jahren die bioanorganische C. entwickelt, welche sich mit der Erforschung und Charakterisierung von Metalloproteinen befaßt.
Hauptzielstellung der physikalischen C. ist das Studium aller physikalischen Erscheinungen, die mit chem. Reaktionen in Beziehung stehen, sowie die Beeinflussung chem. Vorgänge durch physikalische Einwirkungen. Spezialrichtungen dieses Hauptgebietes der C. sind Elektrochemie, Photochemie, Thermochemie, Kolloidchemie, Mechanochemie (Tribochemie), Magnetochemie u. a. Die Strahlenchemie untersucht chem. Reaktionen, die durch Einwirkung energiereicher Strahlen ausgelöst werden und zu permanenten stofflichen Veränderungen führen. Die Kernchemie (Nuclearchemie) erforscht Atomkerne und Kernreaktionen mit chem. Methoden. Ein Teilgebiet der Kernchemie, die Radiochemie, befaßt sich mit den Eigenschaften und dem Reaktionsverhalten der Radioelemente und ihren Verbindungen sowie mit den Radionucliden.
Die Überführung chem. Methoden und Erkenntnisse in technisch nutzbare Verfahren und die Entwicklung der dazu erforderlichen apparativen Ausrüstungen ist Aufgabe der technischen C. (chem. Technologie). Wichtige Teilgebiete sind z. B. die Hochpolymerenchemie, Carbochemie, Petrochemie, Agrochemie, Lebensmittelchemie, Wasserchemie, Gerbereichemie, Textilchemie, Farbenchemie.
Quanten-, Kosmo-, Strahlen-, Laser- und Plasmachemie haben als Teilgebiet der C. durchaus eigenständige Bedeutung, ebenso wie analytische, präparative und ökologische C., die verschiedene Hauptgebiete der C. tangieren.
Hauptaufgaben der C. ist die Herstellung und Wandlung von Stoffen, die nicht in ausreichender Menge oder nicht in einer für den Menschen nutzbaren Form in der Natur vorkommen. Die C. leistet damit einen entscheidenden Beitrag, das Bedürfnis des Menschen nach Gesundheit (Entwicklung von Medikamenten), Nahrung (Entwicklung und Bereitstellung von Düngemitteln, Pflanzenschutzmitteln und Futterzusatzstoffen), Bekleidung und zivilisatorischen Fortschritt zu befriedigen. Große Bedeutung für die chem. Industrie kommt den biotechnologischen Prozessen z. B. den Fermentationstechnologien zur Produktion von Antibiotika, verschiedenen Aminosäuren, Citronensäure und anderen Biochemikalien sowie der Herstellung von Eiweiß auf Basis von Methanol, Erdöl oder anderen einfachen Kohlenstoffquellen. Gemeinsam mit der Gentechnologie stellt die Biotechnologie ein wichtiges Potential der Zukunft dar.
Geschichtliches. Der Name C. geht zurück auf chemeia oder chymeia; er wurde früher aus dem Ägyptischen von chemi = schwarz hergeleitet, heute leitet man ihn aus dem griechischen chyma = Metallguß ab. Aus dem Arabischen stammt der Begriff Alchimie oder Alchemie. Chem. Wissen ist seit jeher aufs engste mit gewerblicher Tätigkeit verknüpft. Mehr als 1000 Jahre v. Chr. besaß man chem. Kenntnisse auf dem Gebiet der Metallgewinnung und -legierung, der Erzeugung von gefärbten Glasflüssen, künstlichen Edelsteinen und Perlen, von Email, Farbstoffen, Kosmetika, Arzneimitteln und Giften. Aus dem 5. bis 3. Jh. v. Chr. kennt man erste theoretische Verallgemeinerungen aufgrund naturphilosophischer Fragestellungen nach dem kleinsten Bestandteil der Stoffe. Daraus entstand die atomistische Theorie von Leukipp von Milet und von Demokrit. Danach besteht die Welt aus vielen kleinen, nicht weiter zerlegbaren Teilchen (a-tomos), sie sich im leeren Raum bewegen. Aus der Zeit stammt auch die Ordnung der Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer. Im 7. Jh. übernahmen die Araber die chem. Kenntnisse des Altertums und vervollkommneten die praktischen Verfahren und chem. Geräte.
Seit der Renaissance strebte man danach, chem. Kenntnisse für praktische Zwecke zu nutzen (Medizin, Schießpulver, Destillation von Alkohol). G. Agricola (1494-1555) begründete die Mineralogie, Paracelsus (1493-1541) die Iatrochemie, die von der Vorstellung ausging, daß alle Vorgänge im Körper chem. Natur sind, und daß Mißverhältnisse im Körper zu Krankheiten führen. Sie eröffnete der C., verbunden mit der Medizin, den Zugang zu den Hochschulen. Der erste Lehrstuhl für C. wurde 1609 in Marburg gegründet. R. Boyle (1627-1691) führte korpuskulare Vorstellungen über den Bau der Materie in die C. ein, G. E. Stahl (1659-1734) legte zum ersten Mal die wechselseitige Bedingtheit von Oxidation und Reduktion dar und A. L. Lavoisier (1743-1794) bewies, daß jede Verbrennung eine Vereinigung mit Sauerstoff ist. Mit dieser Erkenntnis konnte er auch eine richtige Definition des chem. Elementes geben, als einen Stoff, den man durch die Methoden der chem. Analyse nicht weiter in andere zerlegen kann. Quantitative Untersuchungsmethoden führten zur Entdeckung des Gesetzes der multiplen Proportionen und zur Begründung der Stöchiometrie. Darauf stellte Dalton 1804 eine neue Atomtheorie auf, die die qualitativen und quantitativen Verhältnisse berücksichtigte, jedem Element ein bestimmtes Atomgewicht zuschrieb und die chem. Reaktionen als Folge der Vereinigung und Trennung dieser Atome erklärte. Besondere Verdienste um die weitere Entwicklung der anorganischen C. erwarben sich in der Folgezeit J. H. Berzelius (1779-1848) mit einer elektrochem. dualistischen Theorie, H. Davy (1778-1829) mit der Entdeckung neuer Elemente (Alkalien und Erdalkalien) und Gay-Lussac (1778-1850) mit der Entdeckung des chem. Volumengesetzes. Eine glänzende Bestätigung ihrer atomistischen Grundkonzeption erfuhr die anorganische C. 1869 mit der Aufstellung des Periodensystems durch D. I. Mendelejev (1834-1907) und etwas später durch L. Meyer (1830-1895). Eine wesentliche Neuerung in der anorganischen C. brachte um 1900 die Komplexchemie nach der Koordinationslehre von A. Werner (1866-1919), seit 1915 das Gebiet der Festkörperreaktionen. Mit Beginn des 19. Jh. entwickelte sich der Zweig der organischen C. 1828 gelang F. Wöhler die Synthese des Harnstoffs aus anorganischen Ausgangsstoffen. Sie widerlegte die Theorie, daß Stoffe des tierischen und pflanzlichen Organismus nicht im Labor erzeugt werden können. Es folgte die Konstitutionsaufklärung organischer Stoffe und die Synthese von Natur- und künstlichen Produkten (Indigo, Chinin, Zucker, Fette, Alkaloide, Kautschuk u. a.). In den letzten Jahrzehnten des 19 Jh. entwickelte sich die physikalische Chemie. Carnot, Kirchhoff, Helmholtz, Gibbs, Nernst und Boltzmann begründeten die chem. Thermodynamik, und es entwickelten sich die Gebiete Reaktionskinetik, chem. Atomistik und Kolloidchemie. Die Anwendung quantenmechanischer Methoden auf chem. Probleme führte zu einem weitgehenden Verständnis organischer Reaktionen (Ingold, Pauling).
An dieser Entwicklung waren unter anderem Forscher wie J. v. Liebig, F. Wöhler, J. B. Dumas, M. F. Chevreul, E. Mitscherlich, F. F. Runge, C. Gräbe, A. W. v. Hofmann, H. Kolbe, E. Fischer, H. Fischer und W. J. Reppe maßgeblich beteiligt. Die theoretischen Vorstellungen in der organischen C. wurden vor allem von A. Butlerov, A. Kekulé, van't Hoff, S. Cannizzaro, J. Wislicenus und A. von Baeyer weiterentwickelt. Mit der Entdeckung der Wirkungsweise der Katalysatoren nahm die großtechnische Herstellung synthetischer Produkte in der organischen C. (Kohlehydrierung, Treibstoffe, synthetischer Kautschuk, Plaste, Acetylenchemie u. a.) wie in der anorganischen C. (Schwefelsäure, Ammoniak, Salpetersäure) einen ungeheuren Aufschwung.
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