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Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn.

Aus dem Englischen von Hainer Kober.
List, München 1995.
384 Seiten, DM 44,-.

Vernünftige Entscheidungen, lautet ein Gemeinplatz, müssen mit kühlem Kopf getroffen werden, denn Gefühle und Vernunft schließen einander aus. Demzufolge müßte jemand, der keine Gefühle empfindet, besonders rational sein. Antonio R. Damasio, Leiter der neurologischen Abteilung an der Universität von Iowa in Iowa City und Träger mehrerer Wissenschaftspreise, zeigt, warum diese Ansicht verfehlt ist.

Der Franzose René Descartes (1596 bis 1650), auf den der Titel Bezug nimmt, hat mit seiner Unterscheidung einer denkenden und einer ausgedehnten Substanz die bekannteste Formulierung des Geist-Körper-Dualismus geliefert und ist einer der meistzitierten Philosophen in der Dekade des Gehirns. Sein Irrtum, so Damasio, bestand darin, den Geist vom Körper abgrundtief zu trennen, anzunehmen, das Denken vollziehe sich losgelöst vom Körper und sei das eigentliche Substrat des Selbst. Damasio stellt dem cartesischen Dualismus drei Thesen entgegen:

- Die Vernunft hängt von unserer Fähigkeit ab, Gefühle zu empfinden,

- Empfindungen sind Wahrnehmungen der Körperlandschaft, und

- der Körper ist das Bezugssystem aller neuronalen Prozesse.

Auf die Spur brachten den Autor Patienten mit Verletzungen einer bestimmten Hirnregion, des Stirnlappens. Sie zeigten auffällige Veränderungen ihrer Persönlichkeit, auch wenn sie körperlich anscheinend gesundet waren. Obwohl auch ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt schienen, waren sie nicht mehr fähig, ihr Leben zu organisieren. Menschen, die vor ihrer Erkrankung erfolgreich im Beruf gestanden hatten, trafen nun Entscheidungen, die sie ruinierten; sie waren unfähig, einen Plan in die Tat umzusetzen oder eine begonnene Sache zu vollenden.

Beeindruckend ist das Beispiel eines Patienten, der, gefragt, ob er lieber zu dem einen oder dem anderen Termin zur Untersuchung kommen wolle, eine halbe Stunde lang Argumente für beide Möglichkeiten aufzählte, ohne zu einem Entschluß zu kommen. Erst nach der Entwicklung neuer Testmethoden fiel auf, was die Behinderung der Betroffenen ausmachte: Ihre Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, war weitgehend zerstört worden. Statt nun besonders rationale Entscheidungen zu treffen, konnten diese Menschen sich gar nicht mehr entscheiden. Demnach würde eine Erkenntnistheorie, die Emotionen und Vernunft trennen will, eher das Entscheidungsverhalten eines Hirngeschädigten als das eines Gesunden beschreiben.

Aus den Erfahrungen mit seinen Patienten entwickelt Damasio seine Überlegungen zum Zusammenwirken von Körper und Geist. Im Zentrum steht die Hypothese der somatischen Marker. Im Stirnlappen des Gehirns seien drei Fähigkeiten lokalisiert: zielorientiertes Denken, Entscheidungsfindung und Körperwahrnehmung. Letztere, eine Art Momentaufnahme dessen, was im Körper vor sich geht, ist der Hintergrund aller geistigen Operationen. Je nachdem, wie der Körper auf äußere Wahrnehmungen reagiert, das heißt seinen Zustand verändert, verändert sich auch die Körperwahrnehmung. Sie begleitet unsere Vorstellungsbilder, neue wie erinnerte, und markiert sie als angenehm oder unangenehm. Diese Fähigkeit, Körperwahrnehmungen – Damasio nennt sie "somatische Marker" – mit Wahrnehmungen zu verknüpfen, ist uns teils angeboren, teils entwickelt sie sich im Zuge der Sozialisation des Individuums.

Die somatischen Marker sind nach Damasio die Grundlage unserer Entscheidungen. Sie helfen uns beim Denken, indem sie Vorentscheidungen treffen und uns, ohne daß es uns bewußt würde, in eine bestimmte Richtung drängen, vor Dingen warnen, mit denen wir schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht haben, oder die Aufmerksamkeit auf etwas Wichtiges lenken. Auf diesem Weg beeinflussen sie eben auch das abstrakte Räsonieren, das wir als gefühlsneutral erleben.

Evolutionsgeschichtlich war der Körper zuerst da, danach entwickelten sich die einfacheren Fähigkeiten des Gehirns wie die Wahrnehmung des Körperzustands, zuletzt die komplexeren wie abstraktes Denken und Selbstbewußtsein. Dies schlägt sich in unserem Denken noch heute nieder. Die jüngeren Fähigkeiten haben zwar eine gewisse Selbständigkeit erlangt, sind aber durchdrungen von den evolutionär früheren Strukturen, welche die biologischen Überlebensinteressen des Organismus vertreten.

Über die Bedeutung seiner Ausführungen äußert sich Damasio vorsichtig. Viel von dem, was er berichtet, seien nur Thesen; wiederholt betont er, die Würde des Menschen werde durch seine Forschungen nicht angegriffen. Nach seiner Auffassung verlieren altruistische Taten nichts von ihrem Wert, unsere Entscheidungen nichts von ihrer Rationalität, wenn wir wissen, daß daran biologische, unbewußt bleibende Prozesse beteiligt sind. Die Neurobiologie, so hofft er, könnte helfen, tieferen Einblick in die Situation des Menschen und die Ursachen sozialer Konflikte zu gewinnen und Mittel zu ihrer Entschärfung zu finden.

Damasio nimmt auch skeptische Einwürfe gleich vorweg: Gefahren drohen auf jeden Fall – wenn der Mensch beschließt, Zauberlehrling zu spielen, ebenso, wie wenn er darauf verzichtet, sich den Herausforderungen aus neuen Einsichten zu stellen: "Nur das zu tun, was sich natürlich ergibt, kann nur Menschen gefallen, die unfähig sind, sich bessere Welten und bessere Verhältnisse vorzustellen."

In der Flut der einschlägigen Neuerscheinungen in der Dekade des Gehirns ist Damasios Buch eines der wichtigsten. Hochaktuelle, international renommierte Forschungsarbeiten werden hier aus erster Hand verständlich und spannend präsentiert und zugleich – mit einem gewissen Vergnügen an metaphysischer Terminologie – in Hinsicht auf ihre Bedeutung für unser Welt- und Menschenbild vorsichtig interpretiert.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1997, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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