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Geografie: Die Ostsee

Eine Natur- und Kulturgeschichte
C. H. Beck, München 2002. 357 Seiten, € 34,90


Auf einer Reise über die Ostsee entwarf Johann Gottfried Herder 1769 die Grundzüge einer neuen Forschungsrichtung, die sich der umfassenden Darstellung von Sprache und Kultur eines jeden Landes widmen sollte. Der bedeutende deutsche Kulturphilosoph und Dichter war davon überzeugt, dass Völker und Nationen ihre Identität vornehmlich über die Sprache entwickeln – vor allem durch die Überlieferung von Märchen, Sagen und Volksliedern. Hansjörg Küster, Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Universität Hannover, ist angetreten, Herders Ansatz zur "Landeskunde" naturgeschichtlich zu erweitern: Neben der Sprache und der Geschichte haben auch die Gegebenheiten der Natur wesentlich zur kulturellen Selbstfindung der Ostseeanrainer beigetragen.

Damit weckt der Autor große Erwartungen. Nicht nur um Herders "Individualität des Werdens der Völker" soll es gehen, sondern noch umfassender "um das Erkennen der individuellen Einheit von Natur und Kultur". In der Tat ist die Ostsee für die angestrebte Synthese von Natur- und Kulturbetrachtung wie geschaffen, denn sie ist in der vollen Bedeutung des Wortes einmalig: "Kein anderes Meer ist so jung, war in den letzten Jahrtausenden so vielen Veränderungen unterworfen. Nirgendwo sonst tauchten in den letzten Jahrzehnten derartig viele Inseln aus dem Meer empor, nirgendwo sonst werden in ähnlicher Weise Küsten zerstört und neu aufgebaut, nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viel Brackwasser."

Erst vor 15000 Jahren, als die mächtigen Gletscher der Weichsel-Eiszeit bis auf relativ kleine Restflächen abschmolzen, konnte das "Mare Balticum" entstehen. Die Küsten und der Untergrund bestehen überwiegend aus Gesteinen, die zu den ältesten Europas zählen. Und unter dem größten Teil der See liegt ehemals trockenes Land. Die Ostsee ist "Das alte Land unter dem jungen Meer" – so Küsters schönste Kapitelüberschrift.

Trotz seiner kurzen Geschichte unterlag das "Mittelmeer des Nordens" immer wieder großen geologischen Veränderungen, die noch keineswegs abgeschlossen sind. Zeitweise war die Ostsee, ohnehin eher eine abgesonderte Meeresbucht als ein eigenständiges Meer, ein reiner Süßwassersee. Das heutige Brackwassermeer ist nur über kleine Rinnsale mit der Nordsee und dem Atlantik verbunden, sodass über den Regen und die Flüsse stets mehr Süß- als Salzwasser hinzukommt.

Küster geht auch im kulturgeschichtlichen Teil seiner Darstellung immer wieder auf naturgeschichtliche Besonderheiten ein, sofern sie die Besiedlung des Ostseeraums durch den Menschen beeinflussten. Der Autor macht plausibel, warum Küste und Hinterland in unterschiedlichen Formen besiedelt wurden, warum sich die Gegensätze zwischen Ackerbau- und Jägerkulturen im Ostseeraum länger erhielten als in anderen Regionen Europas.

Der frühzeitig in Schwung gekommene Handel markiert zugleich den Beginn des kulturellen Aufstiegs der Ostseeregion. Ob Küster nun einen Einblick in die Welt der Wikinger gibt, Aufstieg und Niedergang der mächtigen Hanse skizziert, die Errichtung oder den Ausbau von Metropolen wie Stockholm oder Sankt Petersburg beschreibt – die Kulturgeschichte der Ostsee erweist sich von Anfang an als ebenso vielfältig und dynamisch wie die Naturgeschichte.

Doch zur eigentlichen Kulturgeschichte stößt Küster trotz manch verheißungsvoller Ansätze nie vor. Deshalb vermag das Buch auch nur so lange zu fesseln, wie der Autor bei der allgemeinen Geschichte der Ostsee und der Landschaften ihrer Küste bleibt. Versuche, die oftmals glanzvollen kulturellen Impulse der Region – etwa die Verbindung von Romantik und Ostsee durch Künstler wie Caspar David Friedrich – in die Argumentation aufzunehmen, wirken seltsam halbherzig und lassen überdies keine organische Einbettung in den Gesamtkontext erkennen.

Der Autor beschreibt bevorzugt technisch-zivilisatorische Prozesse, etwa die Modernisierung der finnischen Landwirtschaft oder die Erschließung schwedischer Erzvorkommen. Warum der Ostseeraum, in vielerlei Hinsicht eine Schicksalsgemeinschaft, es nie zu einer wirtschaftlichen und politischen Vereinigung brachte, wird nicht überzeugend erklärt. Von seiner einst so bedeutenden geistigen Ausstrahlung erreicht den Leser kaum mehr als ein matter Schimmer. Kant wird nur beiläufig erwähnt, Kopernikus gar nicht. Der deutsche Osten als Kulturlandschaft und die Tragödie seines Untergangs im Zweiten Weltkrieg wird nicht thematisiert, sondern im Telegrammstil abgehandelt.

Zum Ende des Buchs werden mehr und mehr konzeptionelle Schwächen sichtbar. Das Schlusskapitel "Die kulturelle Entdeckung der Ostsee, der Nationalismus, die Umweltverschmutzung und die Ferienidyllen" ist genau das, was die Überschrift befürchten lässt: Restpostenverwertung direkt aus dem Zettelkasten, inhaltlich grob sortiert, gedanklich unausgegoren, sprachlich anspruchslos.

Fazit: Dem anfangs noch mit Süßwasser verwöhnten Leser wird mehr und mehr ungenießbares Brackwasser eingeschenkt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2003, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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