Dilemma und Perspektiven der Beschäftigung
Moderne Volkswirtschaften sind mit einer fundamentalen Frage konfrontiert, deren Bedeutung noch nicht einmal die bereits bestehende Massenarbeitslosigkeit voll ermessen läßt: Wie steht es um Arbeit schlechthin? Bei jeglichen Überlegungen, wie dieses äußerst schwierige Problem zu bewältigen sein werde, ist vieles weit breiter und tiefer zu bedenken, als die konventionellen Ansätze der Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik es nahelegen; mit ihnen sucht man immer noch nach Lösungen innerhalb des bisher bekannten Systems.
Arbeit aber ist – als Humankapital – mehr als nur ein Produktionsfaktor; sie ist – für das Individuum – auch mehr als bloßer Broterwerb. In sinnvoller Beschäftigung finden die Menschen ein wesentliches Element ihres Selbstverständnisses, das in der aktiven Phase ihres Lebens über die persönliche Motivation wiederum in Leistung einfließt.
Wer also den Wandel der klassischen Industrie- in die neue Dienstleistungsgesellschaft untersucht, kommt nicht umhin, die nicht-monetäre Sphäre mit zu berücksichtigen: Formen des Austauschs (auch von Arbeit), die eben nicht mittels Geld beglichen werden. Die traditionellen ökonomischen Theorien und Modelle lassen diese Sphäre weitgehend außer acht. Darum haben wir in unserem Bericht an den Club of Rome, der jüngst auch in deutscher Sprache unter dem Titel “Wie wir arbeiten werden” erschienen ist, die Vision von einem System entwickelt, das Humantätigkeiten besonders in den Vordergrund rückt und damit das ökonomisch Sinnvolle mit dem moralisch Erstrebenswerten verbindet.
Der Club of Rome ist eine Organisation mit rund einhundert Mitgliedern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik aus mehr als fünfzig Ländern, die sich als Katalysator für Anstrengungen zur Bewältigung der drängenden globalen Probleme versteht.
Kaum eine Frage ist so anspruchsvoll und herausfordernd und betrifft dabei jeden einzelnen so unmittelbar wie die nach der künftigen Organisation von Arbeit. Deshalb sind wir überzeugt, daß alle daran Mitwirkenden ihren Blickwinkel erweitern müssen. Unsere Überlegungen stützen sich auf drei Grundsätze:
- Arbeit und Beschäftigung – oder allgemeiner produktive Tätigkeiten – haben zum Ziel, ein besseres Leben für jeden zu ermöglichen; sie schaffen Wohlstand.
- Die Definition von Wohlstand in der gegenwärtigen Wirtschaftstheorie muß überdacht, revidiert und – wie auch der Begriff des ökonomischen Wertes – den neuen Verhältnissen angepaßt werden.
- Produktive Tätigkeiten beruhen auf menschlicher Leistungsfähigkeit und Würde. Wir sind, was wir tun – und dies nicht nur in einem rein ökonomischen Verständnis.
Es ist eine alte Erfahrung und eigentlich eine Binsenweisheit: Im Verlauf der Geschichte werden zeitweilig adäquate soziale Theorien und effiziente Referenzsysteme fortwährend überholt; dann ist jeweils Anpassung oder sogar Umorientierung erforderlich. In unserem Bericht an den Club of Rome haben wir deshalb versucht, neue Ideen und Variablen zu entwickeln, mit denen sich die heutige Gesellschaft den Herausforderungen erfolgreicher stellen könnte. Denn schließlich ist die Wirtschaftstheorie, die wir bislang kennen, Ergebnis und Konsequenz eines sehr spezifischen historischen Phänomens: der industriellen Revolution, die etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts – ausgehend von Großbritannien – die europäischen Kernländer erfaßte.
Damals wurde die wirtschaftliche und soziale Konzentration der feudalen Agrarstaaten auf Grund und Boden sowie auf handwerkliches Gewerbe obsolet. Als infolge technischer Erfindungen die epochale Entwicklung der Montanindustrie und der maschinellen Massenherstellung von Gütern einsetzte, war der damit einhergehende Wandel des gesellschaftlichen Systems mit den noch vorherrschenden Vorstellungen nicht mehr zu verstehen, geschweige denn zu lenken.
Allein der schottische Moralphilosoph Adam Smith (1723 bis 1790), Begründer der klassischen Nationalökonomie, trug schon zu dieser Zeit in seinem Werk “Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichtums” den veränderten Produktionsverhältnissen Rechnung: Er definierte Arbeit als jenen Faktor, der maßgeblich den Tauschwert einer Ware und damit letztlich auch den Wohlstand eines Landes bestimmt. Seine Überlegungen und die seiner Nachfolger beschrieben die neuen Möglichkeiten der Wertschöpfung und stellten geeignetes theoretisches Rüstzeug dafür bereit, die fortan dominierenden wirtschaftlichen Prozesse zu planen und zu steuern. Im vorigen Jahrhundert leiteten dann wissenschaftliche Entdeckungen und darauf basierende neue Technologien einen einzigartigen Wachstumsprozeß in den Industrieländern ein, der bis in die jüngste Vergangenheit anhielt.
Nun befinden wir uns seit einiger Zeit wiederum in einer Phase fundamentaler Umbrüche. Zum einen gilt es, die gesamte Erde als empfindliches Ökosystem zu begreifen; mithin sind uns “Grenzen des Wachstums” gesetzt, wie die Autoren des ersten Berichts an den Club of Rome – Donella und Dennis Meadows sowie Jørgen Randers und William W. Behrens – 1972 programmatisch formulierten. Zum anderen bewirkt die rasante Steigerung von Effizienz, daß viele traditionell organisierte und entlohnte Arbeiten überflüssig wurden und werden.
Ökonomische Werte bemessen sich jetzt nach der Leistungsfähigkeit eines Produkts oder Dienstes in einem bestimmten Zeitraum. Und Dienstleistungen ergänzen nicht mehr nur die klassische materielle Güterherstellung – sie dominieren inzwischen alle Sektoren. Auf sie entfallen mittlerweile bis zu 80 Prozent der gesamten Gestehungskosten im weiteren Sinne, verteilt über den gesamten Produktionsprozeß von den ersten Initiativen in Forschung und Entwicklung über Fertigung, Distribution und Nutzung bis hin zum Recycling oder zum endgültigen Ausscheiden aus dem Wirtschaftskreislauf.
Zudem ist – wie gesagt – zu berücksichtigen, daß Wohlstand nicht ausschließlich in der monetären Sphäre der Wirtschaft geschaffen wird, wie das traditionelle Maß des Bruttosozialprodukts unterstellt. Zum Beispiel arbeiten in Frankreich schätzungsweise acht Millionen Menschen vier bis fünf Stunden am Tag für karitative Zwecke; in den USA engagiert sich jeder fünfte Bürger auf diese Weise. Nicht mit Geld vergütete produktive Tätigkeiten sowie die Eigenproduktion gewinnen zunehmend an Bedeutung; sie ergänzen insbesondere durch Einsatz und Gebrauch komplexerer Systeme immer stärker die traditionellen monetisierten Bereiche der Wirtschaft, was auch unerläßlich ist. Dies ist mit in Betracht zu ziehen, und dafür braucht es neuer angemessener Indikatoren.
Lösungsansätze für die Organisation der Gesellschaft, die all diesen Veränderungen Rechnung tragen, haben wir in einem Multi-Schichten-System der Arbeit zusammengefaßt:
- Eine erste Schicht von Arbeit, die etwa 20 Wochenstunden umfassen könnte, sollte für jeden, sofern er fähig und willens ist, zur Verfügung gestellt werden. Im Austausch für seine Leistung erhält er ein Minimum an Entlohnung, damit er seine vitalen Grundbedürfnisse angemessen befriedigen kann. Die derzeit verfügbaren finanziellen Mittel, die für Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und andere Sozialleistungen eingesetzt werden, wären als Basis dafür zu nehmen. So könnten auch jene Personen weiterhin aktive und produktive Mitglieder der Gesellschaft sein, die jetzt von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wobei sowohl individuelle wie gesellschaftliche, äußerst negative Konsequenzen vermieden würden.
- Es handelt sich in dieser Schicht um Arbeiten, für die sich auf den Märkten keine hinreichenden privatwirtschaftlichen Organisationsformen herausbilden, obgleich die Gesellschaft sie als wertvoll und förderlich für den Wohlstand erkennt: vor allem zum Beispiel soziale Dienste wie Pflege und Betreuung von jungen und alten Menschen, die Vermittlung von Wissen, kommunale Aufgaben oder Dienste für die Wahrung der inneren Sicherheit insbesondere in den großen Städten. Wer sich dafür nicht zur Verfügung stellt, verzichtet damit auf den Anspruch auf staatliche Basisleistungen. Dabei gilt es zu beachten, daß öffentliche Aktivitäten nicht die privatwirtschaftliche Initiative verdrängen.
- Die zweite Schicht besteht in all den traditionellen bezahlten Tätigkeiten, die bereits heute in der Masse der Beschäftigungsverhältnisse ausgeübt werden und die Normalform der Erwerbsarbeit in unserem Wirtschaftssystem sind. Diese Schicht sollte nach unseren Vorstellungen weitestgehend frei von staatlichen Interventionen sein; diese müßten sich auf steuernde Eingriffe etwa bei Marktversagen, fehlerhaften Zuweisungen von finanziellen Mitteln, Produktivkräften und Material oder Fehlverhalten reduzieren. Jedem Beschäftigten steht es dabei frei, die aus dem Steueraufkommen vergütete Arbeit aus der ersten Schicht durch Erwerbstätigkeit im Wirtschaftsgeschehen der zweiten Schicht vollends zu ersetzen oder in beiden Bereichen tätig zu sein. Die überwiegende Mehrheit der Bürger, die eine bezahlte Stellung haben, wird indes staatliche Basisleistungen für soziale Dienste gar nicht in Anspruch nehmen wollen, weil für sie dieses Einkommen unnötig und uninteressant ist.
- Die dritte Schicht schließlich umfaßt alle freiwilligen, nicht entlohnten, in der Regel also ehrenamtlichen Tätigkeiten sowie die gesamte Eigenproduktion. Diese Arbeiten ergänzen bezahlte Tätigkeiten oder ersetzen sie sogar wie im Fall der Eigenarbeit. Sie sind zunehmend erforderlich, damit eine moderne Dienstleistungswirtschaft überhaupt funktionieren kann. Wichtig ist, daß die Gesellschaft solche Tätigkeiten, gerade weil sie nicht in Geld entlohnt werden, stärker anerkennt – vor allem im Verhältnis zu dem, was herkömmliche Erwerbsarbeit für die Wertschöpfung leistet.
Unserem Schichtenmodell liegt die Idee zugrunde, daß Personen nicht für Untätigkeit – als Arbeitslose – bezahlt werden sollten, sondern dafür, daß sie weiterhin zum eigenen Wohle und dem der Gemeinschaft aktiv bleiben. Dies gilt auch dann, wenn in der zu erwartenden Mehrzahl der Fälle Tätigkeiten der garantierten ersten Schicht der Arbeit nicht mit den individuellen Präferenzen übereinstimmen.
Der rechtliche Rahmen für die Arbeit muß entsprechend den veränderten Gegebenheiten angepaßt werden. Bei seiner konkreten Ausgestaltung ist dem Individuum weiterhin adäquater sozialer Schutz zu gewährleisten. Bislang werden Beschäftigungsverhältnisse wie insbesondere die Teilzeitarbeit rechtlich und wirtschaftlich benachteiligt; deswegen aber können sich Arbeitsmarkt und persönliche Betätigungswünsche kaum aufeinander einspielen, und die Wirtschaft ist nicht so effizient, wie sie sein könnte. Man sollte vielmehr sogar die Möglichkeit eröffnen, zwei oder mehr Teilzeit-Arbeitsverhältnisse miteinander zu verbinden.
Das derzeit vorherrschende System, das Gehälter und Löhne in der Regel nach Jahren der Betriebszugehörigkeit und insofern nach dem Alter abstuft, sollte flexibler ausgestaltet werden. Vorzuziehen wäre eine Einkommensstruktur, die sich stärker nach der Einzelleistung bemißt und somit sowohl die Diskriminierung von älteren wie auch die von jüngeren Beschäftigten in spezifischen Fällen vermeidet. Dieses System würde auch den individuellen Bedürfnissen besser gerecht, die im Laufe eines Lebens erfahrungsgemäß variieren.
Wir erwarten von der Politik, daß sie einen beschäftigungsförderlichen rechtlichen Rahmen schafft. Um stimulierend auf die Schaffung von Möglichkeiten für Arbeit in all ihren Formen zu wirken, ist das Besteuerungssystem so umzugestalten, daß der Produktionsfaktor Arbeit fiskalisch entlastet wird. Die Einnahmen der öffentlichen Hand werden sich zwar vermindern, wenn sie die direkte Besteuerung von Arbeitseinkommen reduziert; aber dies läßt sich kompensieren, indem man indirekte Steuern anhebt und eine ökologische Steuerreform einführt, welche die bislang nicht in Rechnung gestellten Folgen des Verbrauchs nicht nachwachsender Rohstoffe und fossiler Energieträger sowie der Degradierung der Lebensgrundlagen auf der Erde besser sichtbar macht.
Wenn die Gesellschaft es wünscht, lassen sich im übrigen Umverteilungen auch zum Beispiel durch eine übermäßige Besteuerung von ausgewählten Produktgruppen wie Luxusgütern bewerkstelligen. Vor allem aber müssen die fiskalischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die erste Ebene des Multi-Schichten-Modells erfolgreich zu etablieren.
Ergänzend sollten die Jüngeren mehr Gelegenheit bekommen, schon während der Ausbildung Arbeitserfahrungen zu sammeln. Theorie und Praxis müßten sich insbesondere im Studium ergänzen; die Institutionen der höheren Bildung wären mithin deutlich stärker als bisher in die Volkswirtschaft einzubinden. So würde die Basis für einen lebenslangen Lernprozeß gelegt – unerläßlich unter den Bedingungen innovativen Wandels, der einmal erlerntes Wissen immer schneller veralten läßt.
Desgleichen bedarf das Rentensystem einer Erneuerung. Beschäftigte sollten sich – leichter als bisher schon – vor dem offiziellen Rentenalter schrittweise oder gänzlich aus dem Berufsleben zurückziehen können. Ein flexibel gehaltener Übergang hat den Vorteil, daß die persönliche Belastung, die das plötzliche Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit oft mit sich bringt, gemindert würde und daß sich die Arbeitszeitlast der finanziellen und besonders auch der gesundheitlichen Situation des einzelnen anpassen ließe. Möglich würde ein gradueller Rückzug in den Ruhestand durch entsprechend gestaffelte Frührenten, die das staatliche Rentensystem, die betriebliche Altersvorsorge und das private Sparen ergänzen und somit dieses traditionelle System der sozialen Sicherung insbesondere in einer alternden Gesellschaft entlasten könnten.
Die von uns im Bericht an den Club of Rome präsentierten und hier kurz skizzierten Vorschläge zur Umgestaltung der Arbeitsgesellschaft sollen keine alternative ökonomische Theorie begründen, die fortan überall Gültigkeit hätte. Vielmehr geht es uns darum, bestehende Systeme so zu überarbeiten, daß die sich verändernden Wirtschaftsprozesse besser zu verstehen sowie nachhaltiger und effizienter zu steuern sind. Endgültige Lösungen für die ausstehenden Probleme kann es ohnehin nicht geben.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1998, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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