Giftlinden rehabilitiert
Noch vor wenigen Jahren wurde ein Abholzen der für nektarsammelnde Insekten scheinbar giftigen Lindenarten gefordert; doch die sind nach neueren Erkenntnissen gerade lebensspendend.
In den achtziger Jahren häuften sich in Fachzeitschriften und in der Tagespresse Meldungen über Massensterben von Insekten unter spätblühenden fremdländischen Linden; insbesondere Hummeln waren betroffen. Vor allem die in Städten als Alleebäume beliebte Silberlinde (Tilia tomentosa), die seit 1767 eingebürgert ist, und die Krimlinde, ein seit etwa 1860 eingebürgerter Tilia-euchlora-Bastard, galten als "Hummelmörderinnen" (Bild auf Seite 34). Nach dreijährigen Untersuchungen gibt der Zoophysiologe Bernhard Surholt von der Universität Münster jetzt jedoch Entwarnung: Der Nektar ist ungiftig; das massive Insektensterben unter den blühenden Bäumen ist, was zunächst paradox anmutet, Folge eines Nahrungsmangels ("Natur und Landschaft", Band 69, Heft 3, Seite 91, sowie Heft 9, Seite 412).
Ein solches Massensterben unter manchen Linden ist nicht neu; schon 1922 berichteten Schweizer Imker darüber. Von unterschiedlichen Ansatzpunkten ausgehend wurde seither immer wieder versucht, die Ursachen zu finden. Mangels ausreichend gesicherter Befunde blieben sie offen.
In den Jahren 1990 bis 1992 sammelten und analysierten deshalb Surholt und seine Mitarbeiter systematisch alle toten Insekten unter den vier wichtigsten in Mitteleuropa vorkommenden Linden an ausgewählten Standorten in Münster und zwei anderen westfälischen Städten während der gesamten Blühphasen. Überra-schenderweise fanden sich auch unter den früh blühenden einheimischen Sommerlinden (T. platyphyllos; erstes Juni-Drittel bis Ende Juni) und Winterlinden (T. cordata; Mitte Juni bis Anfang Juli) nicht wenige Opfer, und zwar um so mehr, je weiter sich die Blütezeit witterungsbedingt in den Juli hinein verzögerte. Regelmäßige Massensterben waren in der Regel jedoch erst unter den Anfang bis Mitte Juli blühenden Krim- und dann noch stärker unter den Mitte bis Ende Juli blühenden Silberlinden zu verzeichnen (Bild). Dabei überwogen mit rund 85 Prozent helle und dunkle Erdhummeln (Bombus terrestris und B. lucorum). Etwa zehn Prozent waren Honigbienen; den Rest stellten andere Insekten wie Wespen und Schwebfliegen, die ebenfalls Nektar saugen.
Bröckelnde Hypothesen
Die Blütezeit dieser Linden, insbesondere wenn sie sich verzögert, fällt mit der beginnenden Absterbephase der Hummelvölker und der allmählichen Umstellung der Honigbienenvölker von kurzlebigen Sommer- auf langlebige Winterbienen zusammen. In den Erdhummelnestern schlüpfen etwa Ende Juli die ersten Jungköniginnen und Drohnen, die sich selbst ernähren können; die Arbeiterinnen und ihre Altkönigin gehen nach und nach zugrunde. Wäre dies die Ursache für den Totenfall, wie eine frühere Hypothese besagt, müßten unter den Bäumen allerdings insbesondere alte Tiere liegen und tote Jungköniginnen die Ausnahme sein. Wirklich alte Bienen und Hummeln waren mit knapp 7 Prozent aller Opfer jedoch bei weitem in der Minderheit, und die Kaste der Hummelköniginnen war mit 3 Prozent der aufgesammelten Hummeln nahezu repräsentativ vertreten.
Drei Viertel aller aufgesammelten Insekten zeigten äußerliche Schäden – oft solche, wie man sie bei Bienen sieht, die von Kohlmeisen zerpflückt wurden. Spätblühende Linden bilden die letzten großen Trachtquellen der Vegetationsperiode, so daß insbesondere einzeln stehende Bäume mangels Alternativen sehr viele nektarsuchende Insekten aus der Umgebung anziehen. Auch die Freßfeinde der Hummeln und Bienen konzentrieren sich dann darauf. Die generelle Ursache für das Massensterben konnten sie freilich entgegen früheren Vermutungen nicht sein; denn es gab immer wieder Bäume mit starkem Totenfall, unter denen die Opfer unbeschädigt waren.
Somit blieb als dritte die vor Jahren propagierte These, der Nektar spätblühender Linden enthielte Stoffe, welche die betroffenen Insekten entweder direkt oder nach Umwandlung im Verdauungstrakt töten. Seit längerem ist bekannt, daß Einfachzucker wie Mannose, Galaktose und Rhamnose auf Bienen, Hummeln und manche Wespen giftig wirken. Die am stärksten bienentoxische Verbindung, die Mannose, blockiert wichtige Enzyme im Energiestoffwechsel der Immen ("Science", Band 131, 29. Januar 1960, Seite 297).
Verfechter der Giftthese beriefen sich außerdem auf Untersuchungen des Bonner Zoologen Günter Madel aus dem Jahre 1977, wonach sämtliche seiner acht Hummeln, die während zwölf Stunden sieben Silberlindenblüten als alleinige Futterquelle geboten bekamen, bei Versuchsende tot waren. Vorläufige papier- und dünnschicht-chromatographische Untersuchungen deuteten damals auf das mögliche Vorkommen von Mannose im Silberlindennektar hin. Ein eindeutiger Nachweis im Nektar wie auch im Körper der toten Insekten stand allerdings immer noch aus (bei der Verdauung zuckerhaltiger Verbindungen hätte Mannose vielleicht erst frei werden können).
Surholt versuchte es mit der hochempfindlichen Kapillar-Gaschromatographie;
doch weder im Nektar der vier Lindenarten noch im Körper der herabgefallenen Hummeln war Mannose oder ein anderes giftiges Mono- oder Disaccharid zu finden. Auch eine sogar fünftägige Fütterung mit dem Nektar spätblühender Linden vertrugen Erdhummeln ohne Zeichen einer Schädigung. Im Gegenteil, von Silberlinden herabfallende Tiere erholten sich recht rasch, wenn sie noch imstande waren, reichlich angebotenen Nektar eben dieser Bäume aufzunehmen. Die Gifthypothese Madels beruht demnach, so Surholt, möglicherweise auf einer Fehlinterpretation; mit den sieben angebotenen Silberlindenblüten konnten die acht Tiere nur ein vierundfünfzigstel ihres Nektarbedarfs decken und mußten höchstwahrscheinlich verhungern.
Tödliches Energiedefizit
Interessanterweise wiesen herabfallende Hummeln äußerst niedrige Zuckerkonzentrationen in Darm und Hämolymphe (der Blut-Lymphflüssigkeit) auf. Sie waren demnach im Begriff zu verhungern. Aktiv an Silberlinden sammelnde Artgenossen hatten etwa dreimal höhere Energiereserven.
Nun klingt es im ersten Moment abwegig, daß die Hummeln ausgerechnet an den in voller Blüte stehenden Silberlinden zu wenig Nektar finden sollten; diese Art produziert, wie sich zeigte, ähnlich viel Tracht wie ihre früher blühenden Verwandten. So lag der Schluß nahe, daß die Nachfrage gegenüber dem Angebot einfach zu groß sei, weil der drastische Rückgang blühender Pflanzen im Hochsommer zu viele Nektarsucher auf diese Linden konzentriert. Wegen der scharfen Nahrungskonkurrenz verbraucht ein Teil der Tiere mehr Energie, als er gewinnt, und gerät schließlich in ein tödlich endendes Energiedefizit.
Die Verknappung betrifft freilich alle Blütenbesucher. Weshalb wurden dann aber hauptsächlich Hummeln dezimiert, obwohl doch nicht sie, sondern Bienen die mit Abstand häufigsten Besucher der Lindenblüten sind? Die Antwort ist in den unterschiedlichen Sammel- und Bevorratungsstrategien zu suchen. Hummeln nehmen anders als Honigbienen beim Verlassen des Nestes kaum Nahrungsreserven mit, und wenn sich das Wetter verschlechtert oder die Dunkelheit einbricht, bleiben sie oft im Freien. Danach müssen sie viel Energie zum Aufwärmen ihrer Flugmuskeln einsetzen, bevor sie ihre Sammelflüge fortsetzen können. So ist für Hummeln die Gefahr, direkt am blühenden Baum in ein Energiedefizit zu fallen, besonders groß.
Wenn das Massensterben von Hummeln wirklich eine Folge des hochsommerlichen Nektarmangels ist, müßte es sich auch unter spätblühenden Wildpflanzen bemerkbar machen. Tatsächlich fand Surholt bei Tieren, die in einem großen Naturgarten sammelten, gleichfalls bedrohlich niedrige Energiereserven. To-te Hummeln lassen sich im dichten Bodenbewuchs, wie er dort herrschte, allerdings ungleich schwerer entdecken als auf den unbewachsenen, oft asphaltierten oder gepflasterten Flächen unter den bevorzugt in Innenstädten gepflanzten Silberlinden. Dort springt der Tribut, den der Nahrungsmangel fordert, lediglich eklatant ins Auge.
Mit dem von einigen Hummelschützern geforderten rigorosen Abholzen von Silber- und Krimlinden würde man den Tieren einen Bärendienst erweisen und ihren Hungertod nur noch beschleunigen; die Opfer aber blieben weitgehend unbemerkt. Zu schützen gilt es vielmehr Bestände blühender Wildpflanzen (meist als Unkraut abgetan), welche die Versorgungslücken stopfen könnten.
Für den Erhalt vieler Hummelvölker hätte das Abholzen weitere fatale Folgen. Zur Blütezeit der Silberlinde ziehen sie ihre neuen Königinnen heran. Können diese aber nicht ausreichend ernährt werden, steht es um den Fortbestand denkbar schlecht: Bei Hummeln überwintern nur die begatteten Jungköniginnen und gründen ein neues, bis zum Spätsommer wieder vergehendes Volk.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1995, Seite 33
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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