Hermann Helmholtz und die Wissenschaft im 19. Jahrhundert
Nicht nur zur Sinnesphysiologie hat der ausgebildete Mediziner Helmholtz grundlegende Entdeckungen beigesteuert, sondern auch zur Physik, die ihn von Jugend auf interessierte. Als Philosoph reflektierte er zudem die erkenntnistheoretischen Konsequenzen der zeitgenössischen Naturwissenschaft.
Im Jahre 1838 trat Hermann Helmholtz – am 31. August 1821 als Sohn des Gymnasiallehrers Ferdinand Helmholtz in Potsdam geboren – in das als Pepinière bekannte Medizinisch- chirurgische Friedrich-Wilhelm-Institut in Berlin ein, um Medizin zu studieren. Warum Medizin und warum gerade diese Lehranstalt?
Von seinem Vater her war der damals 17jährige mit philosophischen Fragen vertraut; Begabung und Neigung zogen ihn zu den Naturwissenschaften hin, besonders zur Physik. Auf eine Vorliebe für Medizin deutete zunächst wenig.
Zudem unterschied sich die Ausbildung an der Pepinière, die dem preußischen Staat zur Ausbildung von Militärärzten diente, stark von einem Universitätsstudium. Die Absolventen waren während ihres zumeist vierjährigen Aufenthalts einem strengen Reglement unterworfen und mußten sich überdies für die doppelte Studienzeit als Militärärzte dienstverpflichten. Zum Ausgleich erhielten die zumeist aus ärmeren Schichten stammenden Studenten Stipendien.
Von Potsdam nach Berlin
Häufig ist diese Entscheidung mit den beschränkten materiellen Verhältnissen im Hause Helmholtz erklärt worden: War ein Universitätsstudium der Physik nicht finanzierbar, ermöglichte der durch ein Stipendium unterstützte Besuch der Pepinière eine akademische Karriere. Tatsächlich schloß aber das Einkommen des Vaters ein Studium nicht von vornherein aus; den Ausschlag gaben weniger die Kosten als die unklaren Perspektiven eines angehenden Physikers. Das Fach galt als brotlose Kunst, während das Studium der Medizin um die Mitte des 19. Jahrhunderts schon auf einen festen Beruf hin orientiert war und – im Gefolge der preußischen Hochschulreformen – sogar eine breitere naturwissenschaftliche Ausbildung bot.
Ohnehin vollzog sich in dieser Zeit, nachdem im 18. Jahrhundert Grundlagen der modernen Pathologie und Diagnostik sowie neue kurative Ansätze etwa mit der Pockenschutzimpfung und der Digitalis-Therapie erarbeitet worden waren und an der Wende zum 19. Jahrhundert die menschliche Anatomie auch in vielen Einzelheiten bekannt war, der Übergang zur naturwissenschaftlich fundierten Medizin. Helmholtz selbst formulierte rückblickend, daß er "in einer Periode in die Medizin eintrat, wo Jemand, der in physikalischen Betrachtungsweisen nur mäßig bewandert war, einen fruchtbaren jungfräulichen Boden zur Beackerung vorfand".
Doch könnte man bezweifeln, ob die Pepinière wirklich eine umfassende wissenschaftliche Bildung garantierte. Immerhin bildete das Institut Militärärzte aus und nahm sich, besonders in den äußeren Formen, wie eine praktizierte Antithese der Humboldtschen Universitätsidee aus: Die Eleven trugen zwar nicht Uniform, waren aber militärischer Disziplin unterworfen: festgelegten Aufsteh-, Essens- und Schlafenszeiten, obligatorischer Kontrolle des Ausgangs auch tagsüber und anderem mehr.
Erst recht war der Studienplan festgelegt und hart. Als Helmholtz im Mai 1839 – ein halbes Jahr vor der Zwischenprüfung, tentamen philosophicum genannt – in einem Brief an die Eltern sein wöchentliches Pensum beschrieb, kam er auf nicht weniger als zwölf Fächer mit zusammen 42 Wochenstunden reinen Unterrichts. "Das ist militairische Ordnung!" kommentierte er. Selbst wenn sie wohl nicht übermäßig strikt eingehalten wurde – Helmholtz und andere Absolventen berichteten über Störungen durch Musik, Trinken und Kartenspielen –, wird man sich die Anstalt, um einen modernen Vergleich zu gebrauchen, doch eher als eine Art Fachhochschule vorstellen dürfen.
Glücklicherweise beschränkte sich der starre Komment auf das Äußerliche; der Unterricht verharrte nicht beim Herkömmlichen. Vielmehr war das Niveau hoch und auf dem Stand der Zeit. In den naturwissenschaftlichen Fächern besuchten die Eleven in den dreißiger und vierziger Jahren sogar die Lehrveranstaltungen der Berliner Universität. Zudem war die Ausbildung breit angelegt: Außer medizinischen Fächern wie Anatomie, Physiologie und Pathologie wurden auch Botanik, Chemie und Physik und schließlich sogar Sprachen und Geschichte geboten.
Dabei blieb der Unterricht in den medizinischen Fächern allerdings zumeist theoretisch. Experimente fanden in Vorlesungen selten statt; auch Visitationen waren die Ausnahme. Laborpraktika, etwa in Physiologie, gab es nicht, lediglich anatomische Übungen von offenbar fragwürdigem Nutzen. Ein Teilnehmer erinnerte sich: "Nach geschehener Verteilung (der Leichen) wurden die Secanten ganz ihrer eigenen Weisheit überlassen... von planmäßiger Anleitung zum Präparieren war durchaus keine Rede. Nun waren weitaus die meisten Secanten soeben erst immatriculierte Mediciner, die nicht blos noch nie ein Scalpell geführt hatten, sondern auch von den Theilen, die sie präparieren sollten, nicht die geringste Ahnung besaßen. Die wenigsten hatten eine gedruckte Anleitung zum Präparieren zur Hand. Es läßt sich kaum denken, welche Fleischerstücke da verübt wurden."
Helmholtz erwies sich indes als fleißiger und wißbegieriger Student, der sein Studium durch umfangreiche private Lektüre ergänzte. Er las Belletristik, Philosophie – besonders Werke von Immanuel Kant (1724 bis 1804) und Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775 bis 1854) – sowie mathematische und physikalische Fachliteratur. Von seinen Lehrern fand er nur zwei wirklich anregend: den Anatomen Johann Lukas Schönlein (1793 bis 1864) und den Physiologen Johannes Müller (1801 bis 1858), bei dem er allgemeine, vergleichende und pathologische Anatomie sowie Physiologie hörte; dessen "Handbuch der Physiologie des Menschen" erschien gerade in den Jahren 1833 bis 1840. Später hat Helmholtz in Müller, der auch seine Dissertation betreute, den entscheidenden Anreger für die Hinwendung zur naturwissenschaftlichen Physiologie gesehen.
Die "Firma der organischen Physik"
Helmholtz wurde am 2. November 1842 mit einer Arbeit in mikroskopischer Anatomie promoviert und schloß dann das Studium durch ein Jahr als Unterarzt an der Charité – dem 1710 gegründeten Militärkrankenhaus, aus dem die Berliner Universitätskliniken hervorgingen – ab. Er war zweifellos ein überdurchschnittlicher Absolvent der Pepinière. Dennoch deutete wenig auf die glanzvolle akademische Karriere hin, die vor ihm lag. Eigentlich waren die Voraussetzungen dafür sogar schlecht: Jetzt mußte er seine Dienstverpflichtung als Militärarzt ableisten und lief Gefahr, auf Jahre hinaus vom akademischen Leben der Berliner Universität abgeschnitten zu sein.
Immerhin bekam er eine attraktive Stellung als Schwadronschirurg und Militärarzt in Potsdam. Das hatte gleich mehrere Vorteile: Die Garnisonstadt bot ein gewisses kulturelles Niveau und war dem gebürtigen Potsdamer geläufig; Berlin lag nicht allzu weit, und vor allem war der Dienst in Friedenszeiten – diskret formuliert – wenig anstrengend.
Helmholtz, der keine besondere Neigung zum ärztlichen Beruf verspürte, hatte also viel Zeit, seinen wissenschaftlichen Interessen nachzugehen. Er richtete sich ein Laboratorium ein und begann sich mit physiologischen Wärmeerscheinungen zu befassen. Im Jahre 1845 veröffentlichte er eine experimentelle Arbeit "Ueber den Stoffwechselverbrauch bei Muskelaction", in der er die Vorstellung einer autonomen Lebenskraft kritisierte, der auch sein Lehrer Müller noch anhing, und zeigte, daß sie im Widerspruch zur nachweislichen Produktion von körpereigener Wärme durch Stoffwechsel und Muskelbewegungen steht.
Um eine akademische Karriere zu erlangen – für Helmholtz die "höchste und theuerste meiner Bestrebungen" –, brauchte er Kontakte zur akademischen Öffentlichkeit, vor allem zu gleichgesinnten jüngeren Kollegen. Gelegenheit dazu ergab sich, als er ab Oktober 1845 fünf Monate in Berlin weilte, um sich auf das Staatsexamen vorzubereiten.
Tatsächlich wurden in dieser kurzen Zeit die entscheidenden Weichen für seine akademische Laufbahn gestellt. Vermutlich auf Vermittlung Müllers konnte Helmholtz im privaten Laboratorium des Physik-Professors Heinrich Gustav Magnus (1802 bis 1870) arbeiten. Dieses vorzüglich ausgestattete Labor war seit einigen Jahren zum Sammelpunkt einer Gruppe von Enthusiasten angewandter Physik geworden. Mitglieder waren vor allem jüngere Wissenschaftler wie die Mediziner Ernst Wilhelm Brücke (1819 bis 1892) und Emil Du Bois-Reymond (1818 bis 1896), daneben auch technisch versierte Militärs wie Werner Siemens (1816 bis 1892), damals Leutnant der Artillerie, aber auch zivile Techniker wie der für die Berliner experimentellen Physiologen wichtige Mechaniker Johann Georg Halske (1814 bis 1890); Siemens und Halske wurden mit ihrer 1847 gemeinsam gegründeten Firma zu Pionieren der deutschen Elektroindustrie.
Im Jahre 1845 gründete man eine "Physikalische Gesellschaft", die eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel "Fortschritte der Physik" herausgab. Darin wurde der Anspruch formuliert, diese Disziplin als Matrix einer auf experimentelle Laborforschung orientierten Naturwissenschaft aufzufassen. Die Physiologie zählte man dazu: In den "Fortschritten" wurde sie als experimentelles Fach und als Zweig der Physik behandelt.
Helmholtz gelang es in der kurzen Zeit in Berlin, das anspruchsvolle Examen zu bestehen und wichtige persönliche und wissenschaftliche Beziehungen zu knüpfen. Er schloß insbesondere Freundschaft mit dem zwei Jahre älteren Du Bois-Reymond, der ihn anfangs wohl etwas unter seine Fittiche nahm. Fortan stand er nicht nur in regelmäßigem Kontakt zur akademischen Öffentlichkeit Berlins, sondern war Juniorpartner einer Gruppe junger experimenteller Physiologen, von Du Bois "Firma der organischen Physik" getauft. Über die neue Bekanntschaft äußerte sich dieser begeistert in einem Brief an den zur "Firma" gehörigen Physiologen Carl Ludwig (1816 bis 1894): "Helmholtz Bekanntschaft ist mir inzwischen geworden und hat mir in der Tat viel Freude gemacht. Dies ist (sauf la modestie) zu Brücke und meiner Wenigkeit der dritte organische Physiker im Bunde. Ein Kerl, der Chemie, Physik, Mathematik mit Löffeln gefressen hat, ganz auf dem Standpunkt der Weltanschauung steht, und reich an Gedanken und neuen Vorstellungsweisen."
Die bleibende Leistung dieser auch als "organische Physiker von 1847" bekanntgewordenen Gruppe liegt in der konsequenten Rückführung aller Lebensvorgänge, insbesondere der Sinnesphysiologie, auf physikochemische Prozesse mittels quantifizierender Verfahren (Bild 5). Du Bois' berühmte Forderung, "dass dereinst die Physiologie... ganz aufgeht in die große Staatseinheit der theoretischen Naturwissenschaften", bezeichnet das Ziel, die Physiologie in Anlehnung an die zeitgenössische Physik neu zu formulieren. Kennzeichnend – vor allem für die Nachwirkung – ist zudem die teilweise scharf antivitalistische (gegen die Vorstellung einer autonomen Lebenskraft gerichtete) Polemik.
Wieder in Potsdam, begann Helmholtz mit der Arbeit an seiner Schrift "Ueber die Erhaltung der Kraft". Im Dezember 1846 schrieb er an den Freund Du Bois-Reymond: "Im nächsten Quartal habe ich Lazarettwache, da werde ich hauptsächlich Konstanz der Kräfte treiben." Mitte Februar 1847 lag eine Rohfassung vor, die er mit Du Bois diskutierte, und im Juli konnte er die fertige Arbeit in der Physikalischen Gesellschaft vorstellen. Noch im gleichen Jahr wurde sie veröffentlicht.
Über die Bedeutung dieser Publikation für sein berufliches Fortkommen war Helmholtz sich vollkommen im klaren. So schrieb er – bezugnehmend auf eine kleinere experimentelle Arbeit, die in den Zusammenhang gehört – am 8. September 1847 an Olga von Velten, mit der er seit März jenen Jahres verlobt war, er habe "noch einige wenige Frösche getödtet, und... die Ausarbeitung der darauf bezüglichen Abhandlung begonnen, um so mit meinen Producten den literarischen Markt zu überschwemmen".
Die "Erhaltung der Kraft", eine Schrift mit unverkennbar philosophischem Einschlag, nimmt sich unter den trocken-wissenschaftlichen Arbeiten der Kollegen ungewöhnlich aus und markiert (um einen Begriff des amerikanischen Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn zu gebrauchen) einen Paradigmenwechsel, das heißt einen Wandel in der naturwissenschaftlichen Methode und Modellbildung. Wo man sich mit quantitativen Aspekten der Energieumwandlungen – im Falle der experimentellen Physiologie mit dem Wärmehaushalt des Organismus – intensiv beschäftigte, mußte man auf die naturgesetzliche Energieerhaltung stoßen; der entsprechende Satz wurde denn auch fast gleichzeitig von mehreren Forschern formuliert (wobei sie noch nicht zwischen den Begriffen Kraft und Energie unterschieden).
Bald bot sich Helmholtz eine Chance, die zunehmende Bekanntheit zu nutzen. Er übernahm, als Brücke 1848 einen Ruf als Professor für Physiologie und allgemeine Pathologie nach Königsberg erhielt, dessen frei werdende Stellen als Lehrer für Anatomie an der Kunstschule der Akademie in Berlin sowie als Assistent an Müllers Anatomischem Museum. Vor allem wurde er zum 30. September 1848 von den letzten drei Jahren seiner militärischen Dienstzeit – mithin von der ungeliebten ärztlichen Praxis – befreit und konnte sich nun ausschließlich der Wissenschaft widmen (Bild 1).
Dennoch war Helmholtz mit seiner Situation in Berlin nicht zufrieden: Zum einen fand er die 600 Taler, die beide Stellen zusammen abwarfen, nicht ausreichend, um seine Braut zu heiraten. Zum anderen entsprach die Position an der Kunstakademie nicht seinen Interessen und seinem beruflichen Ehrgeiz. Entsprechend übte er sie mit geringem Eifer aus. "Mit meinen Künstlern habe ich nicht mehr soviel zu thun, wie früher", schrieb er seinem Bruder, "weil ich sie viel zeichnen lasse nach Präparaten, und mich deshalb schon nach einem kürzeren Vortrage meistens entfernen kann."
Als Brücke Ende 1848 aus Königsberg an die Universität Wien berufen wurde, bekam Helmholtz wiederum die Möglichkeit nachzurücken. Allerdings war zunächst nur klar, daß die Wahl auf einen der drei noch nicht ordinierten "organischen Physiker" zulaufen würde, wobei Brücke für seine Nachfolge zunächst Du Bois und erst in zweiter Linie Ludwig und Helmholtz im Auge hatte. Die Königsberger Medizinische Fakultät erteilte ihrerseits am 1. April 1849 Du Bois-Reymond den Ruf; Helmholtz und Ludwig standen an zweiter und dritter Position. Doch Du Bois hatte wenig Interesse, und Ludwig, der gern nach Königsberg gegangen wäre und nach Alter und Qualifikation ein guter Kandidat war, hatte aus politischen Gründen von vornherein keine Chance: Er hatte sich an der noch nicht einmal gänzlich abgeschlossenen Revolution von 1848/49 aktiv beteiligt und ließ sich darum beim preußischen Kultusministerium nicht durchsetzen. Helmholtz hingegen, dessen Befreiung vom militärärztlichen Dienst erst kurz zurücklag, war gar nicht in der Lage, eine Aufforderung des Ministeriums, nach Königsberg zu gehen, abzulehnen.
So gab die Politik schließlich den Ausschlag; sie sprach allerdings nicht nur gegen Ludwig, sondern auch für Helmholtz. Johannes Schulze, Referent im Kultusministerium, der die Entscheidung des Ministeriums vorbereitete, bescheinigte Helmholtz im Gegensatz zu dem diskreditierten Ludwig ausdrücklich "sittliche Haltung... und vertrauenerweckende Persönlichkeit".
Wie kam man in den Genuß solcher Attribute? Die Beurteilung, die Helmholtz schließlich am 19. Mai den Ruf nach Königsberg einbrachte, verdankte er seinem – gerade im Vergleich zu seinen Kollegen – bemerkenswert unpolitischen Charakter. Einige neuere Autoren haben Helmholtz liberale Überzeugungen attestiert und dabei übersehen, daß seine Fortschrittlichkeit sich auf das rein Wissenschaftliche beschränkte. Für die Revolution von 1848/49, die auch in Potsdam praktisch vor seiner Haustür stattfand und zwischen Ludwig und Du Bois intensiv diskutiert wurde, hat Helmholtz sich nach allem, was wir wissen, nicht interessiert. Wohl zu Recht konstatiert einer der besten Kenner seiner Biographie, Richard Kremer, bei ihm außer einem vage empfundenen Preußentum keinerlei politische Überzeugungen. Dieser Aspekt seiner Persönlichkeit war es wohl, der ihm im Verein mit seinen unzweifelhaften Begabungen die Sympathien der preußischen Staatsregierung unter Friedrich Wilhelm IV. (1795 bis 1861) sicherte.
Königsberg und Bonn
Nachdem Helmholtz sich durch seine theoretische Arbeit zur "Erhaltung der Kraft" in der Wissenschaft einen Namen gemacht hatte, wandte er sich als angehender Professor in Königsberg konkreten Forschungsproblemen der Sinnesphysiologie zu. Diesem Thema blieb er für ein gutes Jahrzehnt treu. Die Arbeiten konzentrierten sich auf Auge und Ohr; daraus erwuchs unter anderem das große, in drei Bänden von 1856 bis 1867 veröffentlichte "Handbuch der physiologischen Optik".
Im Jahre 1851 entwickelte Helmholtz (auf der Grundlage der anatomischen Beschreibung des Augapfels durch seinen Freund Brücke) den Augenspiegel, der die Betrachtung des Augenhintergrunds ermöglicht (Bild 2). Diese Erfindung war typisch für die Arbeit der "organischen Physiker": Ihnen ging es bei der Erklärung physiologischer Phänomene aus physikalisch-chemischen Gesetzen immer auch um die Konstruktion von Apparaten, die dem Nachweis und der Messung dieser Phänomene dienten. So sollte der Augenspiegel ursprünglich in Vorlesungen die Anatomie des Auges und den Gang des Lichtes darin veranschaulichen. Doch zugleich konnten die "organischen Physiker" damit ihre Kompetenz als Experimentalwissenschaftler demonstrieren – sie entwickelten ihre zahlreichen Apparaturen nicht nur für das Labor, sondern begaben sich damit auf ausgedehnte, dem Prestige ihrer Wissenschaft förderliche Vortragsreisen.
Helmholtzs vielleicht originellste Leistung in der Königsberger Zeit war die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit. Im Jahre 1850 kam er durch den Zeitvergleich muskelnaher und -ferner Nervenreizungen an Fröschen auf für die Zeitgenossen verblüffend geringe Werte um 25 Meter pro Sekunde. Dabei setzte er zwei selbst konstruierte Apparaturen ein: ein Gerät zur Aufzeichnung der Muskelkontraktion, das Kymographion (griechisch für Wellenschreiber), und eine nachmals Helmholtz-Pendel genannte Uhr zur Messung kleinster Zeiteinheiten, (Bilder 3 und 4).
Obwohl die außerordentliche Professur in Königsberg Ende 1851 in eine ordentliche und entsprechend besser besoldete umgewandelt wurde, zog es Helmholtz doch von dort weg – nicht zuletzt seiner tuberkulosekranken Frau wegen, deren Gesundheit in dem rauhen Klima Ostpreußens litt. Mit Unterstützung des den "organischen Physikern" stets wohlgesinnten Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) konnte er 1855 auf einen vakanten Lehrstuhl für Physiologie und Anatomie an der Universität Bonn wechseln.
Dies erwies sich allerdings als unglückliche Wahl: Es gab erhebliche Widerstände aus der wissenschaftlich konservativen Medizinischen Fakultät, und Helmholtz mußte das ungeliebte Fach Anatomie unterrichten, für das er weniger qualifiziert war.
Von Bonn nach Heidelberg
In dieser Situation bot die badische Regierung im Mai 1857 dem bereits hochreputierten Forscher einen Lehrstuhl für Physiologie und ein neues Institut an. Zuvor hatte der Heidelberger Chemiker Robert Bunsen (1811 bis 1899) der Karlsruher Administration die Berufung eines physikalisch orientierten Physiologen empfohlen; diese neue Forschungsrichtung werde lediglich von Du Bois-Reymond, Helmholtz, Brücke und Ludwig vertreten. "Von den Genannten" müsse "Helmholtz unzweifelhaft als der genialste, begabteste und vielseitig gebildetste gelten".
Helmholtz lehnte zunächst ab, weil ihm in Bonn der Neubau eines Anatomischen Instituts versprochen worden war; zudem hatte ihm das preußische Kultusministerium in den Bleibeverhandlungen eine Gehaltserhöhung von 1200 auf 1600 Taler zugesagt. Doch der Institutsneubau sollte, so der Universitätssenat, nur "eventuell" durch den "Verkauf mehrerer sonst werthloser Grundstücke" finanziert werden, war also mehr als fraglich; das ließ Helmholtz an der Aufrichtigkeit des Angebots zweifeln. In einer solchen Situation "vertrauensvoll abzuwarten und sich dadurch zugleich dankbar für die vielen Beweise unzweideutiger Anerkennung zu bezeigen" entsprach nicht seiner Ungeduld, wie der preußische Kultusminister Karl Otto von Raumer (1805 bis 1859) seinem König nicht ohne einen Anflug von Larmoyanz am 8. Mai 1858 mitteilen mußte.
Inzwischen hatte Helmholtz nämlich einen neuerlichen Ruf nach Heidelberg angenommen, wobei er dort nicht nur die Beschränkung der Forschungs- und Lehraufgaben auf die Physiologie "verlockend" fand, sondern auch die Besoldung. Die badische Regierung war bereit, außer einem neuen Institut ein Gehalt von 3600 Talern zu bewilligen. Ein solches Angebot war für die Heidelberger Universität sensationell, lagen doch die Jahresgehälter der Ordinarien in der Philosophischen Fakultät damals nur bei etwa 1500 Talern.
Diese Berufung fügte sich gut in die wissenschaftspolitische Landschaft des Großherzogtums Baden. Nach 1850 hatte die Regierung fast alle Ausgaben der Universität für Baumaßnahmen und Infrastruktur dem Ausbau der naturwissenschaftlichen Disziplinen gewidmet. Für deren Emanzipation standen als Programmträger der Chemiker Bunsen, der Physiker Robert Kirchhoff (1824 bis 1887) – und fortan der Physiologe Helmholtz.
Die staatliche Forschungsförderung sollte vor dem Hintergrund der Revolution von 1848 die materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern, um neue politische und soziale Protestbewegungen zu vermeiden. Dies aber bedeutete im industriearmen Baden in erster Linie, die landwirtschaftliche Produktion – im Sinne des Chemikers und Reformers Justus Liebig (1803 bis 1873) – durch Optimierung der naturwissenschaftlichen Ausbildung zu steigern. Davon profitierte die Heidelberger Naturwissenschaftliche Fakultät, deren Umgestaltung Bunsen als Direktor des Chemischen Instituts entworfen hatte.
Zum Wintersemester 1858/59 übersiedelte Helmholtz mit seiner Familie. In seinem ersten Brief an Du Bois-Reymond aus Heidelberg vom 29. Oktober 1858 klingt freilich Furcht vor übermäßigen Lehrverpflichtungen durch: "Bisher läßt sich hier alles gut an. Ich habe natürlich viel Unruhe gehabt mit der Einrichtung des interimistischen Laboratoriums, und das wird auch den Winter so fortgehen, weil ein verhältnismäßig zu großer Zudrang von Laboranten ist, die des Examens wegen den praktischen Kursus durchmachen müssen, und bisher nicht Gelegenheit hatten. Ich fürchte, daß die gesetzliche Bestimmung, welche das physiologische Praktikum zu einem Zwangskolleg für die Badenser macht, eine Übertreibung aufklärerischer Prinzipien ist und für mich sehr lästig werden kann."
Im Wintersemester 1862/63 entstand schließlich das erste naturwissenschaftliche Zentrum der Heidelberger Universität durch Zusammenlegung aller "naturwissenschaftlichen Institute und Sammlungen außer Bunsens Laboratorium in einem Neubau".
Helmholtzs dreizehn Jahre in Heidelberg waren zweifellos mit die produktivsten, aber auch menschlich bewegtesten seines Lebens (Bild 5 ganz rechts). Im Dezember 1859 starb seine erste Frau, die ihn mit zwei kleinen Kindern zurückließ; er heiratete dann 1861 die Professorentochter Anna von Mohl. Von hier aus beobachtete und kommentierte er in seiner Korrespondenz mit Du Bois-Reymond den preußisch-österreichischen Krieg gegen Dänemark (1864), den Krieg zwischen Preußen und Österreich (1866) und schließlich den deutsch-französischen Krieg 1870/71, an dem er selbst als Lazarettdirektor in Heidelberg und als Feldarzt bei der Schlacht von Wörth (6. August 1870) teilnahm.
In dieser Zeit bearbeitete er als medizinischer Grundlagenforscher die großen Felder der optischen und akustischen Physiologie, als theoretischer Physiker vor allem die Hydro- und Elektrodynamik und als Mathematiker die Grundlagen der Geometrie.
In der optischen Physiologie war sein markantester Erfolg, daß er den 3. Teil des "Handbuchs der physiologischen Optik" fertigzustellen vermochte, der vor allem Probleme der Tiefen- und Größenwahrnehmung sowie optische Sinnestäuschungen behandelt. Bereits die Vorarbeiten hatten bald in schwieriges erkenntnistheoretisches Terrain geführt. Die Einsicht, daß sich nicht alle Phänomene der Physiologie direkt kausal erklären lassen, sondern auch psychologische Deutungsansätze erfordern, muß dem Kausalitätsfanatiker Helmholtz ein Graus gewesen sein.
Optische Physiologie und Erkenntnislehre
Schon 1862 hatte er in seiner Heidelberger Akademischen Festrede "Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft" auf die engen Beziehungen zwischen Physik, Physiologie, Psychologie und sogar Ästhetik hinweisen müssen: "Die Physiologie der Sinnesorgane überhaupt tritt in engste Verbindung mit der Psychologie, indem sie in den Sinneswahrnehmungen die Resultate psychischer Processe nachweist, welche nicht in das Bereich des auf sich selbst reflectirenden Bewusstseins fallen und deshalb nothwendig der psychologischen Selbstbeobachtung verborgen bleiben mussten."
In einem Brief an Emil Du Bois-Reymond vom 3. Januar 1865 berichtet Helmholtz erneut über Schwierigkeiten bei der Abfassung des 3. Teils der physiologischen Optik: "Ein heilloses Kapitel, weil man notwendig stark in das Psychologische hineingerät und man gar nicht darauf rechnen kann, durch die bestüberlegten Gedanken die Leute zu überzeugen."
Daran wird deutlich, wie sehr erkenntnistheoretische Überlegungen bereits in den frühen sechziger Jahren seine physiologischen Forschungen begleiteten. Betrachtet man die Vielzahl solcher Äußerungen bis in die neunziger Jahre, so erweist sich Helmholtz als Vertreter eines sensualistisch und zeichentheoretisch geprägten Empirismus. Ausgangspunkt aller Erkenntnis, so heißt es 1891 in seiner Rede zum 70. Geburtstag, ist der "Trieb, die Wirklichkeit durch den Begriff zu beherrschen, oder was, wie ich meine nur ein anderer Ausdruck derselben Sache ist, den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen zu entdecken".
Schon neun Jahre zuvor hatte er in der erwähnten Festrede über den Prozeß der Begriffsbildung nachgedacht. Diese vollziehe sich wesentlich dadurch, daß wir "die Thatsachen der Erfahrung denkend zusammenfassen und Begriffe bilden, seien es nun Gattungsbegriffe oder Gesetze"; auf diese Weise bringe man das gewonnene "Wissen nicht nur in eine Form, in der es leichter zu handhaben und aufzubewahren" ist, sondern man erweitere es gleichzeitig, weil "die gefundenen Regeln und Gesetze auch auf alle ähnlichen künftig noch aufzufindenden Fälle auszudehnen" seien. Die naturwissenschaftliche Erfahrungsbildung geht für Helmholtz somit von den "Sinnesempfindungen" aus, die als Nervenimpulse zum Gehirn wandern, um dort schließlich "wahrgenommen" und als "Nachricht für das Bewusstsein" interpretiert zu werden.
Offensichtlich akzeptierte er die den Nachrichten zugrunde liegenden Sinnesempfindungen lediglich als "Zeichen für die Beschaffenheit der Aussenwelt, deren Deutung durch die Erfahrung gelernt werden muss", wie er unter anderem 1878 in seiner erkenntnistheoretischen Arbeit "Über die Thatsachen der Wahrnehmung" betonte. Erst an diesen sensualistischen Vorprozeß der Erkenntnis schließt sich die integrierende Denkleistung quasi als Rekonstruktion der Wirklichkeit aus ihren Zeichen an.
Hörsinn und Musikästhetik
Ein enormer Fortschritt gelang Helmholtz auch auf dem Gebiet der akustischen Physiologie. Im Spätsommer des Jahres 1862 erschien "Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik", an der er sieben Jahre gearbeitet hatte. Das Werk faßte seine nerven- und akustophysiologischen Untersuchungen seit 1850 souverän zusammen. Den Ausgangspunkt lieferten die Königsberger Untersuchungen über die Nervenleitgeschwindigkeit. Du Bois-Reymonds Hypothese von der molekularen Fortleitung des elektrischen Nervenimpulses schien bestätigt und damit der endgültige Sieg des Mechanismus über den Vitalismus errungen.
Anschließend wandte der physikalische Physiologe sich der Akustik zu und konnte bald mathematisch belegen, daß der "musikalische Teil des Klanges auf der Existenz der Obertöne" und ihrer sensorischen Wahrnehmbarkeit beruhen muß. Damit war das bis dahin akzeptierte akustische Gesetz des Physikers Georg Simon Ohm (1787 bis 1854) widerlegt, wonach das akustische Sensorium nur einfache harmonische Schwingungen zu rezipieren vermöge (Bild 6).
Schließlich gelang es Helmholtz, aufgrund eigener und fremder anatomischer Untersuchungen den eigentlichen Resonanzkörper der akustischen Perzeption zu erforschen und eine Resonanztheorie des Hörens zu entwickeln, die bis zur Jahrhundertwende fast unverändert galt. So flossen auch hier multidisziplinäre Befunde und Erkenntnisse – solche der Physiologie der elektrischen Nervenerregungsleitung und der wellentheoretischen Resonanzphysik sowie die resonanzphysikalische Deutung der Innenohr-Anatomie, zudem ästhetische Erklärungsmomente – zusammen.
Von der Physiologie zur Physik
In der reinen Physik hat Helmholtz sich in Heidelberg vor allem um die Klärung hydro- und elektrodynamischer Fragen bemüht, ausgehend von der 1858 publizierten Arbeit "Ueber Integrale der hydrodynamischen Gleichungen, welche den Wirbelbewegungen entsprechen". Besonders interessierten ihn Reibungsphänomene in Flüssigkeiten; dieses Thema wurde auch in den Mitteilungen vor dem Naturhistorisch-Medizinischen Verein, dem er seit seiner Ankunft in Heidelberg vorstand, wiederholt angeschnitten.
Bereits am 3. März 1859 trug Helmholtz dort Meßergebnisse zum Reibungsverhalten unterschiedlicher Flüssigkeiten vor; entsprechende Versuche hatte er zusammen mit dem Krakauer Physiologen Gustav von Piotrowski (1833 bis 1884) durchgeführt. In seiner am 8. Mai 1868 referierten Arbeit "Ueber discontinuierliche Flüssigkeits-Bewegungen" zeigt sich deutlich, daß auch in diesem Forschungsfeld die Unzufriedenheit mit der "sehr unvollkommenen Annäherung" des Naturforschers "an die Wirklichkeit" den erkenntnistheoretischen Anstoß gab. Helmholtz war erstaunt, daß seine hydrodynamischen Gleichungen unter bestimmten Voraussetzungen "genau dieselbe partielle Differentialgleichung" ergaben, "welche für stationäre Ströme von Elektricität oder Wärme in Leitern von gleichmäßigen Leitungsvermögen besteht". Tatsächlich zeigten sich aber doch "in vielen Fällen leicht erkennbare und sehr eingreifende Unterschiede" zur Strömungsform tropfbarer Flüssigkeiten.
Im dritten Heidelberger Beitrag zur Hydrodynamik bewies Helmholtz am 30. Oktober 1868 zwei Theorien über stationäre "Ströme in reibenden Flüssigkeiten", denen Versuche zugrunde lagen, die Alexis Schklarewsky in seinem Laboratorium durchgeführt hatte. Ausgangspunkt war die Beobachtung, daß eine kleine Kugel mit nur wenig höherem spezifischem Gewicht als Wasser in einer wassergefüllten Glasröhre immer in der Mitte absinkt, ohne die Röhrenwand zu berühren. Mit den daraus abgeleiteten und mathematisch bewiesenen Sätzen knüpfte Helmholtz an seinen Satz "Ueber die Erhaltung der Kraft" von 1847 an und integrierte die Energieerhaltung mit der Hydrodynamik.
Von seinen physiologischen Forschungen mit ihren schwierigen erkenntnisphilosophischen Problemen hatte er sich zu diesem Zeitpunkt schon weit entfernt. Am 28. März 1869 schrieb er an Carl Ludwig: "Ich bin im Augenblick wieder bei elektrischen Studien über den zeitlichen Verlauf und die Ausbreitung von Entladungen, wozu mich physiologische Versuche und Fragen anregten. Die physiologische Optik und Psychologie habe ich absichtlich jetzt eine Weile liegen lassen. Ich fand, dass das viele Philosophiren zuletzt eine gewisse Demoralisation herbeiführt und die Gedanken lax und vage macht, ich will sie erst wieder eine Weile durch das Experiment und durch Mathematik discipliniren und dann wohl später wieder an die Theorie der Wahrnehmung gehen. Es ist auch gut, inzwischen zu hören, was die Anderen dazu sagen, was sie einzuwenden haben, was sie missverstehen u.s.w., und ob sie sich überhaupt für diese Fragen schon interessieren."
In der Elektrophysik nötigte – nach einer kleineren Arbeit über "elektrische Verteilung" (1861) – die Veröffentlichung des ersten Teils der "Theorie der Elektrodynamik" (Vortrag vom 21. Januar 1870) der Fachwelt Staunen und Bewunderung ab und signalisierte für die siebziger Jahre einen neuen physikalischen Forschungsschwerpunkt. Die Hinwendung zur Physik verstärkte sich noch, als im Oktober 1868 eine Berufung auf den Physikalischen Lehrstuhl in Bonn in greifbare Nähe rückte; sie scheiterte an Besoldungsfragen.
Knapp ein Jahr darauf ging es in Berlin um die Nachfolge des Ordinarius für Physik, Heinrich Gustav Magnus, für die Du Bois-Reymond seinen Heidelberger Freund sofort vehement protegierte. Am 7. April 1870 antwortete ihm Helmholtz auf die "Nachricht vom Tode des armen Magnus": "Es ist sehr freundlich von Dir, daß Du bei dieser Gelegenheit zuerst an mich denkst, und ich muß sagen, daß seit der Bonner Berufung, wo ich mich während der langen Zeit des Wartens wieder in physikalische und mathematische Studien gestürzt hatte, es mir noch klarer geworden ist..., daß ich gegen die Physiologie gleichgültig geworden bin und nur noch eigentliches Interesse für die mathematische Physik habe. Kann ich also in einer oder der anderen Weise ganz zur Physik übergehen, so soll es mir erwünscht sein."
Worauf war diese Neuorientierung zurückzuführen? Das gängige Argument lautet, das Gebiet der Physiologie sei nach 1860 bereits so groß geworden, daß ein einzelner Wissenschaftler sich darin unmöglich mehr zurechtfinden konnte; außerdem sei die naturwissenschaftliche Physiologie in Deutschland in voller Blüte gestanden, die Physik indessen in Stagnation verfallen, weil es ihr an jungen Nachwuchskräften gemangelt habe.
Diese Erklärung scheint plausibel und wurde durch Helmholtz selbst genährt; gleichwohl liegen die Dinge komplizierter und tangieren die individuelle Forscherpsychologie. Spätestens 1867/68 hatte das stärkste Forschungsmotiv des Kantianers Helmholtz – der Nachweis uneingeschränkter Kausalität in der Natur – den Physiologen nach dessen eigener Auffassung ans Ziel geführt: Die Widerlegung des Vitalismus schien gelungen. In der Physik sah Helmholtz größere Herausforderungen. Ihm war die nur "sehr unvollkommene Annäherung" des Naturforschers "an die Wirklichkeit" bewußt. Das Grundbestreben des physikalischen Erkenntnisprozesses mußte mithin sein, Theorie und Empirie allmählich übereinzubringen.
Wieder nach Berlin
Der Weg von der Physiologie zur Physik, den Helmholtz in den sechziger Jahren eingeschlagen hatte, wird auch an den Vorträgen im Naturhistorisch-Medizinischen Verein deutlich. Zwischen seinem ersten Referat "Über das Wesen der Irradiation" am 14. Dezember 1858 und dem letzten vom 21. Januar 1870 "Ueber die Gesetze der inconstanten elektrischen Ströme in körperlich ausgedehnten Leitern" hat Helmholtz diesem Gremium 30 zumeist aktuelle und vorher unpublizierte Forschungsergebnisse mitgeteilt; zehn widmeten sich physikalischen, chemischen und mathematischen Themen, und zwar gehäuft in den letzten Jahren vor dem Weggang nach Berlin. Helmholtz hatte seit seiner Ankunft in Heidelberg dem Naturhistorisch-Medizinischen Verein vorgestanden; um so schmerzlicher empfand man dort seine Wegberufung nach Berlin.
Mit einem allgemeinverständlichen Vortrag "Ueber die Entstehung des Planetensystems" verabschiedete Helmholtz sich auf lorbeergeschmückter Bühne von der "gebildeten Bevölkerung Heidelbergs"; 25 Vereinsmitglieder überreichten "einen prachtvollen silbernen Tafelaufsatz und eine silberne Schale, getragen von einem schlanken Genius von mattem Silber". Die offizielle Verabschiedung erfolgte am 5. März bei einem Festbankett in der Harmonie.
"Allen Theilnehmern", so schilderte es Leo Koenigsberger 1903, "werden die Worte, welche er und andere dort gesprochen, unvergesslich bleiben – aber alle beherrschte auch das Gefühl, dass der grösste Denker und Forscher Deutschlands dorthin gehöre, wo dem Gründer des Deutschen Reiches der gewaltigste Staatsmann und der genialste Feldherr zur Seite standen."
Der neue Ordinarius für Physik in einer Reihe mit Kaiser Wilhelm I. (1797 bis 1888), der am 13. Februar 1871 noch in Versailles seine Bestallung an der Berliner Universität unterzeichnete, sowie mit dem Kanzler Otto von Bismarck (1815 bis 1898) und dem Generalstabschef Helmuth von Moltke (1800 bis 1891) – dieses Bild nahm bereits die später bis ins Groteske überhöhte Helmholtz-Historiographie des Kaiserreichs vorweg.
Als Helmholtz seine Lehr- und Forschungstätigkeit in der Hauptstadt aufnahm, lagen die großen wissenschaftlichen Erfolge allerdings bereits hinter ihm. Nun häuften sich Ehrungen, und das Jahr 1883 brachte schließlich die Erhebung in den Adelsstand.
Zu den herausragenden Leistungen der Berliner Zeit gehören die drei großen Abhandlungen über die "Thermodynamik chemischer Vorgänge" (1882/83); darin wandte Helmholtz die Hauptsätze der Thermodynamik auf den Galvanismus an und berechnete die elektromotorische Kraft von elektrochemischen Elementen und von galvanischen Strömen durch Konzentrationsdifferenzen. Nicht zuletzt mit diesen Beiträgen wurde die Erforschung der Elektrodynamik im Kaiserreich hoffähig.
Auch die erkenntnis- und physikalisch-theoretischen Arbeiten dieser Jahre demonstrieren Helmholtzs systematisches und integratives Denken – etwa zum "Prinzip der kleinsten Wirkung" in der Mechanik (1886) und Elektrodynamik (1892) sowie über "Das Denken in der Medicin" (1877), über "Induction und Deduction" (1877) und über "Die Thatsachen in der Wahrnehmung" (1878).
Waren in der Heidelberger Zeit besonders die Physiologen Wilhelm Wundt (1832 bis 1920) und Julius Bernstein (1839 bis 1917) bedeutende Schüler, so ragt in der Berliner Zeit der Physiker Heinrich Hertz (1857 bis 1894) heraus, der von 1879 bis 1883 mit Helmholtz zusammengearbeitet hat (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 88).
Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt
In einem Alter, in dem die meisten Berufstätigen sich ins Privatleben zurückziehen und Akademiker mehr oder minder zufrieden auf ihr Lebenswerk zurückblicken, übernahm der 66jährige noch eine Aufgabe, die ihn in seinen letzten Lebensjahren okkupierte: Von 1887 bis zu seinem Tode leitete er die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Berlin. Bereits zu deren Entstehen hatte er neben Werner Siemens wesentlich beigetragen; in seiner siebenjährigen Präsidentschaft prägte er ihre Struktur und bestimmte ihre Arbeitsfelder.
Schon in einer Denkschrift des Jahres 1872 war die Gründung einer Institution angeregt worden, die zunächst den Stand der Präzisionsmechanik in Preußen verbessern sollte. Zu den Unterzeichnern gehörten außer Wilhelm Foerster, dem Direktor der Kaiserlichen Normal-Eichungs-Kommission, und Karl-Heinrich Schellbach, Physik- und Mathematiklehrer des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, auch Du Bois-Reymond und Helmholtz. Die Entwicklung kam aber erst 1874 durch weitere Denkschriften in Gang, die von einer Kommission unter dem Vorsitz des Direktors der Preußischen Landestriangulation, Otto von Morozowicz, und unter maßgeblicher Beteiligung von Helmholtz und Siemens verfaßt wurden.
Da die Elektrotechnik sich international rasch entwickelte und dringend der Normierung durch ein allgemein akzeptiertes Maßsystem bedurfte, wurde spätestens in den frühen achtziger Jahren eine Erweiterung des ursprünglichen Arbeitskonzepts nötig. Dafür setzte Helmholtz seine ganze Autorität ein; er arbeitete schließlich seit Jahrzehnten auf dem Forschungsfeld der Elektrodynamik, hatte früh die Maxwellsche Theorie verbreitet und als Mitglied des Elektrotechnischen Vereins (1879) und vieler Gutachtergremien auch die Elektrotechnik gefördert. Auf dem Internationalen Elektrikerkongreß von 1881 forderte er Konsequenzen aus der neuen Situation: "Die Elektrotechnik hat sich allmählich so weit entwickelt, daß sie jetzt ungeheure Kapitalien in Anspruch nimmt und eine außerordentlich rege Industrie repräsentiert. Unter diesen Umständen kann es nicht fehlen, daß Streitfragen, welche dieselbe betreffen, vor die Gerichte kommen und sich die Notwendigkeit fühlbar macht, streitige Fragen gesetzlich zu ordnen, namentlich Maßeinheiten festzustellen, auf welche man bei solchen Entscheidungen zurückgreifen kann."
Tatsächlich trug die elektrotechnische Revolution der siebziger und achtziger Jahre, in der wissenschaftliche, industrielle und politische Interessen kulminierten, entscheidend zur Erweiterung des Reichsanstalts-Projekts bei. Der Abschlußbericht einer Ende 1882 vom preußischen Kultusminister Gustav von Gossler und dem Generalstabschef von Moltke zusammengerufenen Kommission zur Vorbereitung eines "physikalisch-mechanischen Instituts" zeigt deutlich die Handschrift der Mitglieder Helmholtz, Foerster und Siemens.
Entworfen war nun – wie es im Titel der Denkschrift hieß – ein "Institut für die experimentelle Förderung der exakten Naturforschung und Präzisionstechnik". Dennoch vergingen noch fast fünf Jahre, bis der Reichstag am 28. März 1887 schließlich die Mittel für eine Physikalisch-Technische Reichsanstalt bewilligte. Als ihr erster Präsident erhielt Helmholtz auf eigenen Vorschlag und nach erheblichen Widerständen jährlich 24000 Mark zuzüglich seines Salärs aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften von 6900 Mark.
So exorbitant wie die Besoldung war freilich auch die Arbeitsbelastung für den Leiter der großangelegten Institution, der gleichzeitig Direktor der Physikalischen Abteilung war. Zu den Aufgaben der Laboratorien für Elektrizitäts-, Wärme- und optische Forschung gehörten physikalische Untersuchungen und Messungen jeder Art, Materialprüfungen, die Entwicklung von Meßmethoden und -apparaten sowie die enge Kooperation mit der technischen Abteilung der Reichsanstalt.
Helmholtz konnte die Fertigstellung des von ihm bis in kleinste Details mitgeplanten Bauwerks im Jahre 1896 nicht mehr miterleben. Konkurrenzgründungen wie das National Physical Laboratory in England (1900) oder das National Bureau of Standards in den USA (1901) belegen die internationale Ausstrahlung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, die nun als Physikalisch-Technische Bundesanstalt mit Sitz in Braunschweig fortbesteht.
Doch die letzten Lebensjahre des großen Physiologen und Physikers waren nicht nur durch diesen bleibenden Erfolg bestimmt, sondern auch durch eine "tief und schmerzlich" empfundene "Vereinsamung auf vielen Gebieten", geistigen wie privaten (Bild 7). Der Tod des Sohnes Robert (1889), des Freundes Werner von Siemens (1892), des geschätzten Schülers Heinrich Hertz und des verehrten Kollegen August Kundt (beide 1894) deprimierten ihn tief. Von den Folgen eines Sturzes und zweier Schlaganfälle konnte sich Helmholtz nicht mehr erholen. Er starb am 8. September 1894.
Literaturhinweise
- Hermann von Helmholtz. Von Leo Koenigsberger. 3 Bände, Braunschweig 1902/3.
– Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science. Herausgegeben von David Cahan. University of California Press, Berkeley 1993.
– Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil Du Bois-Reymond. Herausgegeben von Christa Kirsten. Berlin 1986.
– Letters of Hermann von Helmholtz to his Parents 1837-1846. Herausgegeben von David Cahan. Stuttgart 1993.
– Letters of Hermann von Helmholtz to his Wife 1847-1859. Herausgegeben von Richard L. Kremer. Stuttgart 1990.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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