Gravitationstheorie: Mit Quantenbits zur Raumzeit
In der klassischen Physik war der Raum lange bloß eine Art Bühne, auf der Materie, Felder und Kräfte wirken. Er selbst bestand aus nichts und trug nichts zu diesem Spiel bei. Albert Einstein veränderte den Gedanken und verband Raum und Zeit zu einem untrennbaren Gebilde, der Raumzeit, die sich abhängig von den darin vorhandenen Objekten verformt und ihrerseits die Bahnen von Objekten beeinflusst. Theoretiker können ihre Geometrie und somit die Gravitation mit den Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie beschreiben, aber sie stellen sich neue Fragen: Ist die Raumzeit mitsamt ihren Krümmungen fundamental, oder besteht sie selbst aus etwas anderem? Inzwischen glauben einige Physiker an einen neuen Weg zu einer Antwort. Ihre Vermutung: Alles lässt sich auf die Wechselwirkungen kleinster Stücke von Information zurückführen.
Unter den Anhängern dieses Ansatzes herrscht Aufbruchsstimmung. Hunderte von ihnen arbeiten im Rahmen eines 2015 gegründeten internationalen Gemeinschaftsprojekts zusammen, um mit ihren Ideen eine neue Fachdisziplin ins Leben zu rufen. Das Vorhaben heißt "It from Qubit" (IfQ). Die Physiker wollen "es" – gemeint ist die Raumzeit – aus Qubits ableiten. Das ist die Kurzform für Quantenbits, ein Begriff aus der Quanteninformatik. Analog zu den elektronischen Bits bei herkömmlichen Computern sind Qubits ein Maß für quantenphysikalisch gespeicherte Information. Die Idee hinter IfQ ist die Vorstellung, kosmische Vorgänge könnten mit einer Art Kode programmiert sein. Wenn es gelänge, diesen zu knacken, würde sich die quantenphysikalische Natur der Gravitation offenbaren. Im Juli 2016 fand ein Treffen am Perimeter Institute im kanadischen Ontario statt, bei dem die IfQ-Veranstalter etwa 90 Anmeldungen erwartet hatten. Es wurden mehr als 200, und das Team organisierte schließlich Parallelveranstaltungen an weiteren Universitäten, um alle Interessenten zusammenzubringen.
Das Projekt spricht Wissenschaftler aus den verschiedensten Fachgebieten an, einerseits beispielsweise Entwickler von Quantencomputern, andererseits solche, die sich mit der Relativitätstheorie beschäftigen. Forscher, die von sich aus kaum darauf kämen, miteinander zu arbeiten, suchen hier gezielt nach einem gemeinsamen Nenner. Die Simons Foundation in New York, eine private Fördereinrichtung des US-amerikanischen Mathematikers und Multimilliardärs James Simons, gründete IfQ im August 2015 und stattete das Projekt mit insgesamt rund zehn Millionen Dollar über eine Laufzeit von mindestens vier Jahren aus, um die regelmäßigen Treffen sowie die Arbeit der koordinierenden Wissenschaftler zu finanzieren. Seither gewinnt IfQ stetig an Aufmerksamkeit in der Forschergemeinde und vernetzt sich dort immer besser. "Wir sind auf eine intensive Zusammenarbeit angewiesen", erläutert der Physiker Beni Yoshida, der am Perimeter Institute und für das IfQ arbeitet. "Das Vorhaben beschäftigt sich mit extrem wichtigen, aber höchst komplizierten Fragen. Eine einzelne Person könnte das nicht bewältigen." Auch Experten ohne Verbindung zu IfQ äußern sich hoffnungsvoll. So meint der Stringtheoretiker Brian Greene: "Wenn die Arbeit in dem Bereich so erfolgreich vorangeht, wie einige erwarten, könnte Quanteninformation die nächste Revolution in unserem Verständnis von Raum und Zeit auslösen. Das ist äußerst aufregend."
Der Gedanke, Raumzeit könnte aus etwas bestehen, erweitert das Bild der allgemeinen Relativitätstheorie. Dort ist die Geometrie eine fundamentale Eigenschaft. Wenn sie nun durch etwas anderes hervorgerufen wird, nämlich die Qubits, verschiebt sich die Fragestellung: Was sind diese Bits, und welche Art Information tragen sie genau? Die Physiker wissen es nicht. Erstaunlicherweise scheint sie das nicht sonderlich zu stören. Brian Swingle vom Stanford Institute for Theoretical Physics und ebenfalls Teil des IfQ-Teams erläutert: "Die Beziehungen zählen. Es geht weniger um die Eigenschaften der Einzelteile als vielmehr darum, wie diese sich organisieren."
Verschränkung als Baumeister der Raumzeit
Der Schlüssel zu einer solchen Organisation ist das Quantenphänomen der Verschränkung, bei dem zwei Teilchen miteinander verknüpft sind, sogar noch über große Distanzen. Jedes von ihnen kann verschiedene Zustände annehmen; aber bestimmt man mit einer Messung den Wert von einem der beiden Objekte, ist damit augenblicklich auch der des anderen klar. Einer der leitenden Wissenschaftler des Projekts, Vijay Balasubramanian von der University of Pennsylvania, erläutert den darauf basierenden Ansatz: "Wie auch immer die kleinsten Bausteine aussehen, erst die Verschränkungen zwischen ihnen spannen gewissermaßen das Tuch der Raumzeit auf. Das ist eine relativ neue und absolut faszinierende Vorstellung."
Die Idee geht auf diverse Entdeckungen zurück, die theoretische Physiker im Lauf des letzten Jahrzehnts gemacht haben. In einer viel beachteten Arbeit bemerkten Juan Maldacena und Leonard Susskind 2013, dass zwei verschränkte Schwarze Löcher ein Wurmloch verursachen können, eine Art Abkürzung durch Raum und Zeit. Wegen solcher Befunde untersuchen immer mehr Physiker Phänomene aus Quantenmechanik und Relativitätstheorie gezielt auf mögliche fundamentale Gemeinsamkeiten.
Um zu verstehen, wie Verschränkung Strukturen in der Raumzeit erzeugen könnte, müssen sie zunächst die Natur dieser seltsamen Korrelation begreifen. Dazu befassen sie sich neuerdings auch mit ungewohnten Umständen. Üblicherweise denken Physiker bei Verschränkung an eine quantenmechanische Messgröße, etwa den so genannten Spin, sowie einen gemeinsamen Zustand zweier Teilchen, die weit voneinander entfernt sind und bei denen man den Wert schließlich bestimmt. Aber "diese konventionelle Sichtweise ist nicht genug", wie Balasubramanian sagt: "Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass es noch andere Formen der Verschränkung gibt, die von entscheidender Bedeutung für unser Projekt sein könnten." So lässt sich beispielsweise ein Teilchen an einem Ort mit einem ganz anderen Typ Teilchen an derselben Stelle korrelieren – eine Verschränkung also, die sich nur auf einem Punkt abspielt. Darüber hinaus beschäftigen sich Theoretiker zunehmend damit, wie sich die höchst komplizierten Verhältnisse rechnerisch beherrschen lassen, die auftreten, sobald man eine große Zahl von Objekten verschränkt statt nur zwei oder relativ wenige.
Die Physiker glauben, bei der Raumzeit handle es sich um ein so genanntes emergentes Phänomen. Emergent bezeichnet Eigenschaften eines Systems, die erst aus einem komplexen Zusammenspiel auf kleineren Skalen hervorgehen. Beispielsweise erzeugen in einem Gas die Wechselwirkungen zwischen unzähligen einzelnen Atomen und Molekülen auf makroskopischer Ebene dessen Temperatur oder Druck. Die IfQ-Wissenschaftler wollen analog die Gravitation aus einer Quantenperspektive beschreiben. Theoretiker suchen seit einem Jahrhundert nach einer solchen Quantengravitation; bereits Einstein hat bis zu seinem Tod erfolglos daran gearbeitet. Die Forscher von It from Qubit indes setzen auf einen Trick, um ihre Arbeit zu vereinfachen: das holografische Prinzip.
Einige physikalische Phänomene lassen sich viel einfacher beschreiben, indem man sie auf eine geringere Zahl von Dimensionen reduziert. Es ist etwa möglich, die dreidimensionale Information für ein räumlich wirkendes Hologramm in der Struktur einer zweidimensionalen Oberfläche zu kodieren. Da es so schwerfällt, eine Quantengravitation für unser Universum zu entwickeln, gelingt es vielleicht eher, eine Theorie zu formulieren, die mit weniger Dimensionen auskommt und anschließend wieder in unsere gewohnte Raumzeitgeometrie übersetzbar ist.
Eines der aufsehenerregendsten holografischen Prinzipien ist die AdS-CFT-Dualität. Dabei steht AdS für ein spezielles Modelluniversum, den so genannten Anti-de-Sitter-Raum, und CFT ist die Abkürzung für konforme Feldtheorie (conformal field theory), wobei sich das Attribut konform auf bestimmte Symmetrieeigenschaften bezieht. Die AdS-CFT-Dualität wird nach ihrem Entdecker auch Maldacena-Dualität genannt. Juan Maldacena hat 1997 bei Arbeiten über die Stringtheorie erkannt, dass sich ein Anti-de-Sitter-Raum, in dem Gravitation herrscht, vollständig durch eine konforme Feldtheorie beschreiben lässt, die sich auf dessen Hülle abspielt und in der es keine Gravitation gibt.
Mit diesem Werkzeug könnten die Physiker eine Theorie entwickeln, die zu einer Quantengravitation äquivalent ist, dabei aber die Schwerkraft ausspart und somit einfacher zu handhaben ist. Vielleicht ist das, was wir als Gravitation wahrnehmen, in der neuen Perspektive in Form von Verschränkung auf einer Hülle aus Qubits kodiert.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Theoretiker zahlreiche Feinheiten und Konsequenzen der AdS-CFT-Dualität ausgearbeitet. Heute ist klar: Sie funktioniert. Eine Theorie kann die Vorgänge in einem höherdimensionalen Raum beschreiben. Die Physiker verstehen aber noch nicht wirklich, warum das so ist. Brian Swingle hofft, das mit IfQ zu ändern: "Eines der sehr wahrscheinlichen Ergebnisse unseres Projekts ist mindestens ein gehöriger Fortschritt oder sogar eine eindeutige Antwort auf die Frage, wie solche Dualitäten entstehen."
Hier kommt die Quanteninformatik ins Spiel. Um in der Praxis mit verschränkten Zuständen zu kommunizieren und zu rechnen, brauchen die Wissenschaftler spezielle Fehlerkorrekturverfahren. Denn Verschränkung in der realen Welt ist zerbrechlich. In jedem Quantencomputer gibt es ein Hintergrundrauschen aus Teilchen, die mit den Qubits wechselwirken und diese vorzeitig in gewöhnliche Zustände mit eindeutigen Werten verwandeln, womit sie für Berechnungen verloren gehen. Darum verteilen Quantenalgorithmen eine bestimmte Information auf verschränkte Systeme vieler Qubits. Dann können einzelne Fehler erkannt und ausgeglichen werden.
Faszinierenderweise taucht die Mathematik, die für eine derartige Quantenfehlerkorrektur nötig ist, auch bei der AdS-CFT-Dualität auf. Das Innere eines Schwarzen Lochs lässt sich durch ein Netzwerk von Verschränkungen auf dessen Oberfläche beschreiben, das zugleich ein Korrekturkode ist. Die israelische Physikerin Dorit Aharonov von der Hebräischen Universität Jerusalem, eine Expertin für Quantenalgorithmen und eine der leitenden Wissenschaftlerinnen bei IfQ, wundert sich über den Zusammenhang: "Warum bloß findet man Quantenfehlerkorrekturen bei Schwarzen Löchern? Die Erkenntnis kam vollkommen unerwartet."
Gehversuche in einem Spielzeuguniversum
Es gibt allerdings noch einen Haken, selbst wenn es gelingen sollte, die Mechanismen der AdS-CFT-Dualität zu ergründen und eine niedrigdimensionale Theorie zu formulieren, die zu einer Quantengravitation äquivalent ist: Die Dualität an sich funktioniert nur in einem Modelluniversum. Diesem fehlen einige Eigenschaften unseres Kosmos, insbesondere funktioniert die Schwerkraft anders. "Das All steckt sozusagen in einer Flasche", illustriert Swingle das Problem. "Schickt man einen Lichtstrahl hindurch, prallt er von den Wänden ab. In unserem expandierenden Universum würde das nicht passieren." Für Swingle ist das Modell dennoch ein nützlicher Rahmen für Theoretiker, um erste Ideen auszuprobieren. "Vermutlich brauchen wir solche Zwischenschritte, bevor wir uns an eine realistischere Quantengravitation wagen können."
Doch wenn IfQ auf so unsicheren Fundamenten steht, so wenden einige Kritiker ein, wie kann man dann überhaupt erwarten, am Ende etwas Brauchbares zu erhalten? Die Physiker hoffen, einer ersten einfachen Theorie schrittweise die nötige Komplexität hinzufügen zu können, bis sie die Wirklichkeit beschreibt. Selbst wenn das nicht gelingt, glauben viele Experten – auch solche außerhalb des Projekts –, dass sich bereits der Versuch lohnt. Raphael Bousso von der University of California in Berkeley hat intensiv am holografischen Prinzip und der Verbindung von Quanteninformation und Gravitation gearbeitet. "Ich finde es fantastisch, wie sich nun zahlreiche hochkarätige Wissenschaftler auf Fragen stürzen, die mich schon seit Jahren beschäftigen. Wir sollten gemeinsam sehen, wohin uns das führt", kommentiert er. Die Stringtheoretikerin Eva Silverstein von der Stanford University hingegen hat Bedenken, das Projekt würde die Sichtweise der Beteiligten einschränken: "Fraglos spielt Information eine Rolle. Aber um eine Quantengravitation zu entwickeln, sind mehrere Aspekte wichtig. Wenn man zu viel Energie auf einen einzelnen davon konzentriert, kommt das Forschungsfeld insgesamt nicht so gut voran."
Falls das Projekt nicht der erhoffte große Wurf ist, bringt es wohl zumindest Fortschritte in den Einzelbereichen. Die Experten aus der Stringtheorie und der allgemeinen Relativitätstheorie etwa geben den Entwicklern von Quantencomputern neue Impulse, wie sich die verschiedenen Typen von Verschränkung interpretieren lassen. Umgekehrt hilft die Quanteninformatik dabei, Effekte der Raumzeit besser zu verstehen. "Wenn man mit Werkzeugen aus einem Bereich an einen anderen herangeht, führt das oft zu neuen Erkenntnissen. Es gibt bereits erste Fortschritte bei Problemen, die seit vielen Jahren ungelöst sind", kommentiert Aharonov. Beispielsweise sieht es so aus, als könnte sich die Zeit in Wurmlöchern messen lassen, indem man diese als eine Art Qubit-Schaltkreis begreift.
Methoden aus der Quanteninformatik können auch bei der Entscheidung helfen, ob eine Theorie – sofern sie denn aufgestellt wird – das richtige Maß an Komplexität aufweist, ob sie gewissermaßen zu unserer Welt passt. Wie ein Computer gibt jede Theorie Werte für einen messbaren Zustand in der Zukunft aus, wenn man sie mit Daten eines Anfangszustands füttert. Ähnlich wie einige Computer leistungsfähiger sind als andere, kann man mit den Mitteln der Quanteninformatik nach der Rechenleistung einer Quantengravitation fragen. "Diese kann zu groß sein", erläutert Aharonov. "Dann würde das Modell Dinge voraussagen, von denen wir nicht glauben, dass sie in der realen Welt existieren. Das würde die Theorie selbst in Frage stellen. Damit hätten wir ein unabhängiges Instrument, um ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen."
Das Projekt It from Qubit erinnert viele Physiker an euphorische Phasen in der Vergangenheit, als andere radikale Ideen Fahrt aufgenommen, neue Forschungszweige begründet und Studierende nachhaltig inspiriert haben. Der Stringtheoretiker Hiroshi Ōguri vom California Institute of Technology in Pasadena vergleicht es mit Ereignissen aus seiner Studienzeit: "1984 begann die so genannte erste Superstring-Revolution. Damals wurde die Stringtheorie innerhalb kurzer Zeit zu einem heiß diskutierten Kandidaten für die Vereinigung aller Naturkräfte. Einen ähnlichen Enthusiasmus bemerke ich heute wieder. Es zeichnen sich spannende Zeiten ab – für Veteranen wie uns ebenso wie für die jungen Forscher, die zum ersten Mal mit den neuen Gedanken in Kontakt kommen."
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