Serie Teilchenphysik: Die wahre Größe des Protons
Es ist eines der gewöhnlichsten Teilchen im Universum. In jedem Atomkern sitzt mindestens eines davon. Doch vor einigen Jahren haben Forscher herausgefunden, dass es ausgesprochen ungewöhnliche Dinge tut: das Proton. Es besitzt verschiedene Durchmesser – je nachdem, mit welcher Methode man diesen misst. Bislang rätseln Forscher, woran das liegen könnte. Noch zeichnet sich nicht ab, wo die Lösung dieses »Proton-Radius-Puzzles« liegen könnte. Vielleicht haben sich einfach nur unerwartete systematische Fehler in die Messungen eingeschlichen? Ist gar ein unbekanntes Teilchen im Spiel, das auf neuartige Physik hinweisen könnte? Oder besitzt das vermeintlich wohlverstandene Proton innere Strukturen, die wir noch nicht kennen?
Randolf Pohl, inzwischen an der Universität Mainz, forschte am Max-Planck-Institut für Quantenoptik jahrelang zu diesem Problem. Seine Arbeitsgruppe gehört weltweit zu den Spezialisten für Messungen des Protonenradius mit neuen Methoden. »Unsere Messungen waren deutlich präziser als bisherige Bestimmungen des Protonenradius«, sagt Pohl. »Umso überraschender war es zu sehen, dass wir einen signifikant kleineren Radius erhalten haben als frühere Messungen.«
Protonen sind die kleinsten stabilen Teilchen, aus denen die Materie von Atomkernen besteht. Alle Atomkerne sind aus Protonen und Neutronen aufgebaut. Dabei bestehen sowohl Protonen als auch Neutronen aus je drei Quarks. Diese Quarks sind Elementarteilchen, die nie isoliert existieren können, sondern sich stets zu Zweier- oder Dreierpaketen zusammenschließen. Die leichteste stabile Quark-Kombination, das Proton, besteht aus einem down- und zwei up-Quarks. Andere Elementarteilchen, die Gluonen (»Klebeteilchen«), halten die Quarks im Proton zusammen. Neutronen wiederum bestehen aus zwei down- und einem up-Quark. Freie Neutronen sind nicht stabil, sondern zerfallen langsam zu Protonen. Zusammen mit diesen in Atomkernen gebunden können sie jedoch stabil bleiben.
Das Proton ist viele tausend Mal kleiner als ein Atom
Nun sind sowohl Quarks als auch Gluonen der zu Grunde liegenden Theorie zufolge punktförmige Elementarteilchen – als zusammengesetztes System hat das Proton jedoch einen bestimmten Radius. Bisherige Experimente hatten übereinstimmend einen Wert von 0,8768 Femtometern geliefert. Ein Femtometer ist der millionste Teil eines Millionstelmillimeters oder 0,000 000 000 000 001 Meter. Das ist sehr viel kleiner als die Größe eines Atoms. Das leichteste Atom, Wasserstoff, besteht aus einem Proton und einem Elektron, das dieses umkreist. Der Radius der Elektronenbahn ist allerdings um vier bis fünf Größenordnungen weiter als der des Atomkerns.
Da Protonen und auch Neutronen so klein sind, macht dementsprechend der Atomkern etwa in einem Wasserstoffatom nur einen winzigen Bruchteil des Volumens aus. Das Elektron »spürt« also den Atomkern die meiste Zeit quasi nur als Punktladung, die es auf Grund seiner gegensätzlichen elektrischen Ladung anzieht und an ihn bindet. Wenn ein Elektron sich im quantenphysikalischen Grundzustand befindet – wenn es also etwa nicht durch Bestrahlung mit Licht oder durch atomare Stöße angeregt wird –, besitzt es dennoch eine sehr geringe Aufenthaltswahrscheinlichkeit innerhalb des Atomkerns. Dabei beeinflusst dieser Wahrscheinlichkeitsanteil die innere Struktur des Protons.
Wenn das Elektron sich hingegen in einem angeregten Zustand befindet, sinkt seine Aufenthaltswahrscheinlichkeit innerhalb des Atomkerns auf null. Dadurch »spürt« es die innere Struktur des Protons nicht mehr, was zu einer kleinen Verschiebung der atomaren Energiezustände führt. Mit Hilfe von Lasern kann man die Energieniveaus sehr genau bestimmen und daraus den Protonenradius berechnen.
Anhand solcher Messungen lässt sich der Radius des Protons über die Wechselwirkung mit einem Elektron bestimmen. Eine andere unabhängige Methode besteht darin, nicht Atome zu vermessen, sondern Protonen mit hochenergetischen Elektronen zu beschießen und dann aus deren Ablenkung auf die Größe der Protonen zu schließen. Beide Arten von Messungen sind nur begrenzt präzise, liefern aber einen konsistenten Wert für den Radius des Protons.
Exakt herleiten lässt sich der Protonenradius aus der Theorie nicht
Exakt aus der Teilchentheorie herleiten lässt sich der Protonenradius nämlich nicht: Die drei Quarks und die zwischen ihnen hin- und hersausenden Gluonen gehorchen so komplizierten Gesetzen, dass keine mathematisch exakte Lösung für dieses Problem vorliegt. Schon seit den 1970er Jahren gab es deshalb immer wieder Überlegungen, den Protonenradius mit einer neuen Methode noch deutlich präziser zu bestimmen.
»Man kann statt der Elektronen auch Myonen nutzen, um die Verschiebung der Energieniveaus zu messen und daraus den Radius zu bestimmen«, sagt Aldo Antognini vom Paul Scherrer Institut in der Schweiz und der ETH Zürich, der schon lange an diesen Projekten arbeitet. Wenn man Myonen auf Wasserstoffatome schießt, verdrängt hin und wieder ein Myon das Elektron aus dem Atom und nimmt seine Position ein. Diese exotischen Atome nennt man auch »myonischen Wasserstoff«.
Der Clou bei dieser Idee: Myonen sind die schweren Geschwisterteilchen der Elektronen. Sie besitzen die gleiche elektrische Ladung und unterscheiden sich von Elektronen nur in zwei Eigenschaften. Der eine Unterschied ist vorteilhaft, der andere hingegen macht die Dinge kompliziert.
Der Vorteil: Myonen sind rund 200-mal schwerer als Elektronen. Sie fliegen dementsprechend näher am Atomkern und verbringen sehr viel mehr Zeit innerhalb des Protons. Sie sind also deutlich bessere »Spürhunde« für das Proton und zeigen eine ausgeprägtere Verschiebung der Energieniveaus. »Außerdem ist so nahe am Proton auch das elektrische Feld sehr viel stärker«, so Antognini. Deshalb ist myonischer Wasserstoff weniger empfindlich gegenüber äußeren Störungen als normaler Wasserstoff. Der myonische Wasserstoff eignet sich also prinzipiell hervorragend, um den Protonenradius zu messen. Er sollte etwa zehnmal genauere Werte liefern als bisherige Methoden.
Über Jahre suchten die Wissenschaftler an der falschen Stelle: Ihr Apparat war auf den Literaturwert des Protonenradius eingestellt
Der Nachteil: Myonen sind leider sehr instabil und zerfallen im Schnitt in zwei Millionstelsekunden in Elektronen. Innerhalb dieser verflixt kurzen Zeitspanne müssen die erzeugten Myonen gesammelt und zu einem Ziel gebracht werden, mit diesem wechselwirken, abbremsen, eine Bindung zu myonischem Wasserstoff eingehen – und anschließend müssen noch die Messungen am myonischen Wasserstoff stattfinden, bevor die Myonen wieder zerfallen sind.
Erst seit den 1990er Jahren ist die Experimentaltechnik weit genug, um die Idee von myonischem Wasserstoff überhaupt realisieren zu können. Ende der 1990er Jahre begann schließlich die Arbeitsgruppe von Randolf Pohl gemeinsam mit Kollegen aus Stuttgart, der Schweiz, Frankreich und Portugal, ein solches Experiment aufzubauen. Über Jahre jedoch suchten die Wissenschaftler an der falschen Stelle: Ihr Apparat war auf den Literaturwert des Protonenradius eingestellt. Das Experiment blieb deshalb lange ergebnislos. Die Forscher fürchteten bereits, die Finanzierung würde ihnen gestrichen. Erst als sie es wagten, auch weiter außerhalb des erwarteten Bereichs zu messen, wurde ihre Mühe schließlich belohnt. »Der neue Wert liegt um rund vier Prozent unter dem alten«, so Pohl. Das klingt zunächst zwar nicht nach besonders viel, ist für Präzisionsmessungen aber eine deutliche Abweichung – so deutlich, dass normale Messfehler als Erklärung nicht mehr in Frage kommen.
Vier mögliche Erklärungen
Diese überraschende Diskrepanz hat für einige Furore gesorgt; schließlich geht es bei solchen Präzisionsmessungen an den einfachsten Systemen der Natur um die Grundlagen der Physik. Vier mögliche Erklärungen für den geschrumpften Protonenradius sind derzeit im Spiel. Erstens könnte es sich schlicht um gänzlich unerwartete systematische Messfehler handeln. Zwar haben die Forscher jahrelang versucht, alle Fehlerquellen zu beseitigen. Aber ganz ausschließen lässt sich bei einer so komplizierten und neuen Technik ein Fehler kaum. Stellt sich dies als Ursache heraus, hat man zwar keine neue Physik gelernt, aber zumindest den Stand der Technik verbessert.
Zweitens könnte das Myon auch einen überraschend großen Effekt auf das Proton besitzen. Da es so viel enger um das Proton fliegt und es mit seiner Ladung anzieht, könnte das Myon das Proton ein wenig stauchen und dadurch den kleineren Radius verursachen. Dies wäre zwar eine Überraschung, da das Proton als extrem stark gebundenes System gilt, dass sich von einem Myon nicht so stark beeinflussen lassen sollte – aber ausschließen kann man dies derzeit nicht. Drittens ist vielleicht der Wert der so genannten Rydberg-Konstante falsch. Diese Naturkonstante ist essenziell für alle Messungen am Wasserstoff und verknüpft einige fundamentale Naturkonstanten wie die Feinstrukturkonstante, die Planck-Konstante und die Elektronenmasse. Eigentlich ist die Rydberg-Konstante eine der am präzisesten bekannten Naturkonstanten überhaupt. Bisherige Bestimmungen basierten aber stets auf einer ganzen Reihe von Voraussetzungen. Die neuen Messungen könnten nun ein Hinweis darauf sein, dass man all dies noch einmal neu angehen muss.
Ein bislang unbekanntes Teilchen könnte für das eigenartige Verhalten des myonischen Wasserstoffs verantwortlich sein
Der vierte Alternative ist zugleich die unwahrscheinlichste, aber auch die spannendste: Ein bislang unbekanntes Teilchen könnte für das eigenartige Verhalten des myonischen Wasserstoffs verantwortlich sein. Einigen Theorien zufolge, die über das Standardmodell der Teilchenphysik hinausgehen, könnte so ein Teilchen die Energiezustände derart verschieben, dass der Protonenradius sich scheinbar verändert. Sollte sich diese Hypothese erhärten, wäre das eine Sensation. Es wäre der erste klare Hinweis auf ein Teilchen jenseits des Standardmodells und würde den Teilchenphysikern wertvolle Hinweise liefern, wo sie nach neuer Physik suchen könnten. Das Problem hierbei: Diese Modelle sind stark auf das Problem des Protonradius zugeschnitten – aber nicht auf andere Messungen. »Falls so ein Teilchen existiert, sollte es sich aber auch bei vielen anderen Experimenten bemerkbar machen«, sagt Antognini. Das neue Teilchen müsste schon sehr spezifische Eigenschaften haben, um bei anderen Experimenten bislang unauffällig geblieben zu sein.
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