Simuliertes Menschengedränge: Eine einzige Regel für den Fußgängerschwarm
Wie sich Fußgänger in einem größeren Gedränge bewegen, lässt sich erstaunlich gut mit Hilfe simpler Gesetze beschreiben. Das heißt, im Einzelfall mögen sich Passanten an vielerlei Kriterien orientieren, aufs Ganze gerechnet aber folgt die Masse simplen Mustern. Sie ähneln damit in gewisser Hinsicht geladenen Teilchen derselben Ladung, die einander abstoßen.
Doch wie Forscher um Ioannis Karamouzas von der University of Minnesota jetzt berichten, stimmt die Analogie mit den geladenen Teilchen nur bedingt. Das Verhalten von Fußgängerscharen lasse sich besser simulieren, wenn man den Modellfußgängern den Blick in die Zukunft gestattet: Diese berechnen offenbar den Zeitpunkt einer Kollision mit anderen Passanten und richten ihre Ausweichreaktion an der so kalkulierten Zeitdauer aus.
Wie lange bis zur Kollision?
Genauer gesagt sinkt die "Abstoßungskraft" zwischen zwei simulierten Passanten mit dem Quadrat dieser Zeitdauer. In diesem Potenzgesetz verbirgt sich der entscheidende Unterschied zu Modellen mit geladenen Teilchen: Bei ihnen ist die Abstoßungskraft umgekehrt proportional zum Quadrat des räumlichen Abstands. Dadurch bleiben die Relativgeschwindigkeiten der beiden aufeinander zulaufenden Passanten außer Acht.
Die Wissenschaftler verglichen die Vorhersagen ihrer Simulation mit Videoaufnahmen aus dem Alltag (Physical Review Letters, im Druck). In der Realität der Fußgängerzone entstehen beispielsweise automatisch Bahnen, in denen sich Passanten gleicher Laufrichtung bewegen. Solche Selbstorganisationsphänomene konnte ihr Modell nachbilden.
Allerdings versagt es, wenn die vorausberechnete Kollision mehr als drei Sekunden in der Zukunft liegt. Auch wenn die Dichte der Menschen so stark ansteigt, dass sich Nachbarn berühren, stimmen die Voraussagen nicht mehr mit der Realität überein. Um die komplette Bandbreite von Fußgängerverhaltensweisen abzubilden, muss das Modell darum wohl noch weiter überarbeitet werden. Schließlich ist das Ziel der Wissenschaftler, das Verhalten von Menschenmengen unter potenziell gefährlichen Bedingungen wie einer Massenpanik zu simulieren.
Liveprognose bei Massenveranstaltungen
Ihr Modell ist nicht der einzige Versuch, den womöglich zu simplen Vergleich mit geladenen Teilchen zu überwinden. Laut Untersuchungen von Dirk Helbing von der ETH Zürich lässt sich das Verhalten von Fußgängern am besten dadurch abbilden, dass man ihnen die Fähigkeit verleiht, in Lücken vorzustoßen, die sich vor ihnen auftun.
Die Hoffnung beider Forschergruppen ist es, ein Modell zu entwickeln, dass die Bewegungsmuster einer Menschenmenge gut genug vorhersagen kann, um es an Überwachungskameras zu koppeln. Sicherheitskräfte hätten dann die Möglichkeit, eine Situation zu entschärfen, bereits Minuten bevor sie sich zu einer konkreten Gefahr auswächst.
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