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Extremwetter: Wie extrem Deutschlands Wetter werden kann

Welches Wetter Europas Klima hervorbringen kann, ist nur zum Teil bekannt. Die Wetteraufzeichnungen reichen nicht weit genug zurück, um die extremsten, sehr unwahrscheinlichen Ereignisse zu erfassen. Und der Klimawandel macht sie nun deutlich wahrscheinlicher.
Zwei umgestürzte Bäume liegen auf einem Haus.
Seit rund 140 Jahren werden in Deutschland Wetterdaten gesammelt. Dieser Zeitraum ist viel zu kurz, um seltene, extreme Ereignisse zu erfassen – und hinzu kommt nun noch der Klimawandel.

Im Frühsommer 1783 breiteten sich in Europa mysteriöse Schwaden am Himmel aus. Die Sonne verschwand hinter einem milchig matten Dunstschleier, überall berichteten die Menschen über einen seltsamen Höhenrauch, der den Nachthimmel teilweise verdeckte und zum Leuchten brachte. Regnete es, roch die Luft beißend nach Schwefel. Augenreizungen und Schäden an Böden und Pflanzen wurden aus ganz Europa gemeldet. Nahezu zeitgleich begann trotz getrübter Sonne eine außergewöhnliche Hitzewelle, die den ganzen Sommer anhielt. Auch der Regen blieb einfach aus. Bis zum Herbst herrschte große Trockenheit, die sich zu einer gefährlichen Dürre auswuchs.

Doch mit dem Dürresommer war die mysteriöse Wetteranomalie noch nicht beendet. Eine der folgenschwersten Wetterkatastrophen der letzten 1000 Jahre fing gerade erst richtig an. Wenige Monate später behinderte ein äußerst strenger und schneereicher Winter das Wirtschaftsleben und führte zu einer Versorgungskrise und Hungersnot in großen Teilen West- und Mitteleuropas. Im eigentlich milden Mannheim wuchs die Schneedecke Ende Januar 1784 auf anderthalb Meter an, dicke Eispanzer bedeckten fast alle Flüsse und Seen. Ende Februar schließlich löste starkes Tauwetter eine der größten Überschwemmungen der Frühen Neuzeit aus. Die Wassermassen überfluteten ganze Täler und überspülten wegen sich auftürmender Eisschollen viele Städte meterhoch, unzählige Brücken wurden zerstört. Hunderttausende Menschen starben in Europa.

Die historische Wetterkatastrophe von damals ist Klimaforschern bis heute ein Begriff. Wie sich damals mehrere Extremwetterereignisse aneinanderreihten, ist eines der bekanntesten Lehrbeispiele für eine besonders unglückliche Verkettung von Unwettern. »In vier Schritten schlitterten die Menschen damals in die Katastrophe«, schreibt der Klimahistoriker Rüdiger Glaser in seinem Buch »Klimageschichte Mitteleuropas«, für das er das Wetter der vergangenen 1200 Jahre rekonstruierte. Das Jahr der Extreme ist eine Mahnung dafür, wozu die Atmosphäre im Stande ist und was hier zu Lande passieren kann, wenn gleich mehrere enorm unwahrscheinliche Wetteranomalien in Folge auftreten.

Unterschätzte Katastrophen

Im Gegensatz zu damals wissen die Wissenschaftler heute, dass die verheerenden Wetterausreißer auf das Konto des isländischen Vulkans Laki gingen, der zuvor ausgebrochen war. Zudem fiel die Katastrophe in den Zeitraum der Kleinen Eiszeit, die von häufigen Extremwetterereignissen geprägt war. Doch auch ohne Vulkanausbrüche sind solche Phänomene möglich, wissen Klimaforscher, wenn auch sehr unwahrscheinlich.

Zu welchen Eskapaden die Atmosphäre physikalisch in Mitteleuropa in der Lage ist, ist vielen Menschen und politisch Verantwortlichen heute allerdings immer noch nicht klar. Extremwetter wird systematisch unterschätzt oder Behörden spielen es absichtlich herunter, um nicht viel Geld und Arbeit in Katastrophenpläne und Prävention stecken zu müssen. Dabei bedeutet Extremwetter eine echte Gefahr für Leib und Leben.

Meistens fehlt das kollektive Gedächtnis oder die Vorstellungskraft, was die Atmosphäre an Unbilden zusammenbrauen kann. Sei es in kurzer Zeit durch einen Orkan, Sturzregen oder Tornado oder in einem etwas längeren Zeitraum, in dem sich beispielsweise verheerende Hochwasser oder Hitzewellen aufbauen. Generell unterschätzen viele Menschen trotz der vergangenen Trockenjahre auch die Folgen von Dürren, die erst nach Monaten ihre Zerstörungskraft entfalten. Je länger sie dauern, desto schlimmer werden sie. Und erst wenn etwas Schlimmes passiert, wird klar, was man hätte verhindern können.

Die Liste für sehr unwahrscheinliche, aber durchaus denkbare Extremereignisse der jüngsten Vergangenheit ist jedenfalls lang. Die eindrücklichste Katastrophe ereignete sich Mitte Juli 2021 im Ahrtal, als eine Sturzflut mehrere Orte überschwemmte, zahlreiche Häuser fortriss und 135 Menschen tötete. Zuvor brachten die Jahre 2018 bis 2020 die extremste Dürre seit 250 Jahren, wie Klimaforscher in einer Studie in »Earth’s Future« zeigten. Im Jahr 2022 folgte ein außerordentlicher Hitzesommer. Und auch davor war in Mitteleuropa einiges am Himmel los: Beispiele sind die Stürme Kyrill (2007) und Lothar (1999) sowie der historische Hitzesommer 2003, der heißeste Sommer seit dem Jahr 1540.

Wir kennen die extremsten Ereignisse wohl gar nicht

Wie außergewöhnlich ein Ereignis ist, erfahren Klimafachleute beim Blick in die Statistik. Die Häufigkeitsverteilung gibt an, wie oft ein Wetterphänomen in einer bestimmten Messreihe auftritt. Und daraus lässt sich ermitteln, wie wahrscheinlich es ist. Professionell aufgezeichnet wird in Deutschland seit 1881, also rund 140 Jahre lang. Reicht das, um alle möglichen Ausprägungen eines Merkmals zu erfassen? Sind damit alle denkbaren Extremereignisse abgedeckt?

Natürlich nicht. Das lehrt schon ein Blick in die Klimageschichte. »Man muss sehr lange warten, bis man alles gesehen hat«, sagt Erich Fischer, Klimaforscher an der ETH Zürich. Um alle Temperaturausschläge an einem Ort zu erfassen, bräuchte man wohl mehrere hundert Jahre, schätzt er; bei Stürmen, Dürren und hohen Niederschlagsereignissen sogar mehrere tausend Jahre. »Insofern sehen wir nur einen kleinen Ausschnitt von dem, was physikalisch möglich ist.« Lediglich auf die Beobachtungen zu schauen, reiche deshalb nicht. Hinzu kommen ebenjene so genannte Compound-Ereignisse, wie sie schon 1783/84 Mitteleuropa in die Katastrophe stürzten. Also ein Zusammenspiel von Wetterextremen, die sich gegenseitig verstärken.

Fischer hat sich auf die Erforschung von Extremwetter spezialisiert. Er kennt die typischen Schwankungen, denen die Atmosphäre unterworfen ist, und damit auch die starken Ausschläge, die das Wetter zu einer Gefahr werden lassen. Eigentlich, so sagt er, sollte man davon ausgehen, dass Rekordwerte mit der Zeit immer seltener werden. »Je länger man misst, desto weniger Rekorde dürfte man erwarten.« Zudem müssten die Rekordsprünge mit der Zeit immer niedriger ausfallen. Also der Wert, um den ein alter Rekord gebrochen wird.

Doch das Gegenteil ist der Fall – und als Ursache kommt nur der Klimawandel in Frage. Seit Jahren schon vergeht kein Monat, ohne dass irgendwo auf der Erde neue Allzeitrekorde gerissen werden – teilweise um mehrere Grad Celsius. Erich Fischer führt eine Liste über die größten Temperatursprünge rund um den Globus. Anfang 2024 stammte die aktuellste Notiz vom mit Abstand wärmsten Februar aller Zeiten, den große Teile Europas gerade hinter sich gebracht hatten.

50 Grad im Bergdorf

Im Sommer 2021 stellte Fischer zusammen mit seinen Kollegen Reto Knutti und Sebastian Sippel eine Aufsehen erregende Studie in der Fachzeitschrift »Nature Climate Change« vor. Darin zeigen die Züricher Klimawissenschaftler, dass viele Orte vor einem extremen Sprung bei den Extremwerten stehen und dass sich Schutzmaßnahmen daher nicht an alten Wetterrekorden orientieren sollten.

Der Zufall wollte es, dass sich kurz vor Veröffentlichung der Arbeit über Kanada eine Hitzewelle aufgebaut hatte, die alles Bekannte in den Schatten stellte. Fast 50 Grad Celsius wurden in Lytton in der kanadischen Provinz gemessen, bevor der Ort in Flammen aufging. Der bisherige Hitzerekord Kanadas war damit um fast fünf Grad übertroffen worden. Was folgte, war eine rege Debatte unter Klimaforschern über das so genannte »freak event«. Mit 50 Grad in einem kanadischen Bergdorf hatte kaum jemand gerechnet. Die Klimaforscher fragten sich, ob der Klimawandel vielleicht doch böse Überraschungen bereithält, welche die Computermodelle bislang nicht abbilden konnten. Oder anders gefragt: ob der Jetstream in einer wärmeren Welt vielleicht doch zu Wellenmustern fähig ist, die Temperaturschocks und »freak events« in den mittleren und hohen Breiten auslösen können.

Themenwoche: Extremwetter

Starkregen, Hitze, Trockenheit – weltweit richtet Extremwetter aller Art immer größere Schäden an. Auch in Deutschland macht der Klimawandel das Wetter seltsam und gefährlich. Doch ab wann ist eine Dürre oder ein Regenguss mehr als nur eine Wetterkapriole? Was macht Extremwetter aus? Womit müssen wir in Zukunft rechnen? Und vor allem: Wie gehen wir mit der neuen Realität um – weltweit und bei uns?

Interview: »Was ist mit Extremwetter gemeint, Herr Sippel?«
Die schlimmsten Fälle: Wie extrem Deutschlands Wetter werden kann
Extremwetter in Afrika: Anpassung auf Leben und Tod
Feuerökologie: Der Wald im Zeitalter des Feuers
Gesundheit: Wie Extremwetter krank macht
Deutschland: Planlos im Kampf gegen Extremwetter
Kommentar: Nichts gelernt aus Katastrophen

Mehr über Wetterextreme, ihre Ursachen, Folgen und wie sie mit dem Klimawandel zusammenhängen, finden Sie auf unserer Themenseite »Extremwetter«.

Die Züricher Forscher hingegen hatten eine Erklärung parat, die nicht notwendigerweise dynamische Veränderungen der Atmosphäre erforderte. Die meisten Klimawissenschaftler hätten sich schlicht nie überlegt, wie wahrscheinlich ein solches »freak event« sei, sagten sie. In ihrer Studie konnten sie zeigen, dass der Klimawandel Temperatursprünge auslöst und dass sie direkt mit der Zunahme der Treibhausgasemissionen zusammenhängen. Die Wirkungskette ist demnach klar: je höher die Emissionen, desto höher die Erwärmungsrate, desto höher die Sprünge. Zudem trägt die zunehmend saubere Luft über Nordamerika und Europa zu neuen Extremwerten bei. Insofern werden Hitzeschocks auch in Zukunft relativ oft vorkommen, sind sich die Forscher sicher. Und die Liste, die Erich Fischer von pulverisierten Rekordwerten führt, wird länger und länger.

Für Deutschland bedeutet das, dass neue Extremwerte nur eine Frage der Zeit sind. Hitze jenseits der 45 Grad dürfte bereits in 10 bis 20 Jahren drohen, die 50 Grad in Europa werden wahrscheinlich sogar noch schneller erreicht werden, vielleicht sogar schon im Sommer 2024. Hinzu kommen mögliche Extremdürren in der nahen Zukunft, die selbst das Jahrtausendereignis von 1540 in den Schatten stellen könnten. Über elf Monate hinweg fiel damals von Oktober 1539 an in großen Teilen Europas praktisch kein Regen. Flüsse und Seen fielen trocken, Waldbrände wüteten auf dem gesamten Kontinent, eine halbe Million Menschen starben.

Vorbereiten auf den schlimmsten Fall

Dass es solche Katastrophenjahre schon früher gab, ist kein Argument gegen den menschengemachten Klimawandel. Dieser macht solche Horrorszenarien wahrscheinlicher, er erhöht die Frequenz ihrer Wiederkehr. Ein Grund hierfür ist, dass im Sommer künftig im Mittel weniger Regen fällt als früher, vor allem aber reduziert jedes zehntel Grad Temperarturerwärmung wegen der steigenden Verdunstung die Bodenfeuchte. Deshalb werden die Böden in Europa künftig im Sommerhalbjahr immer öfter austrocknen.

Doch auch das Gegenteil ist möglich. So werden in Zukunft manche Sommer regelrecht ins Wasser fallen, weil das höhere Temperaturniveau grundsätzlich mit intensiveren Niederschlägen einhergeht. Gefahr besteht vor allem wegen höherer Regensummen durch Starkregen bei Schauern und Gewittern, die in sehr kurzer Zeit so viel Schütte bringen, dass kleine Einzugsgebiete oder verdichtete Stadtviertel untergehen, aber auch bei länger anhaltenden Starkregenfällen. Diese treten durch besonders gefürchtete Wetterlagen ein wie etwa 2021 im Ahrtal, 2013 in Bayern, 2002 an der Elbe oder 1997 an der Oder.

Um für künftige meteorologische Ausnahmeereignisse gewappnet zu sein, müssten sie besser erforscht werden. Nur wer die Ausschläge des Erdsystems und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit versteht, kann sich schützen. Eine Gesellschaft wird nicht erschüttert von einem langsamen Anstieg der Durchschnittstemperatur über 30 Jahre, daran gewöhnt sie sich allmählich. Sie wird bedroht von Extremereignissen, die alles Vorstellbare in den Schatten stellen. Und mit jedem zehntel Grad Erwärmung macht der Mensch solche Katastrophen wahrscheinlicher.

Klimaforscher wie Erich Fischer betonen seit Jahren, wie wichtig es sei, Worst-Case-Szenarien durchzurechnen und Präventionspläne zu erstellen. Der Klimawandel erhöht die Risiken, die Zeit drängt. Vor allem die Auswirkungen auf die kritische Infrastruktur müssen erforscht werden, sagt er. Damit meint er beispielsweise Hitzepläne für Krankenhäuser oder wie die Energieversorgung sichergestellt werden kann.

Für die Alpen hat er 2023 in einem Workshop ein Extremszenario genauer unter die Lupe genommen: Nach einem Dürresommer kommt es zu Waldbränden, die den Schutzwald im steilen Gelände zerstören. Dadurch sind die im Tal liegenden Siedlungen Lawinen im Winter sowie Schlammlawinen schutzlos ausgeliefert. Doch Präventionspläne für derartige Worst-Case-Szenarien sind bisher rar. Obwohl die Ahrtalkatastrophe noch nicht lange her ist, existieren für die meisten Kommunen in Deutschland nicht einmal Gefahrenkarten für Starkniederschläge.

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  • Quellen

Fischer, E.M. et al.:Increasing probability of record-shattering climate extremes. Nature Climate Change, 2021

Racovec, O. et al.:The 2018–2020 multi-year drought sets a new benchmark in Europe. Earth's Future, 2022

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