Wissenschaftliche Ethik: Fehlverhalten in der Forschung
Herr Professor Eitel – Sie waren direkt von den öffentlich beachteten Plagiatsskandalen der letzten Zeit betroffen. Welche Lehren zog die Universität Heidelberg aus dem Fall der Europapolitikerin Silvana Koch-Mehrin?
Bernhard Eitel: Wir versuchen auf vielfältigen Wegen bereits früh im Studium eine hohe Sensibilität für die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis zu schaffen. Außerdem haben wir eine Plagiatssoftware installiert, die campusweit allen Prüfungsberechtigten zur Verfügung steht. Allerdings stellen wir niemanden unter Generalverdacht und lassen nicht jede Arbeit, die publiziert wird, automatisch elektronisch durchleuchten. Ich bin der Überzeugung, dass Verfehlungen gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis die Ausnahme sind.
Wie viele solcher Ausnahmen gab und gibt es an Ihrer Universität?
Eitel: Aktuell verfolgen wir rund zehn Fälle – ein recht stabiler Wert über die Jahre. Fälschungen, Plagiate und andere Verfehlungen gibt es, seit Wissenschaft betrieben wird. Ein Rektor meinte neulich zu mir, an seiner Universität sei so etwas noch nicht vorgekommen. Dem halte ich entgegen: Dann stimmt etwas mit der Qualitätskontrolle nicht! Wie viele Fälle verfolgt werden, ist in erster Linie eine Frage der Qualitätskultur. Das ist wie im Straßenverkehr: Solange es Autos gibt, wird auch falsch geparkt werden.
Herr Professor Kempen – ist nicht der eigentliche Skandal hinter den Plagiatsfällen der letzten Zeit, dass Wissenschaftler diese Arbeiten anfangs durchgewinkt haben? Karl-Theodor zu Guttenberg erhielt an der Universität Bayreuth sogar die Bestnote "summa cum laude" ...
Bernhard Kempen: Jeder dieser Fälle – ob zu Guttenberg, Koch-Mehrin oder auch Schavan – ist für die titelverleihende Universität peinlich. Dass jemand durch die Maschen schlüpft, hätte nicht passieren dürfen. Aber man darf auch nicht Ross und Reiter vertauschen: Wenn einer in der Straßenbahn schwarzfährt, ist ja auch nicht der Schaffner der Böse, sondern der Schwarzfahrer. Wir Hochschullehrer müssen dafür sorgen, dass die publizierten Arbeiten sauber sind. Darauf hat die Öffentlichkeit einen Anspruch. Deshalb ergreift der Deutsche Hochschulverband jetzt auch Maßnahmen.
Welche sind das?
Kempen: Schon vor dem "Fall zu Guttenberg" haben wir zusammen mit dem Doktorandennetzwerk "Thesis" Handlungsrichtlinien entwickelt. Darin steht, wie eine ordentliche Doktorandenbetreuung aussehen muss: Was sind die Rechte und Pflichten von Promovierenden und ihren Betreuern? Außerdem wollen wir die Promotionsordnungen verbessern, die sich wegen der Autonomie der Fakultäten von Universität zu Universität unterscheiden. Die von den Fakultäten gestalteten Promotionsordnungen haben zum Teil geradezu Verfassungsrang. Doch trotz aller berechtigten Autonomie sollte über einige Eckpunkte von Flensburg bis München unbedingt Konsens herrschen.
Eitel: Die Doktorandenbetreuung ist heute eine viel schwierigere Aufgabe als eine Generation zuvor, weil es inzwischen ungleich mehr Promovierende gibt. Hinzu kommt, dass viele unserer Nachwuchswissenschaftler aus der ganzen Welt stammen. Manche haben ganz andere Vorstellungen von wissenschaftlichem Fehlverhalten – ich sage das völlig wertungsfrei. Die ausbildenden Einrichtungen müssen ihren Studierenden daher unmissverständlich deutlich machen, wie die Qualifikation für eine Promotion hier zu Lande abläuft und welche Standards an unseren Universitäten gelten.
Der ehemaligen Bundesforschungsministerin Schavan wurde der Doktortitel mehr als 30 Jahre nach ihrer Promotion entzogen. Ist das noch verhältnismäßig, oder sollte es nicht eine Verjährungsfrist für wissenschaftliches Fehlverhalten geben?
Eitel: Gravierendes Fehlverhalten kann nicht verjähren. Das wäre für die Wissenschaft tödlich. Die Aufnahme in den Kreis der Wissenschaftler durch die Promotion gilt ja lebenslang. Ich bin aber dafür, ein differenziertes Instrumentarium von Sanktionen zu entwickeln. Wir sollten nicht bloß schwarz-weiß denken, nach dem Motto: entweder den Doktortitel aberkennen oder nicht. Fehlverhalten kann unterschiedlich bestraft werden. Eine Möglichkeit wäre etwa, dass die Fakultäten öffentliche Rügen erteilen, den Titel aber nicht entziehen.
Kempen: Das sehe ich anders. Wir sollten vielleicht doch über Verjährungsregeln nachdenken. Es ist schon tragisch, wenn eine Person nach so langer Zeit einem derartigen Verfahren ausgesetzt wird Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Theater zwischen zwei Menschen. Ihr rechter Nachbar hat sich vor 30 Jahren des Totschlags schuldig gemacht, doch die Tat ist heute verjährt. Ihr linker Nachbar hat vor 30 Jahren bei seiner Doktorarbeit geschummelt, und seine bürgerliche Existenz steht nun auf dem Spiel, weil Plagiatjäger ihm auf die Schliche gekommen sind. Hier besteht ein Wertungswiderspruch. Man darf schon fragen, ob wir es als Gesellschaft nicht aushalten könnten, wenn jemand mit erschlichenem Doktorhut unter uns ist. Wir halten es ja auch aus, dass der Räuber, der Erpresser, der Betrüger herumläuft.
Eitel: Keine Frage, die Gesellschaft kann das aushalten – die akademische Welt aber nicht! Für die Wissenschaft ist es essenziell, dass Fehlverhalten auf Dauer sanktioniert wird. Sonst könnte sich ja, überspitzt formuliert, jemand über die Verjährungsfrist retten und danach als Nobelpreisträger mit großer Vorbildfunktion auftreten. Im Fall Schavan war die akademische Welt lange uneins, wie die Doktorarbeit zu bewerten sei. Wer die Diskussion in den Medien verfolgte, mochte meinen, Wissenschaftler könnten sich noch nicht einmal darauf einigen, was ein sauberes Zitat ist und was nicht.
Hat das gesellschaftliche Ansehen der Wissenschaft unter dieser Diskussion gelitten?
Kempen: Leider ja. Ich ärgere mich, dass sich überhaupt so viele Kollegen zu Wort gemeldet haben, um per Ferndiagnose Urteile abzugeben. Das war völlig unangebracht. Allein die Universität Düsseldorf, an der Frau Schavan promovierte, musste über den Fall entscheiden.
Eitel: Das Ansehen der Wissenschaft hat gelitten, keine Frage. Ich sehe aber eine noch schlimmere Folge: In Deutschland neigen wir dazu, Probleme reflexhaft durch neue Gesetze zu regeln. So hat unsere neue Forschungsministerin, Johanna Wanka, den Wissenschaftsrat beauftragt, Regeln für gute wissenschaftliche Praxis zu entwerfen. Aber brauchen wir das? Die Erfahrung zeigt: Immer wenn von außen in die akademische Welt hineinreguliert wird, gibt es Probleme. Lassen wir den Universitäten ihre Autonomie!
Was genau ist wissenschaftliches Fehlverhalten, und wo beginnt die Grauzone? Ist es zum Beispiel falsch, wenn ein Forscher ehrenhalber als Autor in einem Aufsatz aufgeführt wird, obwohl er nichts zur Arbeit beigetragen hat?
Eitel: Klares Fehlverhalten sind Plagiieren und Fälschen. Wobei es auch hier Übergänge gibt und mildernde Umstände greifen können. Dies zu beurteilen, ist die Aufgabe der Promotionskommissionen. Sie müssen etwa herausfinden, ob jemand absichtlich oder unbewusst getäuscht hat. Ich warne davor, vorab Schablonen anzulegen. Das ist gefährlich, denn wir wissen ja nicht, welche Form des Arbeitens in zehn Jahren Standard ist und ob wir unsere heutige Schablone dann noch anwenden können.
Können Sie das noch ein wenig konkreter fassen?
Eitel: Ein Beispiel für neue Formen des Arbeitens, die in keine früheren Schablonen passen, sind die aktuellen Großprojekte. Oft können sehr aufwändige Experimente auf Grund hoher Kosten nur ein einziges Mal oder nur zu bestimmter Zeit durchgeführt werden. Dass viele Versuche kaum wiederholbar sind und damit einem Grundprinzip der Naturwissenschaften widersprechen, betrachte ich mit Sorge. Eine weitere Grauzone sind Veröffentlichungen mit enorm vielen Autoren. Durch diese Praxis gibt es Wissenschaftler, die es auf hunderte Publikationen pro Jahr bringen. Da muss man sich schon fragen, ob das nicht bereits an Fehlverhalten grenzt.
Kempen: Solche Autorenkollektive haben in der Tat etwas Unglaubwürdiges. Und Ehrenautorschaften betrachte ich als eine überkommene Praxis. Manche Wissenschaftler behaupten zwar, Ehrenautorschaften seien international erforderlich, weil man in einigen Zeitschriften nur veröffentlicht wird, wenn ein angesehener Kollege mit an Bord ist – selbst wenn dieser den Aufsatz nicht mal gelesen hat. Doch das ist eine Fehlentwicklung. Bei wissenschaftlichen Erkenntnissen will ich schließlich wissen: Wessen Erkenntnis ist das? Mit wessen Versuch habe ich es hier zu tun?
In einer 2005 publizierten anonymen Befragung des Fachmagazins "nature", an der mehr als 3000 Wissenschaftler aus der ganzen Welt teilnahmen, gaben 15 Prozent zu, ein Forschungsdesign oder gar Ergebnisse schon einmal auf Druck von Forschungsförderern verändert zu haben. Wie unabhängig ist Wissenschaft in der Drittmittelära noch?
Eitel: Die Drittmittel sind nicht das Problem. Im Gegenteil: Drittmittel ermöglichen heute die akademische Forschungs- und Lehrfreiheit, und die Universitäten haben darüber zu wachen. Der Staat schränkt die akademische Freiheit zuweilen viel mehr ein, denn die Zweitmittel, also zeitlich befristete zusätzliche Gelder aus der öffentlichen Hand jenseits der Grundförderung, sind der goldene Zügel der Länder für die Universitäten. Sie schränken die akademische Freiheit ein.
Kempen: Wir brauchen Drittmittel an den Universitäten, denn durch sie ergibt sich eine enge Verzahnung mit der Gesellschaft und der Wirtschaft. Und wir sind finanziell auf sie angewiesen, weil die staatlichen Gelder im Verhältnis zu den Aufwendungen sinken; demgegenüber nehmen die Drittmittel zu. Bund und Länder müssen für eine bessere Finanzierung der Universitäten sorgen, um den derzeitigen Investitionsstau aufzuheben. Aber natürlich können Drittmittel auch ein Anreiz für wissenschaftliches Fehlverhalten sein, wenn jemand dank privater Gelder forscht ...
... zum Beispiel als Stiftungsprofessor für alternative Medizin, dessen Gelder von einem Hersteller einschlägiger Präparate kommen?
Kempen: Genau. Aber man darf auch nicht alles verteufeln. Es gibt genug Stiftungsprofessuren, bei denen alles ordentlich läuft. Die Verantwortung für unabhängige Forschung liegt freilich zuallererst beim Staat. Dieser hat uns in die Situation gebracht, existenziell auf Drittmittel angewiesen zu sein.
Eitel: Über die ausreichende Grundfinanzierung der Universitäten muss die Autonomie und wissenschaftliche Freiheit der Universitäten gesichert sein. Hier fehlt Geld. Zweitmittel werden oft nur für einige Jahre und für bestimmte Programme bewilligt, und danach müssen wir diese Projekte aus der Grundausstattung am Laufen halten. Das zehrt einen zunehmend größeren Teil von den knappen Grundausstattungsmitteln auf. Erst dadurch werden die universitätsfremden Mittel problematisch – nicht weil sie die Autonomie der Universitäten direkt einschränken würden.
Einer "nature"-Erhebung zufolge wurden von 2001 bis 2011 zehnmal mehr Fachaufsätze auf Grund wissenschaftlichen Fehlverhaltens wieder zurückgezogen als im Jahrzehnt davor. Im selben Zeitraum stieg die Anzahl der Veröffentlichungen um weniger als die Hälfte. Bedeutet das, dass mehr gefälscht oder nur mehr aufgedeckt wurde?
Kempen: In Sachen Qualitätssicherung ist ein kultureller Wandel eingetreten. Heute ist das Peer-Review-Verfahren Standard, also die anonyme Begutachtung eines Artikels vor Veröffentlichung durch einschlägige Experten. Früher hingegen bekam ein Verleger einen Aufsatz und war froh, wenn er diesen veröffentlichen konnte. Das ist zum Glück vorbei. Wir haben inzwischen ein engmaschiges Netz der Qualitätskontrolle. Das ist sicher auch ein Grund dafür, dass mehr Fehler entdeckt werden.
Hilft hier das Internet?
Eitel: Zum Internet habe ich eine zwiespältige Haltung. Einerseits wächst die Transparenz. Andererseits ist dies aber auch eine Pseudotransparenz, weil vieles, was im Netz veröffentlicht wird, nur halb richtig ist – es gibt keine Kontrollorgane. Zurzeit haben wir das Paradigma, alles möglichst transparent zu machen. Doch je mehr man offenlegt, desto größer wird die Schattenkommunikation darum herum. Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Wissenschaft dadurch insgesamt besser arbeitet.
Kempen: Dass jeder heute im Internet prüfen kann, was auf den einzelnen Forschungsfeldern passiert, ist gut. Aber Transparenz ist kein Selbstzweck. Wir müssen uns klarmachen: Das Internet ist keine Institution der Wissenschaft. Es gleicht eher dem Marktplatz vor der Universität. Die Wissenschaft findet aber in den Häusern statt. Die globale Kommunikationsstruktur erleichtert zwar einerseits das Entdecken von Fehlverhalten, andererseits erleichtert sie jedoch auch das Fälschen durch eine um sich greifende "Copy-and-paste-Kultur".
Fehlt den heutigen Erstsemesterstudenten durch diese "Copy-and-paste-Kultur" eine klare Vorstellung davon, was geistiges Eigentum ist?
Eitel: Das ist ein echtes Problem. Viele Studierende haben sich als Schülerinnen und Schüler einfach bei Wikipedia oder anderswo bedient, um ihre Hausaufgaben zu erledigen ...
Kempen: ... zum Beispiel auf "Hausarbeiten.de".
Eitel: Genau. Durch derartige Arbeitsweisen wird das Plagiat geradezu standardisiert. Viele Schulabgänger denken, dass die Inhalte im Internet zur allgemeinen Verfügung stünden. Wir versuchen dieser Haltung entgegenzuwirken, indem wir schon in der Orientierungsphase des Studiums das Bewusstsein dafür schärfen, wie man mit fremdem geistigen Eigentum korrekt umgeht.
Kempen: Das gehört gleich in die Anfängerveranstaltungen. Außerdem brauchen wir einheitliche Richtlinien, die fächerübergreifend gelten.
Wie könnten solche Richtlinien aussehen?
Kempen: Der Hochschulverband schlägt vor, eine Art "Standardwerk des wissenschaftlichen Publizierens" zu entwickeln. Dieses müsste fächerübergreifende Standards aufführen und auch Kapitel über Grauzonen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens enthalten, zum Beispiel über Eigenplagiate und Ehrenautorschaften. Wichtig wäre, dass so ein Werk auch anschauliche Beispiele schlechter wissenschaftlicher Praxis enthält. Dieses Buch sollte dann jedem Studenten zu Studienbeginn in die Hand gedrückt werden. Im Fall Annette Schavan hieß es ja, die Standards in den verschiedenen Fächern seien unterschiedlich. Solch eine Diskussion könnten wir damit zum Verstummen bringen.
Eitel: Ich bin skeptisch, ob solche Richtlinien – insbesondere im internationalen Kontext – als verbindlich akzeptiert würden. Die Zitierstandards sind ja nicht nur eine Frage der Universitäten und Wissenschaftler, sondern auch der Publikationsorgane. Diese sind bei vielen Fachzeitschriften sehr uneinheitlich. Bei amerikanischen und auch zunehmend bei deutschen Lehrbüchern darf man im Text als Autor kaum mehr zitieren – die Literatur wird dann nur noch im Anhang des Buchs aufgeführt. Das ist eine Fehlentwicklung, die von den Wissenschaftsverlagen ausgeht!
Kempen: Bei Veröffentlichungen jenseits von Dissertation und Habilitation haben Sie recht, da wird es schwierig. Aber bei Doktorarbeiten oder Habilitationsschriften haben wir eine Erwartungshaltung an die Verfasser und müssen diese Erwartung schriftlich festhalten. Denn wenn wir am Ende eine Note vergeben und dabei auch handwerkliche Leistungen wie korrektes Zitieren beurteilen, müssen wir vorab klar verdeutlichen, was wir darunter verstehen. Und ich bin optimistisch, dass wir das schaffen!
Kommen wir noch einmal zur Promotionspraxis zurück. Wäre es nicht sinnvoll, dass Betreuer keine Gutachter mehr sein dürfen? Das hätte möglicherweise manchen Plagiatsfall verhindert.
Eitel: In Deutschland gilt mindestens das "Vier-Augen-Prinzip". Dabei darf einer der beiden Gutachter einer Doktorarbeit auch der Betreuer sein. An dieser Praxis finde ich nichts Schlechtes, denn man muss die Bewertung der Arbeiten ja effizient halten. Wenn Zweifel an der Objektivität des Gutachtens bestehen, kann man noch externe Gutachter hinzuziehen. Ich gebe jedoch zu bedenken, dass es gut wäre, endlich die Doktorandenbetreuung auf das Lehrdeputat der Professorinnen und Professoren anzurechnen. Das würde intensive Betreuung belohnen. In anderen Ländern – etwa in Skandinavien und Amerika, aber auch zunehmend in Deutschland – gibt es immer mehr strukturierte Promotionsprogramme. In solchen Graduiertenschulen werden die Doktoranden von ganzen Teams betreut, auch dies ist ein gangbarer Weg. Grundsätzlich bin ich aber für maximale Freiheit. Unsere Aufgabe ist es nicht, zu reglementieren, sondern die Freiheit von Forschung und Lehre zu bewahren, die Innovationskraft der Universitäten zu stärken und die Individualität des wissenschaftlichen Nachwuchses zu fördern.
Kempen: Strukturierte Promotionsprogramme sind wichtig für die Doktorandenausbildung. Doch Qualität in der Wissenschaft sichern erst die Fächervielfalt und die gewachsene Fächerkultur. Deshalb sollte es weiterhin die Möglichkeit der individuellen Promotion geben. Die Universitäten sind sogar darauf angewiesen, auch Menschen aus der beruflichen Praxis – etwa Ärzte oder Anwälte – in die Forschung einzubinden. Externen Doktoranden verdanken wir großartige Forschungsleistungen.
Eitel: Man darf nicht unterschätzen, dass alle Dissertationen – in denen immer auch der Betreuer und die Gutachter genannt werden – publiziert werden müssen. Wenn die veröffentlichte Doktorarbeit nicht den Standards genügt, ist das für alle Seiten, auch die Fakultät, ein öffentlicher Pranger.
Die Fakultäten haben aber unterschiedliche Ansprüche an Dissertationen. In einer Doktorarbeit in der Medizin steckt für gewöhnlich deutlich weniger Forschung als in einer der Biochemie. Sollten wir vielleicht fächerübergreifend regeln, was für einen Doktorhut geleistet werden muss?
Kempen: Auch eine medizinische Promotion muss nachweisen, dass der Kandidat zu selbstständiger wissenschaftlicher Arbeit in der Lage ist. Wenn ich mir jedoch – nach Umfang und wissenschaftlichem Ertrag – manche medizinische Doktorarbeit anschaue, habe ich als medizinischer Laie ebenfalls meine Zweifel, ob das immer zutrifft. Der Medizinische Fakultätentag und die verantwortlichen Mediziner müssen darüber nachdenken, wie sie ihre Promotion weiterentwickeln wollen. Es geht dabei auch um die Frage, wie wir mit unserer deutschen Medizinpromotion etwa im Vergleich zum amerikanischen Medical Doctor dastehen. Wir müssen international Anschluss halten.
Eitel: Für Deutschland halte ich die Entwicklung in der Medizin für problematisch. Unser "Dr. med." wird international oft nicht als ein akademischer Grad akzeptiert, der echte Wissenschaftlichkeit auszeichnet. Wir machen in Heidelberg die Erfahrung, dass die Studierenden daher lieber den "Dr. rer. nat." oder den internationalen "PhD" anstreben; unsere ausländischen Nachwuchswissenschaftler haben häufig gar kein Interesse am "Dr. med."; er bringt ihnen nichts.
Warum ändern Sie nichts an der Praxis der Mediziner?
Eitel: Dies ist ein Strukturproblem. Die Hochschulleitung hat nur bedingt Einfluss auf die Fakultäten. Außerdem genießt die Medizin im öffentlichen Bewusstsein einen Sonderstatus. Deshalb meine auch ich: Der medizinische Fakultätentag ist aufgerufen, den deutschen Sonderweg zu überdenken!
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