Chronischer Schmerz: Fördert Morphin das Schmerzgedächtnis?
Opioide wie etwa Morphin gegen starke Nervenschmerzen einzusetzen, könnte eine bislang übersehene Nebenwirkung haben: Einer Untersuchung zufolge verlängert das Schmerzmittel die Schmerzempfindlichkeit. Dadurch könnten im ungünstigsten Fall chronische Schmerzen im betroffenen Körperteil ausgelöst werden, erklären Wissenschaftler um Peter Grace von der University of Colorado in Boulder.
Das Team hat dazu einen Langzeitversuch an Ratten durchgeführt. Die Forscher reizten den Ischiasnerv der Tiere und verabreichten manchen von ihnen zehn Tage später Morphin. Anders als bei der Mehrzahl der bisherigen Studien beobachteten sie nun das Verhalten der Tiere über mehrere Wochen und Monate hinweg. Dabei zeigte sich, dass Tiere, die mit Morphin behandelt worden waren, auch lange nach dem Eingriff noch überempfindlich auf Reizungen des Nervs reagierten und Anzeichen für Schmerzen zeigten. Bei der unbehandelten Kontrollgruppe hingegen hätten sie keine derartige Reaktion gefunden, so die Wissenschaftler.
Vermittelt werde der paradoxe Effekt durch so genannte Mikrogliazellen im Rückenmark. Diese "Hilfszellen" sind nicht an der eigentlichen Schmerzweiterleitung beteiligt, sondern übernehmen diverse Unterstützungsaufgaben. An ihnen beobachteten die Wissenschaftler Entzündungsreaktionen, die zur Ausschüttung des Botenstoffs Interleukin-1-beta führten, der wiederum die Reizschwelle der schmerzweiterleitenden Nerven absenkte.
Mit Hilfe einer experimentellen, maßgeschneiderten Wirkstoffkombination konnte das Forscherteam diesen Prozess unterbinden und die Signalausschüttung in den Mikrogliazellen zum Erliegen bringen. So behandelte Tiere hätten keine Anzeichen für chronische Schmerzen in den Monaten nach der Morphingabe gezeigt, schreiben die Forscher.
Die Kombination aus Nervenverletzung und Morphin stelle eine Art Doppelschlag für die Mikroglia dar, so die Theorie von Grace und Kollegen. Eine schmerzauslösende Reizung würde die Hilfszellen in einen Alarmzustand versetzen, der durch die Schmerzmittelgabe dann noch weiter ins Extrem gesteigert werde. Die benachbarten Nervenzellen würden dadurch in einen Zustand dauerhafter Hypersensibilität geraten.
Offen ist, ob sich dieses komplexe Zusammenspiel in ähnlicher Form auch beim Menschen zeigt und ob es auch unter den an Kliniken üblichen Szenarien auftritt. Ein Grund, die Einnahme von Morphin nun pauschal abzulehnen, stellen die Ergebnisse dieser Studie nicht dar. Vielmehr sollen sie nach Meinung der Forscher zu weiteren Untersuchungen Anlass geben. Die Langzeitwirkung von Morphin und anderen Opioiden sei noch nicht ausreichend erforscht.
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