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Unwetterwarnung : »Viele Ortschaften werden regelrecht absaufen«

In der gesamten Westhälfte des Landes drohen am Abend des 29. Juni 2024 heftige Gewitter mit Starkregen, Sturm und Hagel. Und auch danach bleibt das Sommerwetter wechselhaft.
Gewitterblitze bei Rastatt im Nordschwarzwald
Zieht während des Achtelfinalspiels von Deutschland gegen Dänemark am Samstagabend ein solches Gewitter auf, sollten sich die Veranstalter nicht auf ihr Glück verlassen, sondern das Stadion umgehend räumen.

Als am Mittwochabend, 26. Juni 2024, vier Blitze in der unmittelbaren Umgebung des Frankfurter Waldstadions einschlugen, war es pures Glück, dass nichts Schlimmeres passierte. Drinnen im Stadion spielte gerade die Slowakei gegen Rumänien um den Einzug ins Achtelfinale der Fußball-Europameisterschaft, das Stadion war mit 45 000 Menschen voll besetzt, das Dach offen. Wären die Blitze, deren ohrenbetäubendes Krachen von den Außenmikrofonen im EM-Spiel aufgezeichnet wurde, stattdessen im Stadion eingeschlagen, hätte es womöglich Tote und Verletzte gegeben.

Jetzt stehen die Achtelfinalpartien an – und neue Unwetter werden erwartet. Für Samstag, 29. Juni, kündigen Meteorologen eine Schwergewitterlage an, die zum späten Abend den Südwesten und Westen des Landes erreichen könnte. Ob sie zur Achtelfinalpartie der deutschen Nationalmannschaft gegen Dänemark am späten Samstagabend auch Dortmund treffen könnte, ist bislang unklar, aber der Spielort liegt in der von den Wettermodellen berechneten Risikogegend. Ziehen während des Spiels tatsächlich schwere Gewitter auf, sollten sich die Veranstalter nicht noch einmal auf ihr Glück verlassen. Eine Unterbrechung des Spiels wäre wohl die sicherste Variante.

Aber nicht nur in Dortmund dürfte der Samstagabend brisant werden, denn viele Menschen werden das Spiel im Freien verfolgen oder einfach nur den ersten richtigen Hochsommerabend des Jahres draußen genießen wollen. Unwettergefahr besteht in der gesamten Westhälfte des Landes; von Südbaden bis nach Niedersachsen drohen am Abend heftige Gewitter mit Starkregen, Sturm und Hagel, später auch in Ostdeutschland. Ob Grillparty oder Public Viewing – in diesen Regionen sollten Himmel und Wetterradar immer im Auge behalten werden. Nur im Südosten und im äußersten Nordwesten steht einem ruhigen Abend unter freiem Himmel nichts im Weg.

»Extreme Knallerlage« für weite Teile des Landes

Für die Meteorologen im Land ist der Samstag jedenfalls kein normaler Fußballtag. Sie werden am Abend nicht das Spiel im Blick behalten, sondern das Wetterradar. Die Meteorologin Jacqueline Kernn vom Deutschen Wetterdienst (DWD) rechnet mit einer »extremen Knallerlage« für weite Teile des Landes. Wo genau die schwersten Unwetter niedergehen, ist derzeit allerdings genauso unklar wie der Zeitpunkt, wann sie loslegen.

Sicher ist nur, dass es sich nicht um einzelne, lokale Unwetter handelt, sondern um einen großräumigen, organisierten Gewitterkomplex, der sich da von Frankreich her zusammenbraut. Es kracht und prasselt also verbreitet. Meteorologen bezeichnen einen Verbund von mehreren Gewitterzellen als mesoskaliges konvektives System (MCS). Ist dieses System besonders langlebig und erstreckt sich über viele hundert Kilometer, wird es Gewitterkomplex genannt (mesoskaliger konvektiver Komplex, MCC). Bedingung hierfür ist unter anderem, dass das Gewittersystem mindestens sechs Stunden anhält.

»Einen so hohen Wert ausfällbaren Wassers habe ich noch nicht gesehen«Jacqueline Kernn, Meteorologin

Meteorologin Kernn rechnet jedenfalls mit einer »Wasserbombe«. Das ausfällbare Wasser der Atmosphäre, also der potenzielle Niederschlag, liege teilweise bei 70 Litern pro Quadratmeter und Stunde. Bereits ab einer Regenmenge von 40 Litern pro Quadratmeter und Stunde handelt es sich laut Definition des DWD um ein Starkregenereignis. »Das muss natürlich nicht alles herunterkommen«, sagt Kernn, »aber es kann.« Zudem bewege sich der Gewitterkomplex nur sehr langsam. Einen so hohen Wert ausfällbaren Wassers habe sie noch nicht gesehen, sagt die erfahrene Meteorologin. Der Parameter sprenge sogar die Farbskala des Wetterdienstes. Hinzu komme die Gefahr von Großhagel und Orkanböen in dieser speziellen Unwetternacht. Ihr Fazit: Viele Ortschaften werden regelrecht absaufen, 70 Liter Regen in sehr kurzer Zeit schaffe die beste Kanalisation nicht. Auch rechnet sie mit umfallenden Bäumen, mit einem großräumigen Ausfall des Bahnverkehrs, mit Sturzfluten an kleinen Flüssen und Bächen und einer großen Gefahr für Leib und Leben. Wo Campingplätze an Fließgewässern liegen, solle man auf der Hut sein. Niemand dürfe von diesem Unwetter überrascht werden.

Ideale Gewitterzutaten

Aber warum ist die Lage so explosiv? Das liegt an den in diesem Fall idealen Gewitterzutaten. Zunächst strömt sehr heiße und auch feuchte Mittelmeerluft über die Alpen nach Mitteleuropa, verbreitet klettern die Temperaturen auf Höchstwerte von mehr als 30 Grad. Der Samstag wird sich zunächst wie ein ruhiger schöner Sommertag anfühlen; nur vereinzelt bilden sich in schwüler Luft einzelne Gewitterzellen. Gegen Abend nähert sich von Frankreich dann das Tief mit sehr feuchter und kühlerer Luft. Die Luftmassen werden dadurch nicht nur extrem gehoben, sie ändern in der Höhe auch ihre Richtung. Gerade diese Kombination aus Hebung und Scherung führt zu extremen, langlebigen Unwettern. Die feuchte Luft wird dabei wie in einem Schwamm zusammengequetscht und ausgewrungen. Kurzum: Deutschland steht vor der bislang schwersten Schwergewitterlage des Jahres.

Die Unwetternacht bringt zudem einen Wettersturz. Vom Nordatlantik fließt kühle Meeresluft ein. Die Temperaturen sacken um mehr als zehn Grad ab. Tagsüber werden am Sonntag nur noch 20 Grad erreicht, dazu ziehen immer wieder Schauer durchs Land, das wechselhafte Wetter ist zurück. Somit endet der Juni, wie er begann – nass, kühl und unsommerlich.

Geht der Sommer jetzt so wechselhaft weiter? »Das Wetter am Siebenschläfertag sieben Wochen bleiben mag«, heißt es in einer alten Bauernregel. Und diese Regel funktioniert tatsächlich ziemlich gut, wenn man sie nicht allzu penibel auf den Stichtag am 27. Juni bezieht, der wegen der Kalenderreform 1582 ohnehin verschoben werden sollte. Die Bauern hatten im Mittelalter eine interessante Beobachtung gemacht: Pendelt sich zu dieser Jahreszeit eine Wetterlage ein, neigt sie dazu, sich zu wiederholen. Sie erkannten früh, dass sich die Grundtendenz des Wetters zwischen Ende Juni und Anfang Juli im Hochsommer fortsetzt. Heute weiß man: Die Regel funktioniert im Süden Deutschlands besser als im Norden und besser bei tiefdruckgeprägten Westlagen als bei Hochdruckdominanz. Am Alpenrand liegt sie in sieben von zehn Fällen richtig, während die Eintrittswahrscheinlichkeit im Norden eher bei sechs von zehn Fällen liegt. Das ist zumindest besser, als zu würfeln.

Trotzdem bleibt die Unsicherheit. Und es wäre vermessen anzunehmen, dass nur ein paar Tage Anfang Juli über den weiteren Verlauf des Sommers entscheiden. Das persistente Muster im Hochsommer erklären sich Atmosphärenwissenschaftler mit einem bestimmten Muster der Wassertemperaturen im Nordatlantik zu dieser Jahreszeit. »Sie haben das Potential, die großskaligen atmosphärischen Wellen durch konstruktives Feedback ein Stück weit in einer bestimmten Lage zu halten«, sagt Karsten Haustein von der Universität Leipzig. Das bedeutet: Der Höhenwind – der Jetstream –, der über das Wetter in Europa entscheidet, bleibt im Hochsommer öfter an Ort und Stelle. In Hitzesommern führt er die Tiefdruckgebiete in einer großen Schleife um Mitteleuropa herum; in wechselhaften Sommern bricht er immer wieder vom Atlantik durch und bringt typisch mitteleuropäisches Westwindwetter.

»Wir sitzen in einer nicht ungewöhnlichen Hoch-über-Tief-Lage fest«Karsten Haustein, Atmosphärenforscher

In diesem Sommer ist das Wetter seinem vorherrschenden Muster treu geblieben. Eine stabile Hochdrucklage über Mitteleuropa gab es bislang nicht, dafür umso mehr Tiefdruckgebiete. »Wir sitzen in einer nicht ungewöhnlichen Hoch-über-Tief-Lage fest«, sagt Haustein. Über Skandinavien herrsche oft hoher Luftdruck, über West- und Mitteleuropa tiefer Luftdruck. Hitzeschübe aus Spanien blieben fast aus. Solche Hoch-über-Tief-Lagen sind sehr beständig, dabei bildet sich ein stabiles Höhenhoch über Nordeuropa und südlich davon ein häufig von der Westdrift abgeschnürtes Höhentief, ein so genanntes Cut-off Low.

Und was heißt das jetzt für den weiteren Verlauf des Sommers? Nach einer stabilen hochsommerlichen Hochdrucklage sieht es auch in der ersten Juliwoche nicht aus. Aber das muss kein schlechtes Omen für den nun beginnenden Hochsommer sein. Die Persistenz der Jetstreamwellen sei nur »semi-stabil«, sagt Haustein, das Wetter könne auch jederzeit wieder umschlagen. Mit einem trockenheißen Saharasommer wie vor zwei Jahren sollte man in diesem Jahr also wohl eher nicht rechnen. Die Unwetter vom Samstag dürften nicht die letzten bleiben.

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