Wissenschaftsgeschichte: Hitlers Atombombe – warum es sie nicht gab
Am Anfang eines Kriminalromans ist meist ein Mensch tot oder ein wertvoller Gegenstand weg. In diesem Fall wurde etwas gefunden, was nie da gewesen war. Aber die Geschichte von Hitlers Atombombe ist trotzdem interessant und hat gerade deshalb ein Happy End.
Eigentlich wollte ich keinen Kriminalroman schreiben, sondern die Geschichte des Forschungszentrums Karlsruhe, an dessen Spitze ich 15 Jahre gestanden habe. Im Jahr 2006 hatte ich die Fusion mit der Universität Karlsruhe eingeleitet. Inzwischen ist das neue Karlsruher Institut für Technologie (KIT) eine Einheit geworden, was wie bei der Kernfusion erhebliche Energien freisetzt. Da nur ein schwindender Teil der Mitarbeiter und kein Student die beiden Gründereinrichtungen noch getrennt erlebt hat, wollte ich die Erinnerung an die wechselvolle Geschichte des 1956 gegründeten Kernforschungszentrums wachhalten. Wie Goethe seinen "Faust" mit einem "Prolog im Himmel" einleitet, sollte sie – mit geringerem literarischem Anspruch – ein "Vorspiel in der Hölle des 'Dritten Reichs'" einleiten. Denn das Zentrum hatte 1956 dort weitergemacht, wo die deutschen Physiker des "Uranvereins" 1945 aufgehört hatten. Da dessen Arbeit gut erforscht war, erwartete ich nicht viel Aufwand. Das Ergebnis der Historiker lautete seit 25 Jahren, die deutschen Wissenschaftler hätten gewusst, wie man eine Bombe bauen kann, aber ein Programm der Größe des US-amerikanischen Manhattan-Projekts sei hier zu Lande, zumal während des Kriegs, nicht möglich gewesen.
Aber als ich zum Thema die beiden Bücher des führenden Historikers Mark Walker las, wuchs mein Eindruck der Unstimmigkeit. Walker hatte als erster Historiker die "Geheimberichte" ausgewertet, die die amerikanische Sondereinheit ALSOS mit der vorrückenden Front sichergestellt hatte. Nach 25-jähriger Geheimhaltung hatten die USA einen Satz der Dokumente an das Kernforschungszentrum Karlsruhe zurückgegeben. Walker hatte sie dort vor meiner Zeit wochenlang für seine Doktorarbeit in der Bibliothek studiert. Weitere Bücher verfestigten die Skepsis: Die Historiker Stephen T. Powers und Paul Lawrence Rose hatten einen Privatkrieg geführt. Auf der Basis des gleichen umfangreichen Quellenmaterials waren sie zu extrem unterschiedlichen Bewertungen gekommen. Bei Powers war Heisenberg ein Held des Widerstands gegen Hitler, er wusste alles und hatte die Bombe absichtlich schwieriger erscheinen lassen, als sie war. Bei Rose ist er hingegen ein unfähiger Nazi und, wie alle Deutschen, ein Opfer von Selbstbetrug.
Deshalb schlüpfte ich in die klassische Rolle des Privatdetektivs, der versuchen musste, die Indizien zu überprüfen, welche die Historiker herangezogen hatten. Um die Originaldokumente wiederzusehen, musste ich allerdings nach München fahren, denn ich hatte sie 1998 zum 60. Jahrestag der Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn dem Deutschen Museum übergeben. Sie sind zwar bereits digitalisiert, aber ich wollte sie noch einmal in den Händen halten. Denn die "Geheimberichte" sagen auch etwas durch ihr Erscheinungsbild: Sie wurden auf Schreibmaschinen mit zahlreichen Durchschlägen hergestellt. Die komplizierten mathematischen Gleichungen hatten die Autoren von Hand in die einzelnen Exemplare eingefügt. Geradezu rührend schlichte Berichte, aber doch die Boten der Arbeit an einer Höllenmaschine?
1. Beweismittel: Heisenbergs Ausarbeitung vom Dezember 1939
Das Erziehungsministerium hatte den Uranverein bereits im April initiiert, nachdem es von den Göttinger Physikern Wilhelm Hanle und Georg Joos auf die Möglichkeiten der neuen Energiequelle aufmerksam gemacht worden war. Heisenberg stieß dagegen erst im September 1939 dazu. Viel hatte der zum Koordinator bestellte Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, Abraham Esau, noch nicht unternommen, als nach dem Kriegsausbruch 1939 das Heereswaffenamt die Zuständigkeit für das "Uran-Projekt" übernahm. Es war vom Hamburger Physikochemiker Paul Harteck alarmiert worden. Die ausgewählten Wissenschaftler, neben Hanle, Joos und Hahn auch Walter Bothe und Walter Gerlach, erhielten Einberufungsbefehle, wurden dann für ihre Mitarbeit im Uran-Projekt aber vom Kriegsdienst befreit.
Die Leitung übernahm nun Kurt Diebner, der das neu geschaffene Kernenergiereferat leitete, die weltweit erste militärische Dienststelle für die Entwicklung der Kernenergie. Bei Diebners Vorgesetzten bestanden erhebliche Zweifel, ob die Ankündigungen der Wissenschaftler belastbar waren. Selbst der Abteilungsleiter für Forschung, Erich Schumann, der als Nachfahre des großen Komponisten bisher mehr durch Marschmusikkompositionen als durch physikalische Errungenschaften aufgefallen war, hielt sich bedeckt. In der ersten Besprechung am 16. September wurde gegen den Widerstand der Experimentalphysiker beschlossen, auch Heisenberg hinzuzuziehen.
Für die nächste Sitzung hatte Heisenberg seine in wenigen Wochen gereiften Einsichten über "Die Möglichkeit der technischen Energiegewinnung aus der Uranspaltung" vorgelegt. Er hatte sich auf den Reaktor konzentriert und wesentliche Grundsätze richtig erkannt – mit einer Ausnahme: Er war zu der falschen Überzeugung gelangt, dass sich ein Reaktor in Abhängigkeit vom Grad der Anreicherung des seltenen Uranisotops U-235 selbst bei einer bestimmten Temperatur stabilisieren würde. Im Vertrauen darauf verfügten die deutschen Reaktorexperimente nicht über Steuerstäbe. Zum Glück für die Beteiligten blieben sie erfolglos. In der Zusammenfassung seines Berichts hatte er in die Beschreibung des Reaktors den Hinweis eingefügt, die Anreicherung des U-235 sei auch ein Weg, zu einem Sprengstoff zu kommen, der die Explosivkraft konventioneller Bomben "um mehrere Zehnerpotenzen" übertreffen werde.
Warum hat Heisenberg von sich aus über die Atombombe gesprochen? Verschweigen konnte er sie nicht, längst hatten andere Wissenschaftler auf diese Möglichkeit hingewiesen. Heisenberg hatte zuvor grob abgeschätzt, wie groß eine solche Bombe mindestens sein müsste – man kannte damals noch keine genauen Kerndaten –, und darüber in seiner Autobiografie berichtet. Da Neutronen jedes Material zu durchdringen vermögen, kann eine Kettenreaktion nur zu Stande kommen, wenn die Masse des U-235 mindestens so groß ist, dass nicht zu viele Neutronen durch die Oberfläche verloren gehen und genügend viele in ihr weitere Spaltungen auslösen können. Diese "kritische Masse" musste auf jeden Fall mindestens im Kilogramm-Maßstab liegen. Da es damals außer der unzureichenden Massenspektrometrie noch keine Technik für die Trennung der chemisch gleichen Isotope gab, wäre für die Herstellung von reinem U-235 "ein ganz enormer technischer Aufwand nötig".
In absehbarer Zeit werde es also weder in den USA, England noch "bei uns" Atomwaffen geben, so der Physiker. Das war die Geburtsstunde von Heisenbergs Dogma von der Unerreichbarkeit der Atombombe. Es eröffnete die Möglichkeit, ausgerechnet die Atombombe zu nutzen wie die Wurst beim Hunderennen: Sie weckte den Appetit der Regierung, blieb aber prinzipiell unerreichbar.
Walker und andere Historiker haben Heisenbergs Einschub über die Bombe als Beweis gewertet, dass man in Deutschland das Prinzip der Bombe früh verstanden hatte. Als gewissenhafter Detektiv las ich aber auch die ausführlichere Beschreibung der Explosion. Sie trete bei hoher Anreicherung von U-235 mit Neutronen von 300 Elektronvolt (eV) ein, wobei die Temperatur "mit einem Schlage auf 1012 Grad steigen" und die "ganze Strahlungsenergie aller verfügbaren Uranatome auf ein Mal frei" werde. Das aber ist ein explodierender Reaktor, denn mit solchen Neutronen, die nur wenig schneller als thermische sind, kann man keine Atomexplosion realisieren. Da die ganze Bombe oberhalb von 3000 Kelvin gasförmig wird und expandiert, führt dies eigentlich sofort zum Abbruch der Kettenreaktion. Eine sehr viel höhere Temperatur (1012 Grad schon gar nicht) kann daher nur durch einen Prozess erreicht werden, der um Größenordnungen schneller abläuft.
Bei Heisenbergs "Reaktor-Bombe" würden die konkurrierenden Prozesse der Aufheizung und der Expansion ähnlich erfolgreich verlaufen wie ein Überholmanöver von Lastkraftwagen auf der Autobahn. Dieses Faktum hatte Walker übersehen. Heisenbergs Bericht ist eindrucksvoll angesichts der vielen früh erkannten Prinzipien des Reaktors, aber auch durchaus geeignet, um die Vorbehalte der Experimentalphysiker gegen seine Mitwirkung zu rechtfertigen.
Die Ankündigungen weckten nur geringen Appetit, da das Heereswaffenamt keine Waffe entwickeln wollte, die erst nach dem baldigen Endsieg verfügbar wäre. Aber es beschloss eine bescheidene Förderung des Uran-Projekts, das im Durchschnitt etwa eine Million Reichsmark pro Jahr kosten sollte. Die Zahl der Wissenschaftler im Uranverein lag stets unter 100. Sie waren zufrieden, hatten sie doch seit einem Vierteljahrhundert kaum noch Forschungsmittel erhalten; endlich konnten sie in ihrem gewohnten akademischen Stil weiterarbeiten. Auch die Zentralisierung in dem von der Regierung beschlagnahmten Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin lehnten die Forscher ab. In kleinen Gruppen arbeiteten sie in Berlin, Hamburg, Leipzig, Heidelberg, Göttingen, München und Wien an mehreren verschiedenen Reaktorexperimenten, entwickelten noch mehr unterschiedliche Anreicherungsverfahren und bestimmten Kerndaten.
Dass der Fortschritt bei diesem Arbeitsstil nur schneckenhaft sein konnte, war ihnen bewusst, aber sie trauten sich nicht, mehr zu fordern. Selbst Abraham Esau hatte sie davor gewarnt, zu viel über die Bombe zu reden, wenn sie nicht die nächsten Jahre hinter Stacheldraht verbringen und im Fall eines ja durchaus möglichen Misserfolgs mit höchst unangenehmen Konsequenzen rechnen wollten. Diesen bewussten Verzicht auf Großforschung hat Heisenberg zum Schutz seines Dogmas der Unerreichbarkeit der Atombombe zu einem Prinzip guter Forschung verklärt. Es wirkte noch jahrzehntelang in der Bundesrepublik nach, obwohl seine eigene Forschung während des Kriegs – er interessierte sich nicht für Maschinen (Reaktoren und Bombe eingeschlossen), sondern für die Theorie der Elementarteilchen – zu den riesigen Forschungseinrichtungen mit viele Kilometer langen Beschleunigern führte. Doch das Dogma war ein schwacher Schutz: Ein Großprogramm hätte jederzeit angeordnet werden können, nicht zuletzt ausgelöst durch den geringsten Erfolg ihrer Arbeit.
2. Beweismittel: Das einzige Dokument über Uran als Sprengstoff
Paul O. Müller, einer von Heisenbergs Doktoranden, hatte im Frühjahr 1940 genauere Berechnungen zu Heisenbergs "Bombe" durchgeführt. Zu meiner Erleichterung hatte auch er nicht verstanden, warum Heisenberg ausgerechnet Neutronen mit 300 eV beschrieben hatte; er rechnete mit noch langsameren mit 25 eV für den Neutroneneinfang im häufigen U-238. Seine Ergebnisse sind bemerkenswert: Als Untergrenze für die Anreicherung des seltenen U-235 erhielt er 70 Prozent – ein schönes Beispiel dafür, dass man auch mit falschen Berechnungen richtige Resultate erzielen kann. Außerdem brauche man sehr große Mengen eines geeigneten Moderators zum Abbremsen der schnellen Spaltneutronen mit einer Geschwindigkeit von zwei Megaelektronvolt auf ebenjene 25 eV. Ein Moderator aber ist Gift für eine Atombombe, in ihr müssen die Neutronen so schnell wie möglich sein. Müllers Ausarbeitung zeigt noch deutlicher als Heisenbergs Bericht das völlig falsche Verständnis des Prinzips der Bombe. Walker hat Müllers Bericht erwähnt, aber nicht berücksichtigt und damit die falsche "Reaktor-Bombe" geflissentlich übersehen. Müller wurde unmittelbar nach der Promotion zum Kriegsdienst eingezogen und fiel bald darauf in Russland.
3. Beweismittel: Patentschriften für Reaktor und Bombe
Anfang 1940 hatte Heisenbergs Mitarbeiter Karl Wirtz für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft einen umfassenden Patentanspruch über die Kernenergie eingereicht. Auf eine Rückfrage des Patentamtes beschreibt er in einem Brief als konkretes Beispiel eine Platte aus U-235 von wenigen Millimeter Dicke und einer Fläche von einem Quadratmeter, beiderseits bedeckt von einem Moderator, Paraffin oder Wasser, die entweder eine dauernde ungeheure Heizleistung abgeben oder ihre Energie explosionsartig mit einer allen bisher bekannten Sprengstoffen millionenfach überlegenen Gewalt frei geben könne. Reaktor und Bombe stellten sich die deutschen Physiker sogar in ihrem Aufbau identisch vor.
Bald darauf hatte Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker den Patentantrag ergänzt. Er hatte herausgefunden, dass beim Betrieb des Reaktors aus dem häufigen Uranisotop U-238 ein neues Element mit der Ordnungszahl 94 entstehen sollte, das später den Namen Plutonium (Pu-239) erhielt. Die Theorie der Kernstruktur legte nahe, dass dieses "Element 94" ein besserer Spaltstoff für Reaktor und Bombe als U-235 sei. Vor allem aber entstand dieser Stoff als Nebenprodukt der Energiefreisetzung im Reaktor und musste nicht mit extrem aufwändigen Trennverfahren hergestellt werden wie U-235.
Diese Entdeckung hatte Heisenbergs Dogma von der Unerreichbarkeit der Atombombe vorübergehend ins Wanken gebracht. Aber dann war schnell klar geworden, dass man erst mit einem Reaktor in Kraftwerksgröße "Element 94" in ausreichenden Mengen erzeugen könnte, also in ferner Zukunft, denn die deutschen Physiker stümperten noch immer erfolglos an dem Versuch herum, eine Kettenreaktion auch nur zu demonstrieren.
Walker kannte diese Briefe nicht; sie waren von russischen Soldaten gefunden und lange unerreichbar in Moskau verwahrt worden.
4. Beweismittel: Gerlachs später Brief
Der letzte der drei Koordinatoren, der Münchner Physiker Walter Gerlach, musste sich Ende 1944 gegen den Vorwurf eines Ingenieurs der SS wehren, die deutschen Physiker täten nicht genug, um kleine nukleare Sprengköpfe für Raketen zu entwickeln. Er antwortete, dass "die stürmische Vermehrung" von Neutronen leider nur im Maßstab von einigen Tonnen Spaltstoff und Moderator zu erreichen sei. Diesen Brief hatte der wissenschaftliche Leiter von ALSOS, der holländische Physiker und Schüler Heisenbergs Samuel Goudsmit, in seinem Buch über die ALSOS-Mission 1946 sogar als Faksimile veröffentlicht. Er sah darin den Beweis, dass die Deutschen im Krieg tatsächlich nur am Reaktor und nicht an der Bombe arbeiteten – aber nur deshalb, weil sie den Unterschied nicht verstanden hätten.
Walker hat dieser Einschätzung heftig widersprochen und behauptet, Gerlach habe nicht von der Bombe, sondern von Reaktorexperimenten geschrieben. Dabei ging es ganz eindeutig um die Bombe. Außerdem wäre nach der "stürmischen Vermehrung" der Neutronen von einem Reaktorexperiment nicht mehr viel übrig. Wie konnte Walker gegen alle diese Beweismittel seine Interpretation aufrechterhalten? Er war überzeugt, den entscheidenden Beweis dafür gefunden zu haben.
5. und entscheidendes Beweismittel: Der Bericht des Heereswaffenamts
Als der Blitzkrieg Ende 1941 stockte, musste das Heereswaffenamt neue Prioritäten setzen. Zur Vorbereitung einer großen Konferenz im Februar 1942 hatte Diebner mit seinen Mitarbeitern einen Bericht verfasst, in dem auf 136 Seiten alle Ergebnisse des Uranvereins zusammengestellt wurden, belegt durch 139 Geheimberichte, die im Anhang aufgelistet waren. Dieses einzigartige Dokument, das amtlich und vollständig den Stand der Arbeiten beschreibt, war lange verschollen gewesen. Walker hatte es bei einem Besuch bei Bagge in Kiel entdeckt und – wieder nur in der Zusammenfassung – den "Beweis" für das richtige Verständnis der Bombe gefunden. Dort steht tatsächlich, dass "es zur Entzündung des Sprengstoffs genügen" würde, "eine hinreichende Menge (vermutlich etwa 10 bis 100 Kilogramm) räumlich zu vereinigen".
Das war eine Sensation, denn im Manhattan-Projekt hatte man zu diesem Zeitpunkt die kritische Masse ganz ähnlich mit 2 bis 100 Kilogramm eingegrenzt. Da der Bericht so schwer zu erreichen war, haben alle folgenden Historiker Walkers Interpretation akzeptiert, nach der die deutschen Wissenschaftler bezüglich der Kenntnisse über die Bombe mit den Alliierten Anfang 1942 gleichauf waren. Nur Rose hatte die Reise nach Kiel nicht gescheut, doch seine skeptischere Interpretation hatte niemand ernst genommen, weil er ja auf der Suche nach dem Versagen der deutschen Physiker war.
Aber konnte das denn stimmen? Hatten die deutschen Physiker überhaupt die Möglichkeit gehabt, die kritische Masse einer Bombe mit schnellen Neutronen zu berechnen? Dafür muss man die "freie Weglänge" ermitteln, die ein Spaltneutron bis zur nächsten Spaltung zurücklegt. Sie wird bestimmt durch die Wirkungsquerschnitte für Spaltung und Streuung. Diese Vorgänge kann man mit der Diffusionsgleichung aus der Thermodynamik von Gasen beschreiben, allerdings nur, wenn die Streuung der Neutronen elastisch, also ohne Energieverlust erfolgt und isotrop ist. Beides ist nicht der Fall. Dass die Streuung überwiegend unelastisch ist, wussten die deutsche Physiker noch nicht, wohl aber hatten sie schon herausgefunden, dass die Vorwärtsstreuung überwiegt: Die Neutronen behalten also ihre Richtung weitgehend bei.
Durch die unelastische Streuung wird die Gleichung nichtlinear, da mit dem Energieverlust eine Zunahme des Wirkungsquerschnitts für die Spaltung verbunden ist. Alle diese Faktoren führen dazu, dass das Ergebnis mit großen Unsicherheiten belastet ist, was die weite Spanne von 2 bis 100 Kilogramm in den USA erklärt. Dort dauerte es drei Jahre, bis die verschiedenen konkurrierenden Gruppen sich mit der Berechnung der notwendigen Korrekturen auf den Wert von etwa 57 Kilogramm geeinigt hatten, der für eine U-235-Kugel zutrifft. Heute kann man die kritische Masse für jede Geometrie numerisch mit Computern berechnen, jedenfalls wenn man die (geheimen) Rechenkodes kennt. Damals war den Alliierten in Los Alamos nichts anderes übrig geblieben, als die kritische Masse experimentell zu ermitteln. Ein Wissenschaftler schob dafür zwei unterkritische Massen auf Schienen mit einem Schraubenzieher aufeinander zu und überwachte die Neutronendichte; dabei kam es zu den beiden ersten Todesfällen durch die Kernkraft. Unter den Geheimberichten findet sich nicht der geringste Hinweis, dass man sich bemüht hätte, die kritische Masse zu bestimmen.
Das hätte auch keinen Sinn gehabt, weil die deutschen Wissenschaftler die notwendigen Kerndaten nicht kannten. Wieder muss der Detektiv genauer hinschauen, jedenfalls genauer als Walker, der in seine Beschreibung des Berichts mit den Worten "Dem aufmerksamen Leser …" einleitet. Man sieht sofort, dass auch in diesem Bericht die Bombe ein Sonderfall des Reaktors ist. Ihre Beschreibung folgt Heisenbergs Bericht vom Dezember 1939 bis zu den 1012 Kelvin und Müllers Ausarbeitung bis zu der Forderung nach großen Mengen eines Moderators. Und der Anhang zeigt, dass nur diese beiden Berichte die Grundlagen der Aussagen des Heereswaffenamtes waren.
6. Beweismittel: Heisenbergs Zeichnung von 1942/43
In der Konferenz 1942, für die das Heereswaffenamt seinen Bericht vorgelegt hatte, hielt wieder Heisenberg den Übersichtsvortrag – auch diesmal fehlte der kurze Einschub über die Möglichkeit der Bombe nicht. Neu war nur eine Zeichnung, eine schematische Darstellung der Vorgänge in Reaktor und Bombe. Und bei der Bombe sucht man vergeblich nach dem beim Reaktor dargestellten Moderator.
Walker glaubt, "reichliche Beweise" gefunden zu haben, dass Heisenberg das richtige Prinzip der Bombe mit schnellen Neutronen kannte. Aber es gibt nur den einen mit Heisenbergs Schemazeichnung, denn der Text des Vortrags kann sich immer noch auf eine "Reaktor-Bombe" beziehen. Kein überliefertes Wort Heisenbergs während des Kriegs bezeugt seine Einsicht. Wie Gerlachs später Brief zeigt, ist sie den Kollegen im Uranverein entgangen. Nachher allerdings wird Heisenberg, etwa in seiner Autobiografie, vorgeben, er habe immer gewusst, dass eine Bombe nur mit schnellen Neutronen realisiert werden könne. Den Fehler der Reaktor-Bombe hat er nie zugegeben. Wahrscheinlich war er erschrocken, als er feststellte, dass sein Appetithappen für den Staat wertlos gewesen war, und erleichtert – oder noch mehr erschrocken –, als er die richtige Lösung für die Bombe fand.
Hat er die Abbildung als Beleg für seine später postulierte richtige Sicht der Bombe in seinem Vortrag lediglich mit dem Manuskript beim Heereswaffenamt hinterlegt? Jedenfalls war Heisenberg, anders als Walker meint, mit seiner neuen Erkenntnis nicht am Ziel: Er war erst an der Startlinie angekommen, die in den USA bereits Anfang 1940 erreicht worden war. Um das Ziel zu erreichen, haben dort Tausende von Wissenschaftlern viele Jahre hart arbeiten müssen.
Zugegeben: Das Ergebnis meiner Ermittlungen war nicht übermäßig überzeugend. So viele gute Physiker hatten immer wieder von der Bombe gehört oder darüber geredet, aber mehr als fünf Jahre nicht einmal ein paar Stunden über ihre Thermodynamik nachgedacht. Denn länger sollte es nicht dauern, den Fehler der "Reaktor-Bombe" zu entdecken. Und Heisenberg hatte öffentlich einen Bildbeweis seiner richtigen Vorstellung vom Prinzip der Bombe hinterlassen, jedoch dazu geschwiegen. Würde das die Historiker überzeugen? Glücklicherweise aber gibt es eine in der ganzen Geschichtsschreibung einzigartige Möglichkeit, diesen Befund zu prüfen.
7. Beweismittel: Die Farm-Hall-Protokolle
Als die Nachricht vom Abwurf der Atombombe auf Hiroschima am 6. August 1945 um die Welt ging, waren die wichtigsten Mitglieder des Uranvereins gemeinsam auf dem englischen Landsitz Farm Hall interniert. Ihre Unterhaltungen wurden abgehört. Die teils wörtlichen, teils zusammenfassenden Protokolle wurden 1992 veröffentlicht. Wann konnten je die handelnden Personen der Geschichte einen alles verändernden Augenblick gemeinsam erleben, auch verarbeiten, und dabei belauscht werden? So können wir heute noch Zeuge sein, wie sie auf die Hiroschima-Bombe reagierten.
Hahn ist erschüttert und trägt sich mit Suizidgedanken. Die anderen können oder wollen die Nachricht nicht glauben – sie wähnen sich immer noch weltweit führend in der Kernphysik. In den folgenden Tagen versuchen sie zu verstehen, wie die Bombe funktioniert haben muss. Auf Hahns Frage bekennt Heisenberg, dass er nie versucht habe, die kritische Masse zu berechnen, und beginnt, das Versäumte nachzuholen. Aber das kollektive Rätselraten über die dafür benötigten Wirkungsquerschnitte von U-235 für schnelle Neutronen, das mehrere Seiten im Protokoll füllt, belegt, dass sie tatsächlich unbekannt waren. Beim ersten Rechenversuch mit (ganz gut) geschätzten Werten landet Heisenberg bei einer Masse von einer Tonne U-235 – aber nur, weil er sich bei der Bestimmung der Masse einer Kugel aus dem ermittelten Radius verrechnet hatte: eigentlich ein Anfängerfehler, denn sein Resultat hätte 13 Tonnen lauten müssen. Alle Physiker, die diese Passage gelesen haben, darunter Edward Teller, der als "Vater der Wasserstoffbombe" gilt, waren überzeugt, dass keinem Wissenschaftler solche Fehler ein zweites Mal unterlaufen könnten. Heisenberg hatte wirklich noch nie versucht, die kritische Masse zu berechnen.
Eine Woche danach hält Heisenberg einen Seminarvortrag über die Physik der Bombe, ohne Bücher oder Aufzeichnungen nutzen zu können. Er hatte das Prinzip nun richtig verstanden und auch das Problem der Thermodynamik zumindest qualitativ erkannt. Die Anmerkungen und Fragen der anderen Internierten bewegen sich auf einem blamablen Niveau. Sie alle haben tatsächlich keine Ahnung von der Physik der Bombe. Die Bewertung von Heisenbergs Vortrag könnte unterschiedlicher nicht sein. Er selbst war zufrieden: "Die Physik der Bombe ist eigentlich einfach; sie ist ein industrielles Problem." Walker wertete ihn als "überraschend genaue Spekulation darüber, wie die alliierte Bombe funktionierte". Aber der amerikanische Physiker Jeremy Bernstein widersprach: "Heisenbergs Vortrag, der den Höchstwasserstand des deutschen Verständnisses von Kernwaffen repräsentiert, zeigt, dass die Deutschen am Ende davon sehr wenig verstanden."
Hier wird eine grundlegende Diskrepanz zwischen den Bewertungen der Physiker und der Historiker deutlich. Die Historiker scheinen überzeugt, dass die Kenntnis der kritischen Masse der entscheidende Schlüssel zur Bombe ist. Aber zu wissen, wie hoch die Latte liegt, befähigt nicht, darüberzuspringen. Wenn sie Recht hätten, trüge jetzt jeder Selbstmordattentäter eine Atombombe am Gürtel; die kritische Masse könnten sie dem Internet entnehmen. Tatsächlich ist sowohl das Verständnis der Physik einer Atombombe wie auch ihre technische Realisierung – zum Glück – eine komplexe und aufwändige Angelegenheit, selbst im 21. Jahrhundert auch noch für Staaten: Die erste Atomwaffe Nordkoreas erreichte nur fünf Prozent der Sprengkraft der Hiroschima-Bombe.
Die Farm-Hall-Protokolle haben meine Zweifel zerstreut. Mein merkwürdiges Ermittlungsergebnis wurde in allen Punkten bestätigt.
Die Frage nach dem Motiv
Warum hat Walker, der sich mit seinen umfänglichen und differenzierten Arbeiten über die Wissenschaft im Nationalsozialismus großes Ansehen erwarb, "systematisch Beweise fehlgedeutet, die seiner Interpretation zuwiderliefen" – um seine eigene, auf den Historiker Thomas Powers gemünzte Formulierung zu zitieren? Auf der Suche nach seinem Motiv fällt auf, dass ein halbes Jahrhundert lang fast nur Historiker aus den USA oder Großbritannien über das deutsche Uranprojekt geschrieben haben. Suchten sie nach den Gründen, warum das vermeintliche Wettrennen um die Atombombe nicht stattgefunden hatte? Für die Länder, die die Waffe entwickelt und eingesetzt hatten, wäre es am bequemsten gewesen, wenn "Hitlers Bombe" bei der Kapitulation Deutschlands kurz vor der Vollendung gestanden hätte. Dann hätte sich die Frage nach der Rechtfertigung ihres Tuns nicht gestellt. Walker hatte die zweitbeste Lösung angeboten: Die deutschen Wissenschaftler hätten alles gewusst, um die Bombe bauen zu können, nur die ökonomischen Engpässe des Krieg führenden Deutschland hätten es verhindert.
Die Suche nach den Motiven der deutschen Wissenschaftler ist schwieriger. Sie ist belastet durch eine historische Kontroverse: Robert Jungk hatte in seinem Buch "Heller als tausend Sonnen" 1956 behauptet, die deutschen Wissenschaftler hätten Hitler die Bombe aus moralischen Gründen verweigert, sich später aber korrigiert. Die Mitglieder des Uranvereins selbst hatten dies – mit Ausnahme Carl Friedrich von Weizsäckers – nie behauptet. Vielmehr hatten sie sich in Farm Hall zur Darstellung verabredet, sie hätten durchaus gewusst, wie eine Bombe gebaut werden muss, die Umstände hätten dies aber in Deutschland während des Kriegs verhindert. Sie haben also Walker scheinbar Recht gegeben. Auch für sie war das die bequemste Lösung: Die moralische Frage hatte sich nicht gestellt, und sie mussten nicht fürchten, im Nachkriegsdeutschland als Vaterlandsverräter beschimpft zu werden.
Man darf nicht vergessen, dass es 40 Jahre dauerte, bis ein Bundespräsident die Kapitulation auch als Tag der Befreiung Deutschlands bezeichnen konnte. Das Motiv für ihre Bescheidenheit haben wir schon erfahren; es war die Angst vor einem Erfolg, der sie der Freiheit beraubt hätte, erst recht vor möglichen Konsequenzen eines Misserfolgs. Warum haben sie nie ernsthaft über die Atombombe nachgedacht? Rational ist das leicht nachzuvollziehen: Die Bombe erschien stets so fern, dass diese Zeit verschwendet gewesen wäre. Aber warum haben sie nie aus Neugier versucht zu verstehen, wie die von ihnen so oft heraufbeschworene Höllenmaschine funktioniert, welche unvorstellbaren Zustände von Materie und Energie in ihrem Inneren herrschen und wie man sie erzeugen kann? Was hat ihre Neugier, ihren stärksten Antrieb zu forschen, gezügelt? Es ist das gleiche Motiv: Sie wollten kein großes Waffenprogramm. Und man kann einem totalitären Regime nur verschweigen, was man nicht weiß.
Die Geschichtsschreibung hatte seit mehr als 25 Jahren letztlich die Darstellung übernommen, die die deutschen Wissenschaftler in Farm Hall verabredet hatten. Niemand hatte ein Interesse gehabt, die für alle bequeme Lösung in Frage zu stellen. Aber sie stimmt nicht.
Nun sind die Historiker gefordert, auf meine Entkräftung ihrer Beweise zu reagieren und ihr bisheriges Urteil zu revidieren. Künftig sollte in den Geschichtsbüchern stehen: "Die deutschen Wissenschaftler haben während des Zweiten Weltkriegs nicht an einer realistischen Atombombe gearbeitet und wussten nicht, wie sie gebaut werden kann." Einem zu erwartenden Gegenargument will ich schon jetzt widersprechen: Die Arbeit am Reaktor habe ja auch der Bombe gedient. Richtig ist, dass ein Reaktor, jedenfalls für die Plutoniumbombe, eine notwendige Voraussetzung ist – aber er ist keine hinreichende: Ohne eine Theorie über Funktionsweise und Aufbau der Bombe, ohne Kenntnisse über die Eigenschaften von Plutonium, ohne die Fähigkeit zum Bau eines Reaktors in Kraftwerksgröße und ohne Vorarbeiten zur Abtrennung des Plutoniums von den hoch radioaktiven Spaltprodukten wäre ein Reaktor eine zivile Maschine – abgesehen von der Möglichkeit zum Antrieb von Kriegsschiffen. Und an keiner dieser Voraussetzungen für den Bau einer Bombe ist in Deutschland gearbeitet worden.
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