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Infektionskrankheiten: Kehrt die Tuberkulose zurück?

Die Zahl der Tuberkulosefälle in Deutschland hat ein neues Zwischenhoch erreicht – viele Flüchtlinge sind infiziert. Das ist Thema des Welttuberkulosetags 2016.
Tuberkulosebakterien

70 Zuhörer haben sich an diesem 24. März in einem kleinen Raum der Universität eingefunden. Der Vortragende hat Anschauungsmaterial mitgebracht. Bakterienkulturen, Präparate und ein Mikroskop belegen das Gesagte eindrucksvoll. Diese dünnen, stäbchenförmigen Bazillen sind also die Verursacher der Schwindsucht. Unscheinbar, aber gefährlich – die Keime kosten noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jeden fünften Menschen das Leben. Der Vortrag von Robert Koch vor der Berliner Physiologischen Gesellschaft wird Geschichte machen. Zur Erinnerung an das Ereignis vor 134 Jahren erklärte die WHO den 24. März zum Welttuberkulosetag. Das Bewusstsein für diese weltweit immer noch häufigste zum Tod führende behandelbare Krankheit soll wach gehalten werden.

In diesem Jahr steht der Gedenktag unter einem Motto, das dem aktuellen Geschehen geschuldet ist: Tuberkulose und Migration. "Breitet sich die Tuberkulose in Deutschland wegen der Flüchtlinge wieder aus, die die Krankheit womöglich im Gepäck nach Europa einschleppen?", lautet eine immer wieder gestellte Frage. Roland Diel, Redner auf der vom Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK) veranstalteten Tagung jetzt im März zum Thema, gibt Entwarnung: "Wir werden durch die Ereignisse nicht mit Tuberkulose überschwemmt", sagt der Mediziner vom Institut für Epidemiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel. Relativ gesehen gäbe es unter den Flüchtlingen wenig Tuberkulose. "Wir bekommen zwar mehr Tb-Fälle, aber der Anstieg kommt durch die Masse der Flüchtlinge zu Stande", sagt Diel.

"In Deutschland waren die Fallzahlen über viele Jahre rückläufig, in den letzten Jahren deutete sich ein Ende des Abwärtstrends an, und nun ist ein Ansteigen der Fallzahlen zu beobachten", schreibt das Robert Koch-Institut in seinem Bericht zur Epidemiologie der Tuberkulose in Deutschland für 2014. In Zahlen ausgedrückt sind das 4488 registrierte Tuberkulosen im Jahr 2014, gegenüber 4319 beziehungsweise 4210 in den beiden Jahren zuvor. Der Anstieg der Fallzahlen begann genau genommen 2013, der Abwärtstrend war also schon vor den großen Flüchtlingsströmen beendet.

Sprunghafter Anstieg

Für das Jahr 2015 liegen bisher nur inoffizielle Zahlen vor. Sie werden laut Roland Diel noch einmal um 1400 Fälle höher liegen als 2014. Keine Frage, hieran haben die Flüchtlinge einen großen Anteil. 2014 waren mehr als die Hälfte aller Tuberkulosepatienten (62,4 Prozent) im Ausland geboren. "Die Häufigkeit der Neuerkrankungen, also die Inzidenz der Tuberkulose aus den Heimatländern, wird mit den Flüchtlingen importiert", erklärt Diel. Und die liegt bei fast allen höher als in Deutschland: in Syrien zum Beispiel bei mehr als 17 Neuerkrankungen pro 100 000 Einwohner gegenüber gegenwärtig 6,2 hier zu Lande. Viele der Geflohenen sind junge Männer, eine Bevölkerungsgruppe, die auch daheim besonders von Tuberkulose betroffen ist. Der körperliche und psychische Stress sowie die Möglichkeit, auf der langen Reise an verschiedenen Orten immer wieder mit Tuberkulosebakterien in Kontakt gekommen zu sein, erhöhen die Häufigkeit der Erkrankung bei den Flüchtlingen.

Infizierte Lunge | Tbc-Infektionen lassen sich unter anderem als Schatten auf der Lunge erkennen.

Dennoch seien die aktuellen Zahlen nichts im Vergleich zur Situation Anfang der 1990er Jahre, sagt Diel. "1992/93 hatten wir mit der Flüchtlingswelle bis zu 14 000 Tb-Fälle. Selbst wenn jetzt noch einige dazukommen, liegen wir weit unter den Verhältnissen von damals", so der Mediziner. Den Unterschied zur Situation vor 25 Jahren erklärt Diel mit dem ausgesprochen schlechten Gesundheitszustand (und der Anfälligkeit) der damaligen Flüchtlinge, die zum Beispiel wegen der Jugoslawienkriege in Deutschland Zuflucht suchten, und mit der – unabhängig hiervon – damals noch erheblich höheren Erkrankungshäufigkeit bei den in Deutschland Geborenen.

Studien aus der Vergangenheit zeigen, dass die Weitergabe der Tuberkulosebakterien, wenn sie denn stattfindet, hauptsächlich innerhalb der Migrantengemeinschaft geschieht und nur selten zwischen den Einwanderern und den Einheimischen. Die Tuberkulose wird über das Einatmen erregerhaltiger Tröpfchen übertragen, ist aber keinesfalls so ansteckend wie die Grippe oder die Windpocken. Eine Weitergabe wird umso wahrscheinlicher, je länger und ausgedehnter der Kontakt ist. Menschen atmen den Erreger ein, doch nur fünf bis zehn Prozent erkranken im Lauf ihres Lebens dann auch an der Tuberkulose. Bei den restlichen verbleiben die Bakterien latent im Körper. Laut WHO ist rund ein Drittel der Weltbevölkerung mit Tuberkulosebakterien infiziert. Die Erreger können jedoch stets, etwa wenn das Immunsystem geschwächt ist, aktiv werden, sich vermehren und damit in eine ansteckende Tuberkulose umwandeln.

Roland Diel hat gerade eine Untersuchung abgeschlossen, die sich damit beschäftigt, wie stark die Mitarbeiter im Gesundheitswesen, als häufig erste Kontaktpersonen für Flüchtlinge, gefährdet sind, sich anzustecken. Zusammen mit Kollegen vom Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose kalkulierte er in einem statistischen Modell, mit wie vielen Tb-Fällen in den nächsten fünf Jahren zu rechnen sei. Die Lage ist unsicher, daher wurden verschiedene Szenarien entworfen.

Höheres Risiko für medizinisches Personal

Falls sich der Einstrom der Asylbewerber in der nächsten Zeit nicht ändert, ist in einem Modell über die kommenden fünf Jahre mit 19 031 Tuberkulosefällen zu rechnen: 377 davon würden durch multiresistente Bakterien hervorgerufen werden, 87 medizinisch tätige Kontaktpersonen hätten sich angesteckt, drei davon mit einem multiresistenten Keim. Vorausgesetzt, die Anzahl der Flüchtlinge geht zurück und halbiert sich mit jedem folgenden Jahr bis zum Niveau von 2014 mit 173 072 Asylanträgen, dann rechnet der Kieler Forscher mit zusätzlichen 10 090 Tb-Fällen bis zum Ende des fünften Jahres.

Die Tuberkulose ist eine meldepflichtige Erkrankung. Bevor Flüchtlinge in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht werden können, müssen laut dem Infektionsschutzgesetz ansteckende Krankheiten ausgeschlossen werden. Eine aktive, ansteckende Tuberkulose kann mit Hilfe einer Röntgenaufnahme der Lunge entdeckt werden. Und so schleust beispielsweise das Gesundheitsamt Hamburg-Mitte tagtäglich 100 bis 200 über 15-jährige Flüchtlinge durch ihre Röntgenabteilung. "Wenn etwas auffällig ist, versuchen die dortigen Ärztinnen, die Betroffenen in einem Krankenhaus unterzubringen und mit weiteren Untersuchungen eine Tuberkulose zu bestätigen oder auszuschließen", erklärt Roland Diel. Dabei wird zum Beispiel geprüft, ob im Hustenauswurf Tuberkelbakterien zu finden sind.

Falls ja, schließt sich eine Behandlung an, die mindestens sechs Monate dauern muss. In den ersten zwei Monaten müssen die Patienten vier verschiedene Antibiotika einnehmen, danach noch zwei Präparate. Die Kombinationstherapie verhindert, dass sich resistente Bakterien durchsetzen. Die lange Behandlungszeit ist nötig, weil die Mykobakterien, die sich sehr langsam vermehren, nur auf diese Weise sicher abgetötet werden können. Der Kranke fühlt sich schnell besser, dennoch müssen die Antibiotika lange eingenommen werden. "Gut" geht es, wenn der Patient kooperiert: "Wir müssen viel mit den Leuten reden und diese motivieren durchzuhalten, was bei der Sprachbarriere häufig gar nicht so einfach ist", erläutert Diel.

Der Fluch der multiresistenten Keime

Komplizierter und wesentlich langwieriger wird es, wenn Tuberkulosebakterien im Spiel sind, denen die klassisch eingesetzten Antibiotika nichts mehr anhaben können. Im Unterschied zur Flüchtlingswelle Anfang der 1990er Jahre und dem Anstieg der Tuberkulosefälle in Deutschland damals hat sich der Anteil der Infektionen mit multiresistenten Erregern bei den Einwanderern heute erhöht. In Deutschland seien es immer noch wenig Fälle, um die 100 im Jahr, sagt Stefan Niemann von der Forschungsgruppe Molekulare und Experimentelle Mykobakteriologie am Forschungszentrum Borstel. "Mit den Migranten steigen jetzt die Tb-Fallzahlen in Deutschland. Das ist aber kontrollierbar, und auch die Behandlung multiresistenter Erreger ist hier möglich."

Einige resistente Erregerstämme breiten sich in manchen Ländern, zum Beispiel in Osteuropa, massiv aus. Dort hat man es nicht mit 100, sondern teilweise mit 10 000 Erkrankungsfällen im Jahr zu tun. Viele der widerstandsfähigen Varianten sind dort in den 1990er Jahren zeitgleich mit dem Ende der UdSSR aufgetaucht. Bei der Behandlung einer Infektion mit multiresistenten Erregern können Kosten von über 100 000 Euro pro Patient entstehen. "Für viele Länder ist das kaum zu leisten", beklagt Niemann.

Bei uns gäbe es noch keine Epidemie mit resistenten Tuberkelbakterien, stellt Niemann fest. Aber andere Länder litten unter der massiven Belastung mit diesen Keimen. Daher müsse man sich unbedingt auf die multiresistenten Stämme konzentrieren und deren Ausbreitung eindämmen. "Die neue Form der Tuberkulose wird die der multiresistenten Tuberkulose sein", sagt Niemann. Lange Zeit habe man angenommen, die resistenten Stämme könnten nicht von Mensch zu Mensch weitergegeben werden, sondern entstünden individuell in jedem einzelnen infizierten Organismus. Die moderne Molekularbiologie zeigt jedoch, dass die resistenten Erregervarianten sogar sehr effektiv weitergegeben werden.

Generationenübergreifendes Problem

Niemanns Mitarbeiter im Forschungszentrum Borstel können mit Hilfe eines genetischen Fingerabdrucks die Ansteckungswege – nicht nur von resistenten Bakterien – genau verfolgen. "Wenn zwei Patienten im Krankenhaus mit exakt dem gleichen Erreger infiziert sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sich im Krankenhaus angesteckt haben", sagt Niemann. Die genetische Analyse bringe ans Licht, womit häufig keiner rechnete. Der pfiffige Arzt beispielsweise hatte das hustende Kind auf Tuberkulose testen lassen und wurde fündig. An dessen Großmutter, die schon seit ewigen Zeiten vor sich hin hüstelte, hatte keiner gedacht. Doch genau sie war es, wie der genetische Fingerabdruck später zeigt, bei der sich das Enkelkind angesteckt hatte.

"Das A und O der Tuberkulosekontrolle ist die rasche Fallfindung, die Aufklärung der Ansteckungswege ohne diagnostische Verzögerungen und die effektive Behandlung", betont Niemann. Möglicherweise ist es notwendig, Migranten nicht nur beim ersten Betreten des Landes auf Tuberkulose hin zu untersuchen. Wie Florian Marx und andere Forscher von der Abteilung für Pädiatrische Pneumologie an der Charité in Berlin und des Robert Koch-Instituts herausgefunden haben, ist die Tuberkuloserate bei Migranten der zweiten Generation zweimal so hoch wie bei der einheimischen Bevölkerung. Marx schlägt vor, dass eine ausreichende Aufklärung der Migranten über das Tuberkuloserisiko, Symptome, Diagnostik und Behandlung sichergestellt werden müsse. "Zum anderen muss der Zugang zur primären Gesundheitsversorgung für Migrantenfamilien in der Zeit nach der Einwanderung verbessert werden, damit etwaige Tuberkulosefälle rasch diagnostiziert und behandelt werden können", so der Mediziner.

Italienische Forscher diskutieren, ob bei Migranten ein Test auf eine latente Tuberkulose durchgeführt werden soll. Dafür eignet sich der Tuberkulin-Test oder ein neuer immunologischer Test, IGRA (Interferon Gamma Bluttest). Beim Tuberkulin-Test (der aktuell gerade nicht verfügbar ist) werden Bestandteile der Bakterienwand unter die Haut gespritzt. Hat das Immunsystem bereits einmal Kontakt mit dem Erreger gehabt, wird es reagieren und eine sichtbare Hautreaktion hervorrufen. Mit beiden Verfahren kann nicht festgestellt werden, ob eine aktive, also ansteckende, Tuberkulose vorliegt. Die Tests können zum Beispiel auch bei Kindern eingesetzt werden.

Viel wichtiger, als über neue Maßnahmen zur Kontrolle nachzudenken, sei es, die Werkzeuge zur Infektionsprophylaxe, die es ohnehin schon gibt und die sich bewährt haben, jetzt konsequent einzusetzen, meint Roland Diel: "Das Bewusstsein für die Tuberkulose muss wieder geschärft werden." Stefan Niemann hebt noch einen anderen Aspekt hervor: "Wir werden weltweit mehr denn je mit dem Auftreten und der Übertragung von multiresistenten Stämmen rechnen müssen. Die Entwicklung neuer Diagnostika und Medikamente muss daher konsequent vorangetrieben werden."

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