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Politische Kommunikation: Der Wumms-Effekt

Steigt das Thermometer in sommerliche Höhen, drücken sich Politiker verständlicher aus.
Eine Frau von hinten sichtbar im Zuschauerbereich vor Plenum des Europäischen Parlaments.

Bei sommerlichen Temperaturen sprechen Politiker im Schnitt etwas einfacher. Das ergab eine Auswertung von sage und schreibe sieben Millionen Redebeiträgen aus Parlamenten in acht Ländern, die ein Forscherduo vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock sowie der Universität im dänischen Aarhus kürzlich vorlegte. Demnach sinkt bereits ab 24 Grad Celsius Außentemperatur die Komplexität der politischen Ansprachen messbar: Kürzere Sätze, weniger Fremdwörter und einfache statt sperrige Substantive sind dann offenbar vermehrt zu verzeichnen.

Auf der von den Wissenschaftlern verwendeten Skala, die das linguistische Anspruchsniveau in die Zahl an Schul- und Hochschuljahren übersetzt, welche für das Verständnis des Gesagten notwendig sind, reduzierte sich die benötige Bildungsdauer um zirka einen halben Monat. Nicht die Welt, aber messbar. Besonders anfällig für den Effekt zeigten sich Politikerinnen und Politiker jenseits der 65 – sowie männliche Redner, wobei dies nach Ansicht der Autoren auch an der geringeren parlamentarischen Präsenz von Rednerinnen liegen könnte. Die Datengrundlage war für die Damen schlicht nicht so aussagekräftig.

Überraschend ist der Befund insofern, als die meisten politischen Ansprachen keine Stegreifreden, sondern vorbereitete Statements sind. Die Forscher vermuten, dass Rednerinnen und Redner bei höheren Temperaturen eher vom Manuskript abweichen und einen Stil einbringen, der die Köpfe weniger heißlaufen lässt.

Eine Sternstunde der Unterkomplexität in der jüngeren politischen Zeitgeschichte war sicherlich Kanzler Olaf Scholz`Ansage vom »Doppel-Wumms« Ende September 2022. Oder einfacher gesagt: Warum kompliziert, wenn es auch infantil geht – etwa um staatliche Ausgleichszahlungen für die damals rasant gestiegenen Energiekosten zu erklären.

Hier zeigt sich zugleich, was die aktuelle Studie offenlässt. Erstens ist noch nicht gesagt, ob einfachere Sprache nun zu begrüßen oder zu kritisieren ist: Zwar werden Argumente und Entscheidungen dadurch für jedermann leichter verständlich, aber womöglich fallen wichtige Details unter den Tisch. Gewiefte Populisten bestechen oft gerade durch ihr Talent zur Vereinfachung – ob sie der Sache angemessen ist, steht auf einem andern Blatt.

Und zweitens: Es liegt im Wesen der Statistik, dass sie nur im Durchschnitt gilt. So ging Ende September 2022, als Scholz seinen »Doppel-Wumms« präsentierte, gerade eine kleine Kältewelle durch Berlin, und die Temperaturen in der Hauptstadt dümpelten um die 14 Grad. Wie schlicht oder elaboriert sich Politiker ausdrücken, ist also nicht bloß eine Frage des Wetters.

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  • Quellen

Keivabu, R. C., Widmann, T.: The effect of temperature on language complexity: Evidence from seven million parliamentary speeches. iScience 110106, 2024. Doi: 10.1016/j.isci.2024.110106

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