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Langzeittherapie: Wie Psychopharmaka das Gehirn verändern

Die meisten Medikamente gegen psychische Störungen greifen in den Hirnstoffwechsel ein. Was das langfristig mit unserem Denkorgan anstellt, ist bei vielen dieser Arzneien unklar.
Mit Fäden und Pins wird der Umriss eines menschlichen Kopfes angedeutet. Dort, wo man das Gehirn finden würde, liegen eine Reihe unterschiedlicher Tabletten.
Psychopharmaka werden oft über Jahre eingenommen – doch was das auf Dauer im Gehirn der Patientinnen und Patienten bewirkt, ist nur unzureichend untersucht.

Im Jahr 1953 kam in Europa mit Chlorpromazin das erste Antipsychotikum auf den Markt. Ärztinnen und Ärzten stand damit fortan ein Medikament zur Verfügung, das die so genannten Positivsymptome von Schizophrenie deutlich linderte. Zu ihnen zählen Denkstörungen, Halluzinationen und Realitätsverlust bis hin zum Wahn. Die erfolgreiche Behandlung eröffnete jedoch eine neue Frage, nämlich: Sollten Patienten den Wirkstoff weiter einnehmen, nachdem sie die Beschwerden in den Griff bekommen hatten? Untersuchungen dazu ergaben, was noch immer in Lehrbüchern steht. Personen, die das Medikament absetzten, erlitten demnach mehr als doppelt so häufig Rückfälle als jene, die es langfristig weiternutzten. Ähnlich sieht es bei neueren Antipsychotika aus, die heute vorrangig eingesetzt werden. Folgerichtig empfehlen Leitlinien zur Behandlung von Schizophrenie eine kontinuierliche Medikamentengabe, um erneute Psychosen zu vermeiden.

Was eine solche Therapie langfristig mit dem Gehirn der Behandelten macht, ist aber bis heute nicht ausreichend untersucht. Dabei greifen die Neuroleptika – wie auch Antidepressiva und andere Psychopharmaka – in den neuronalen Stoffwechsel ein und stoßen so eine Vielzahl von Prozessen an. Der Neuropharmakologe Manfred Gerlach, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie e. V. gibt eine ernüchternde Einschätzung ab: Es mangle an robusten Daten dazu, wie sich das Gehirn mit der Zeit an die Medikamente anpasst und welche unerwünschten Effekte das hat. Diesen Missstand führt er vor allem auf die kurze Laufzeit von Zulassungsstudien zurück. Sie dauern üblicherweise zwischen sechs Wochen und maximal sechs Monaten. »Um gesicherte Daten zu Langzeitnebenwirkungen zu erhalten, müssten Studien über mehrere Jahre durchgeführt werden«, ergänzt er. Es wäre aber sehr teuer und aufwändig, solche Untersuchungen in der nötigen Qualität und Größe aufzuziehen. Das sei mit ein Grund dafür, dass die Pharmaindustrie sie nicht durchführe. Hinzu kommt, dass jahrelange Doppelblindstudien – bei denen Studienteilnehmende in der Kontrollgruppe gar keinen Wirkstoff erhalten – aus ethischen Gründen kaum möglich sind.

Mehr Antipsychotika, mehr Rückfälle

Der renommierte Psychiater William Carpenter spekulierte bereits 1977 in einer Publikation, wie es Schizophreniepatienten wohl ergangen wäre, wenn sie die Medikamente nie erhalten hätten. Schon damals gab es Hinweise darauf, dass Menschen, die eine psychotische Phase ohne ihre Unterstützung überwunden hatten, langfristig weniger anfällig für neue Episoden waren. Die Wirkstoffe schienen das Risiko für einen ungünstigen Krankheitsverlauf zu erhöhen. Seither fand man weitere Indizien für diesen Zusammenhang.

Dem zu Grunde liegt womöglich der Wirkmechanismus von Chlorpromazin und anderen Neuroleptika. Sie blockieren Dopaminrezeptoren im synaptischen Spalt, dem Raum zwischen miteinander verschalteten Nervenzellen. Das soll der mutmaßlichen Ursache von Psychosen entgegenwirken: einem Überschuss des Botenstoffs Dopamin in den neuronalen Kontaktpunkten. Diese These zur Entstehung des Syndroms kam Mitte der 1960er Jahre auf. Bis heute wird jedoch in Fachkreisen darüber debattiert, ob tatsächlich (allein) zu hohe Dopaminkonzentrationen dafür verantwortlich sind. Vieles deutet mittlerweile darauf hin, dass weitere Neurotransmitter wie Serotonin und Glutamat ebenfalls eine Rolle spielen.

Wahrscheinlich bewirkt die Gabe von Neuroleptika auf lange Sicht, dass Nervenzellen Maßnahmen einleiten, um der Rezeptorbarrikade zu entgehen: »Einerseits schütten sie mehr Dopamin aus«, erklärt der Psychiater und Psychotherapeut Gerhard Gründer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, »und andererseits stellen sie mehr Dopaminrezeptoren her.« In Tierversuchen habe man diese Prozesse bereits zweifelsfrei nachgewiesen. Es gebe einige Indizien dafür, dass sie auch bei menschlichen Patientinnen und Patienten aktiv sind. Um weitere Belege zu liefern, führen er und sein Team momentan eine große Studie an Personen mit Schizophrenie durch, deren Gehirn sie mit funktioneller Bildgebung untersuchen. »Wir möchten zeigen, dass es beim Menschen – gleichermaßen wie beim Tier – zu solchen adaptiven Hirnveränderungen kommt«, erzählt er.

Erhöhte Rezeptordichte macht empfindlich

Derartige neurologische Anpassungen könnten erklären, warum Beschwerden zurückkehren, wenn jemand die Medikamente absetzt. Im Gehirn wären nach der Therapie mehr Andockstellen vorhanden, weshalb es empfindlicher auf Dopamin reagiert. Das würde wiederum Psychosen begünstigen. Dieser Mechanismus ist unter Fachleuten schon lange im Gespräch. So spekulierten die beiden Mediziner Guy Chouinard und Barry Jones von der McGill University in Montreal, Kanada, bereits 1980 darüber.

Eine erhöhte Rezeptordichte könnte noch für weitere Behandlungseffekte verantwortlich sein. So müssen manche Menschen die Dosis der Neuroleptika mit der Zeit steigern, um neue Psychosen zu vermeiden. Auch so genannte tardive Dyskinesien (TD) sind womöglich eine Folge der Anpassung. Das sind seltene Bewegungsstörungen, die manchmal nach Langzeittherapien mit Antipsychotika auftreten. Zumeist bleiben sie dauerhaft bestehen. Zu ihren Symptomen zählen unwillkürliche Zuckungen sowie unkontrollierte Bewegungen der Zunge, der Gesichts-, Hals- und Rumpfmuskulatur.

Mehr als 40 Jahre, nachdem Chouinard und Jones ihre These aufstellten, mangelt es weiterhin an stichhaltigen Belegen für sie. Eine umfangreiche Übersichtsarbeit, die ein Team um Konstantinos Fountoulakis 2021 veröffentlichte, meldete sogar erhebliche Zweifel an ihr an. Gäbe es den Effekt, müsste man nämlich nach einem abrupten Ende der medikamentösen Therapie höhere Rückfallquoten sehen. Stattdessen ließen sich sowohl beim Absetzen als auch bei fortgesetzter Behandlung eine allmähliche Verschlechterung der Symptome und eine langsam zunehmende Zahl an Psychosen beobachten. Laut der Publikation ist es allerdings denkbar, dass nur bestimmte Menschen empfindlich auf Neuroleptika reagieren und deshalb zu einer tardiven Dyskinesie neigen.

Kleineres Gehirn – eine Folge der Schizophrenie?

Ähnlich umstritten ist die Vermutung, dass Antipsychotika das Gehirn schrumpfen lassen. Tatsächlich nimmt das Hirnvolumen Betroffener messbar ab. Lange nahm man an, dieser Effekt gehe auf die Schizophrenie zurück. Experimente mit Makaken offenbarten jedoch 2005, dass Neuroleptika einen Teil dazu beitragen können. So erhielten gesunde Affen 17 bis 27 Monate lang die Medikamente Haloperidol oder Olanzapin in Konzentrationen, wie sie bei Patienten und Patientinnen angewandt werden. Die Tiere in den beiden Gruppen wiesen danach im Schnitt ein um bis zu elf Prozent geringeres Hirnvolumen auf als Artgenossen, die mit einem Scheinmedikament behandelt worden waren. Dass Ähnliches bei Menschen passieren könnte, legen Befunde von Fachleuten um Beng-Choon Ho von der University of Iowa aus dem Jahr 2011 nahe. Sie hatten das Gehirn von 211 Schizophreniepatienten im Schnitt über rund sieben Jahre regelmäßig untersucht. Am deutlichsten nahm das Volumen bei jenen ab, die die höchsten Dosen an Antipsychotika erhalten hatten. Der Schweregrad ihrer Erkrankung ging hingegen nur in geringem Maß mit einem verkleinerten Hirnvolumen einher, schreiben die Autoren. Gerlach weist aber auf die großen Schwächen solcher Studien hin: Sie können nicht unterscheiden, ob ein Effekt durch die Medikamente, die Krankheit oder einen dritten, noch unbekannten Faktor zu Stande kam.

Auch die bereits erwähnte Analyse von Fountoulakis zeichnet kein eindeutiges Bild. Einige der darin enthaltenen Studien fanden markante Unterschiede zwischen der Neuronenzahl bei Patienten unter antipsychotischer Behandlung und Kontrollpersonen, andere nicht. Aus den vorhandenen Daten lässt sich demnach nicht eindeutig beantworten, ob Neuroleptika das Hirnvolumen verringern. Gründer mahnt dennoch zur Vorsicht. »Vor allem wenn man Antipsychotika über lange Zeit und zu hoch dosiert, muss man davon ausgehen, dass es zu irreversiblen und teils negativen Hirnveränderungen kommt.«

Schizophrenie geht allerdings selbst regelmäßig mit eingeschränkten kognitiven Funktionen einher. Das Gedächtnis von Erkrankten leidet; es fällt ihnen schwer, sich zu konzentrieren oder logisch zu denken. Oft manifestieren sich solche Probleme schon, bevor eine Psychose ausbricht. Nach der Einnahme von (vor allem neueren) Antipsychotika verbessern sich diese Beschwerden bei vielen Patienten. Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2023 findet einen insgesamt geringfügig positiven Effekt auf die Kognition, solange die antipsychotische Dosis im normalen, niedrigen Bereich liegt. Hohe Konzentrationen wirken zwar effektiver gegen Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Doch selbst mäßige Mengen können die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen; daher ist ein gut durchdachter Medikationsplan unerlässlich.

Antidepressiva sollte man langsam ausschleichen

Bei Antidepressiva lassen sich ebenfalls Nachwirkungen einer langen Einnahme beobachten. Nach dem Absetzen entwickeln Patientinnen und Patienten im Schnitt schneller eine neue Krankheitsepisode als jene, die keine Medikamente bekommen hatten. Es ist auch hier möglich, dass sich Neurone dauerhaft an die Medikamentengabe anpassen. Fällt das Mittel weg, ist das Gehirn anfälliger für eine erneute Depression. Für den Psychiater Gründer ist dies die einzig plausible Erklärung. Darüber hinaus könnten die vielfältigen Absetzreaktionen, von denen Betroffene zum Teil berichten (siehe »Die dunkle Seite der Stimmungsaufheller«, Gehirn&Geist 4/2019, S. 64), auf den veränderten Hirnstoffwechsel zurückzuführen sein. Bereits nach einer einzelnen ausgebliebenen Gabe kann es zu Entzugserscheinungen kommen. Mit der richtigen Strategie sind unangenehme Effekte meist nur mild ausgeprägt. »Absetzphänomene lassen sich durch langsames Ausschleichen vermeiden oder erheblich reduzieren«, erläutert Gerlach. Er ergänzt, dass durch Psychopharmaka hervorgerufene Veränderungen sich dann ebenfalls mit der Zeit zurückbilden.

Die Arzneien bedingen aber ebenso neuronale Anpassungen, die sich positiv auswirken. Wahrscheinlich gehen ihre antidepressiven Effekte sogar darauf zurück. Noch sind die Wirkmechanismen der Medikamente zwar nicht abschließend geklärt, aber Antidepressiva könnten die Genesung fördern, indem sie die neuronale Plastizität ankurbeln. Darauf deuten unter anderem Daten aus Magnetresonanztomografie-Studien hin. Ein formbares Gehirn ist flexibler und lernfähiger. Depressionen schränken diese Plastizität jedoch ein. Dadurch werden neuronale Pfade rigider und lassen sich nur schwer verändern. Die Medikamente ermöglichen es Betroffenen, ihre Gehirnaktivität wieder in gesündere Bahnen zu lenken, und verbessern damit die Symptomatik, so die These. In eine andere Richtung weisen Befunde zum häufig verabreichten Escitalopram. Hirnscans legen nahe, dass die Arznei die Kommunikation zwischen Ruhenetzwerken im Gehirn beeinflusst. Manche Fachleute vermuten hierin den Ursprung der antidepressiven Wirkung des Mittels.

Wie Medikamente gegen Depressionen auf Dauer das Gehirn umformen, ist nicht im Detail erforscht. Diese unbefriedigende Situation treibe ihn schon lange um, erzählt Gründer. Schließlich werden Antidepressiva täglich von zig Millionen Menschen eingenommen. »Dass die langfristigen Effekte auf die Neurobiologie so schlecht untersucht sind, ist nicht zu verstehen«, findet er. Er plant daher eine Bildgebungsstudie mit Langzeitnutzern, um etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen.

Langzeiteffekte oft nur an Tieren untersucht

Weil Untersuchungen am Menschen teuer und bisweilen schwierig durchzuführen sind, greifen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler häufig ersatzweise auf Tierstudien zurück. Wie sich Psychostimulanzien wie Methylphenidat, dem Wirkstoff von Ritalin, auf das Gehirn auswirken, hat man zum Beispiel umfangreich an Nagern erforscht. So entdeckten der Neurowissenschaftler William Carlezon Jr. und die Pharmakologin Christine Konradi länger anhaltende Veränderungen im Belohnungssystem von Ratten, denen sie den Wirkstoff verabreicht hatten. Welche Folgen diese haben, ist unklar. Eine Studie eines Teams um den Neuropharmakologen Jason Gray kommt zu dem Ergebnis, dass Methylphenidat die Konzentration bestimmter Neurotransmitter in Gehirnregionen junger Ratten beeinflusst. Sie spielen unter anderem bei Motivation, Kognition, Appetit und Stress eine Rolle. Obwohl sich die beobachteten Veränderungen mit der Zeit weitgehend zurückbilden, könnte das Mittel anhaltend die Neurochemie des Gehirns verändern, glauben die Autoren. Sie mutmaßen, dass sich dies sogar auf Verhaltensweisen im Erwachsenenalter auswirken könnte. Bewiesen ist das nicht.

Manfred Gerlach führte eine umfangreiche Übersichtsarbeit über mögliche schädliche Folgen einer Langzeittherapie mit Methylphenidat durch. Er kommt zu folgendem Schluss: »Es gibt keine sicheren Belege dafür, dass dieser Wirkstoff bei Tieren langfristige negative Auswirkungen auf die Gehirnreifung, die Neurobiologie oder das durch Dopamin hervorgerufene Verhalten bewirkt.« Die vorliegenden Studien hätten große methodische Probleme, und deren Ergebnisse seien nicht ohne Weiteres auf den Menschen übertragbar. Beispielsweise wurde der Wirkstoff den Tieren oft nicht oral verabreicht, wie es bei Patienten üblich sei, so Gerlach. Außerdem seien die Experimente an normalen, gesunden Nagern durchgeführt worden. Bei einer Person mit einer Entwicklungsstörung ist dagegen die Gehirnfunktion verändert. Und schließlich unterscheiden sich die Gehirnstrukturen einer Maus maßgeblich von denen eines Menschen.

Klinische Untersuchungen dazu, wie Methylphenidat langfristig wirkt, sind derweil Mangelware. Eine der wenigen belastbaren Studien veröffentlichte eine Forschungsgruppe um Cheima Bouziane im Jahr 2019. Anhand von Magnetresonanztomografie-Aufnahmen stellte sie fest, dass die Behandlung bei Jungen zu gewissen neuronalen Anpassungen führte. Die klinische Bedeutung der Befunde ist allerdings noch ungewiss. Eine andere Arbeit mit Erwachsenen, die zwölf Monate lang Ritalin einnahmen, fand bei ihnen verglichen mit einer unbehandelten Kontrollgruppe deutlich erhöhte Konzentrationen eines Dopamin transportierenden Eiweißes. Auch hier sind die Folgen nicht bekannt. Insgesamt lässt sich bisher nicht sagen, ob die langfristigen Veränderungen günstig oder ungünstig sind.

Ritalin normalisiert die Hirnaktivität bei ADHS

Kurzfristige Wirkungen auf das Gehirn von Kindern mit ADHS bewerten Fachleute allerdings als positiv: »Die Therapie mit Psychostimulanzien, zu denen Methylphenidat zählt, normalisiert die gestörte Hirnfunktion von Patienten«, sagt etwa Gerlach. Diese ähnelt dann eher der von gesunden Altersgenossen. Einen solchen Effekt wies unter anderem eine 2023 veröffentlichte Hirnscannerstudie von Forschenden der Stanford University und der japanischen Universität Fukui nach. Bei jungen Patienten, die das Medikament erhalten hatten, erhöhte sich dabei die spontane neuronale Aktivität im Nucleus accumbens. In dem Hirnareal sitzen besonders viele Dopaminrezeptoren; der Neurotransmitter wirkt motivationsfördernd und erleichtert zielgerichtetes Handeln.

Die Dosis von Psychostimulanzien wie Ritalin muss im Lauf der Therapie in der Regel nicht erhöht werden. Laut Gerlach deutet dies darauf hin, dass sich das Gehirn offenbar nicht an die Arzneimittelgabe anpasst – indem es etwa mehr oder weniger Rezeptoren ausbildet. Und auch die derzeit verfügbaren Daten zu den Langzeitfolgen einer Behandlung bei ADHS würden darauf hinweisen, dass die Nebenwirkungen meist unbedenklich sind. Gleichwohl setzt sich Gerlach seit vielen Jahrzehnten dafür ein, dass insbesondere im Kinder- und Jugendbereich mehr verlässliche Daten zu unerwünschten Wirkungen von Psychopharmaka gesammelt werden. Denn anders als bei Erwachsenen müsse man berücksichtigen, wie die alters- und geschlechtsabhängige körperliche und geistige Entwicklung sich auf die Verträglichkeit von Medikamenten auswirkt. Alles in allem bewertet er diese bei Psychostimulanzien aber positiv, denn: »Ein unbehandeltes ADHS kann schwere negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen haben.«

Mehr Nutzen oder mehr Schaden?

Wegen der mitunter erheblichen Nebenwirkungen von Antipsychotika lässt sich ihr Nutzen etwas schwieriger gegen das Risiko abwägen als bei Ritalin und ähnlichen Psychopharmaka. In Fachkreisen herrscht Einigkeit darüber, dass schwere Psychosen und Wahnvorstellungen unbedingt schnell behandelt werden sollten. Oft liegt Eigen- oder Fremdgefährdung vor, die sich nur durch die Gabe von Medikamenten entschärfen lassen. In Anbetracht der bekannten unerwünschten Effekte kritisieren jedoch manche Fachleute wie etwa der Psychiater Volkmar Aderhold vom Institut für Sozialpsychiatrie der Universität Greifswald den Umgang mit den Mitteln in der Praxis. Seiner Meinung nach werden oft zu hohe Dosen eingesetzt – gemäß dem Motto: »Viel hilft viel.« Er plädiert dafür, möglichst niedrige Mengen zu verabreichen. Aderhold hat in den letzten 20 Jahren wesentlich zur Debatte über das Verhältnis von Risiko und Nutzen von Neuroleptika beigetragen. 2019 mündete die Diskussion schließlich darin, dass die Behandlungsleitlinien für Schizophrenie überarbeitet wurden. Dort wird nun zu einer möglichst geringen Dosierung geraten, zudem gibt der Text Ratschläge zur Dosisreduktion und zum Beenden der Medikation.

Man könne nicht ausschließen, dass Psychopharmaka über ihre langfristige Wirkung auf das Gehirn den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen, fasst Gründer zusammen und ergänzt: »Das bedeutet nicht, dass man nie Psychopharmaka geben sollte; natürlich sind das in manchen Fällen segensreiche Medikamente. Aber es sind eben keine Smarties.« Man müsse sich vielmehr der Risiken bewusst sein und diese »stets gegen den Nutzen abwägen – und immer wieder darüber nachdenken, die medikamentöse Therapie zu beenden«, empfiehlt er. Gerlach stimmt zu. Auf Grund der möglichen unerwünschten Effekte appelliert er außerdem an die behandelnden Ärztinnen und Ärzten, Patienten während der Behandlung engmaschig zu begleiten. Denn eines ist klar: Ein völliger Verzicht auf die Medikamente ist in vielen Fällen eben doch keine angemessene Lösung.

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  • Quellen
Bouziane, C. et al.: White matter by diffusion MRI following methylphenidate treatment: A randomized control trial in males with attention-deficit/hyperactivity disorder. Radiology 293, 2019Fountoulakis, K. et al.: The report of the joint WPA/CINP workgroup on the use and usefulness of antipsychotic medication in the treatment of schizophrenia. CNS Spectrums 26, 2021Haddad, C. et al.: Effects of antipsychotic and anticholinergic medications on cognition in chronic patients with schizophrenia. BMC Psychiatry 23, 2023

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