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Leonore Gewessler: »Was soll ich antworten: Ich wollte ja, aber ich war leider zu feige?«

In ganz Europa feiern Naturschützer die österreichische Klimaschutzministerin, weil sie durch ihr umstrittenes Ja dem EU-Renaturierungsgesetz zum kaum mehr erwarteten Durchbruch verholfen hat. Im Interview spricht sie über eine am Ende doch ganz einfache Entscheidung, zubetonierte Felder und warum sie ihrem Koalitionspartner vorwirft, mit zweierlei Maß zu messen.
Leonore Gewessler
Kanzler Nehammer forderte eine Enthaltung bei der Abstimmung über das EU-Renaturierungsgesetz, Leonore Gewessler setzte sich darüber hinweg.

Leonore Gewessler wirkt ein wenig in Eile, als sie zwischen zwei Außenterminen für unser Zoom-Interview im Büro Platz nimmt. Seit die grüne österreichische Klimaministerin dem europäischen Gesetz zur Wiederherstellung der Natur zum Durchbruch verhalf – gegen den erklärten Willen von Bundeskanzler Karl Nehammer von der ÖVP – und damit eine Regierungskrise in Wien lostrat, ist sie eine noch gefragtere Gesprächspartnerin als zuvor. Zu Terminen kommt die 47-Jährige zu Fuß, mit Fahrrad, U- oder S-Bahn, einen eigenen Dienstwagen wollte sie nicht. Die Ministerin verantwortet das Ressort für Umwelt, Klimaschutz, Energie, Mobilität und Technologie. An der Wand hinter ihrem Schreibtisch hängt eine Collage, die ein Windrad vor einer Satellitenaufnahme Wiens zeigt. »Ich bin ja auch für den Weltraum zuständig«, erklärt sie. Am Ende verabschiedet sie sich pünktlich auf die Minute, um per Tram zum nächsten Termin zu kommen.

Leonore Gewessler | Die studierte Politikwissenschaftlerin ist seit Anfang 2020 Ministerin in der Regierung von Bundeskanzler Karl Nehammer. Zuvor war die Grünen-Politikerin unter anderem als Gründungsdirektorin der Green European Foundation (GEF) in Brüssel tätig.

Frau Gewessler, Ihr Ja zum EU-Renaturierungsgesetz wird europaweit von grünen Parteien und Naturschützern bejubelt, bei einer Demonstration am Wochenende in London wurden Sie regelrecht gefeiert. Wie fühlt man sich als eine neue Jeanne d’Arc der Naturschutzbewegung?

Ich kann mit diesen Zuschreibungen wenig anfangen. Es berührt mich sehr, wie viele Menschen sich melden, mich in der Bahn ansprechen oder mir schreiben. Es ist gut zu spüren, wie wichtig der Naturschutz einer großen Mehrheit der Menschen auch in Österreich ist. Ich selbst bin deshalb keine Jeanne d’Arc, ich bin jetzt noch genau dieselbe Leonore, die Klimaschutzministerin in Österreich, wie davor.

Was macht dieses Gesetz so wichtig, dass Sie einen Koalitionsbruch dafür riskiert haben?

Das Thema, um das es bei diesem Gesetz geht, ist größer als eine parteipolitische Auseinandersetzung. Ohne intakte Natur und ohne intakte Biodiversität gibt es kein gesundes und glückliches Leben für uns Menschen. Und weil die Natur in der vom Menschen geprägten Welt nicht auf sich selbst aufpassen kann, müssen wir Menschen auf die Natur aufpassen. Und das haben wir mit unserem Beschluss am 17. Juni getan. Was wir in Luxemburg beschlossen haben, war ein Sieg für die Natur und für unsere eigene Lebensgrundlage.

Neben Zustimmung erntet Ihr Alleingang viel Kritik. Ihr eigener Koalitionspartner von der ÖVP hat Sie wegen Amtsmissbrauchs angezeigt. Ihr Kanzler, Karl Nehammer, klagt vor dem Europäischen Gerichtshof, um das Gesetz für ungültig zu erklären. Haben Sie sich inzwischen mit ihm ausgesprochen?

Wir haben uns ganz kurz gesehen, aber noch nicht die Möglichkeit gehabt, ein Gespräch zu führen. Das werden wir sicher noch machen.

Wie verlief diese Begegnung?

Weniger aufregend, als Sie vielleicht erwarten. Wir waren parallel auf einer öffentlichen Veranstaltung. Aber es ist doch klar: An mutigen Entscheidungen gibt es immer auch Kritik. Das war erwartbar und ist auch dieses Mal so gewesen. Das haut mich nicht um, so was ist okay, und ich halte das aus.

Es ist schon eine extrem ungewöhnliche Form von Kritik, wenn ein Regierungschef die eigene Ministerin wegen Amtsmissbrauchs anzeigt …

Ich habe mein Amt nicht missbraucht. Ich habe diese Entscheidung nicht auf die leichte Schulter genommen und lange mit mir selbst gerungen. Ich habe mich abgesichert und mich mit vielen Juristinnen und Juristen besprochen. Am Ende war klar: Rechtlich ist eine Zustimmung möglich. Und ich habe immer gesagt, wenn es einen rechtskonformen Weg gibt, diesem Gesetz zuzustimmen, dann werde ich das machen. Einfach weil es eine Chance ist für die Natur auf dem ganzen Kontinent, die wir nicht verspielen dürfen. Wir müssen der Natur, die jetzt jahrzehntelang zubetoniert und asphaltiert wurde, wieder ein bisschen mehr Platz zum Leben geben, ein bisschen Raum zum Aufatmen.

»Mein Kollege Norbert Totschnig hat für die Abschwächung von Naturschutzstandards gestimmt. Damals hat niemand von Rechtsbruch gesprochen«

Aber am Ende sind Sie als Umweltministerin Teil einer Koalition, in der der weitaus größere Partner, die Kanzlerpartei ÖVP, gegen das Gesetz war, dem Sie nun zum europaweiten Durchbruch verholfen haben.

Wir haben in Österreich einen gravierenden Unterschied zu Deutschland. Es gibt keine Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, sondern Minister und Ministerinnen entscheiden in ihrem jeweiligen Portfolio. Und im Europäischen Rat entscheidet die Ministerin, der Minister, der zuständig ist. Natürlich gibt es einen Prozess zur Koordinierung der EU-Positionen. Aber letztlich entscheidet der oder die zuständige Ministerin. Ich habe mich übrigens entlang der langjährigen Praxis verhalten. Unser Landwirtschaftsminister von der ÖVP, mein Kollege Norbert Totschnig, hat erst vor wenigen Wochen für die Abschwächung der Umwelt- und Naturschutzstandards in der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU gestimmt – gegen meinen expliziten Widerstand. Und damals hat niemand von Rechtsbruch gesprochen. Da kann man jetzt seitens der ÖVP auch nicht mit zweierlei Maß messen.

Sie sagen, Sie haben sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Geben Sie uns einen Einblick in ihr inneres Ringen?

Aus meiner Überzeugung, dass das ein gutes Gesetz ist, dem Österreich zustimmen sollte, habe ich nie einen Hehl gemacht. Und nachdem feststand, dass dies rechtlich möglich ist, war die Sache für mich klar. Trotzdem wusste ich, dass eine Welle der Kritik folgen wird. Ich habe mir aber gesagt, ich laufe im entscheidenden Moment nicht vor der Verantwortung davon, die ich als Ministerin übernommen habe – dafür zu sorgen, dass die Generationen nach uns noch dieses wunderschöne Land in all seiner Vielfalt, in all seiner Schönheit selbst erleben und herzeigen können. Es gibt einfach Situationen, in denen man mutig sein muss, auch wenn es danach hoch hergeht.

Sie haben im Zusammenhang mit Ihrer Entscheidung mehrfach Ihre kleinen Nichten erwähnt. Welche Rolle spielten die beiden?

Solche Entscheidungen haben immer auch einen persönlichen Aspekt, schließlich betreffen sie ja uns alle als Menschen. Ich selbst sehe einfach meine zwei Nichten aufwachsen und möchte, dass die beschützt und sicher und gut durchs Leben gehen können, wie es für alle Kinder und jungen Leute in Europa möglich sein sollte. Und Natur- und Klimaschutz ist dafür eine Art Lebensversicherung. Was würde ich ihnen antworten, wenn die beiden mich in 20 Jahren fragen, was ich damals gegen die Naturkrise gemacht habe? Soll ich antworten: Ich wollte ja, aber ich war leider zu feige?

»Ich habe eine Bitte an die Landwirte: Schaut genau hin, wo es schiefläuft«

Haben Sie die Sorge, dass das Gesetz wegen ihres Alleingangs doch noch vor dem Europäischen Gerichtshof scheitert?

Überhaupt nicht. Ich sehe der Nichtigkeitsklage, die unser Bundeskanzler angestrengt hat, sehr gelassen entgegen. Nicht nur ich habe das in meinem Ministerium sehr genau abgewogen. Auch der belgische EU-Ratsvorsitz hat das eingehend juristisch geprüft. Es gibt keinen Zweifel, dass das Gesetz jetzt gilt und wir uns auf den Weg machen müssen, es umzusetzen. Es gibt keine Ausrede, jetzt nicht loszulegen.

Die Grünen sind zum ersten Mal in der österreichischen Geschichte an der Regierung beteiligt, im Herbst wird wieder gewählt. Haben Sie mit ihrer Entscheidung die Chancen auf künftige Koalitionen mit den Konservativen ruiniert – und hält das Bündnis noch bis zur Wahl?

Die Koalition hält bis zur Wahl. Da mache ich mir keine Sorgen. Wir haben in den vergangenen Jahren schon sehr schwierige Situationen durchlebt als Bundesregierung. Wir sind Ministerinnen und Minister, weil wir Verantwortung haben, für die Menschen in diesem Land zu arbeiten und etwas weiterzubringen. Und auch jetzt gibt es noch einiges zu tun in den kommenden Monaten: ein Tierschutzpaket, ein Update unseres Stromsystems und vieles mehr. Das werden wir gemeinsam noch zu Stande bringen.

Blicken wir in die Zukunft. Das Renaturierungsgesetz ist verabschiedet. Was wird sich in Europa, was in Österreich damit in den nächsten zehn Jahren verändern?

Die Unterstützung für dieses Gesetz ist in ganz Europa deswegen so groß, weil ganz viele Menschen aus eigener Erfahrung Beispiele kennen von einem kanalisierten Bach, der nicht mehr frei fließen kann, vom Feld, das jetzt zubetoniert ist, oder von einem trockengelegten Moor. Wenn bis 2030 an einigen dieser Stellen in Österreich die Natur wieder Platz hat, dann hat das Gesetz einen Unterschied gemacht. Wo und wie genau, das werden wir in den nächsten zwei Jahren mit allen gemeinsam erarbeiten.

Was sagen Sie einem Landwirt, der durch das Gesetz weitere Einschränkungen fürchtet?

Ich verstehe, unter welchem Druck die Landwirtschaft steht. Ich habe aber eine Bitte an Landwirte: Schaut genau hin, wo es schiefläuft, und richtet die Kritik auch dorthin, wo sie hingehört. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten in Europa eine verfehlte Agrarpolitik gesehen. Eine Entwicklung, die die Industrialisierung der Landwirtschaft unterstützt, immer noch größer, immer noch mehr Effizienz und Produktivität auf dem Rücken von kleinen und mittelgroßen Betrieben. Landwirte wissen, dass sie nur mit der Natur und nicht gegen sie arbeiten können. Sie sind die Ersten, die die Folgen des Klimawandels und der ökologischen Krise spüren, wenn Starkregen die Ernte schädigt und Insekten nicht mehr ausreichend ihre Feldfrüchte bestäuben. Wir haben lange verhandelt, um das Gesetz auch im Sinn der Landwirtschaft praxistauglich und flexibel zu machen. Die Leistungen, die Landwirte für die intakte Natur erbringen, werden endlich anerkannt. Dieses Gesetz wird, wenn wir es gut umsetzen, mehr Unterstützung für die Landwirte bieten statt mehr Arbeit. Es ist ein Gesetz für die Landwirtschaft, nicht gegen sie.

Wenn dieses Gesetz so gut und wichtig ist, wie Sie sagen: Wieso hat es dann ein mehr als zweijähriges Ringen darum gegeben, um es nun mit Ach und Krach über die Ziellinie zu bringen?

Die Biodiversitätskrise ist eine Krise, die erst langsam in das Bewusstsein der Menschen rückt. Wir haben noch viel Grün in der Landschaft, aber es macht eben einen Unterschied, ob etwas nur von außen grün ausschaut, oder ob es auch innen vielfältig, krisenfest und bunt ist. Dieses Grün, das wir wieder mehr brauchen, ist kein Monokultur-Grün, sondern eine lebendige Natur. Das noch deutlicher zu machen, ist ein Auftrag an alle jene unter uns, die für den Umweltschutz arbeiten. Wir müssen die Wichtigkeit der Artenvielfalt für uns Menschen in den Vordergrund stellen und gut kommunizieren. Mehr Natur hilft auch gegen den Klimawandel. Wir brauchen die Moore als Lebensraum und als CO2-Speicher. Wir brauchen intakte Böden voller Leben, um uns an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Ein kaputter Boden speichert keine Wassermassen.

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