Lichtverschmutzung: Die Hüterin der Nacht
Noch ist nicht dunkel an diesem heißen Sommerabend, als sich die Hüterin der Nacht ein eisgekühltes Wasser bestellt. Die Dämmerung legt sich langsam über Fulda. Sabine Frank, 48, Naturfreundin und Frohnatur, kommt kaum zum Trinken, zu aufgeregt redet sie über ihr Lieblingsthema, die Lichtverschmutzung. Ihr Engagement für mehr Dunkelheit ist ein privates Anliegen, aber es ist auch ihr Job: Sabine Frank ist Deutschlands erste und einzige Lichtschutzbeauftragte. Angestellt ist sie beim Landkreis Fulda, zu dem der Sternenpark Rhön gehört. Dort im Mittelgebirge findet man Orte, wo die Nacht einfach Nacht sein darf. Wo, das will sie später zeigen.
Zehn Uhr vorbei, die Straßenlaternen gehen an. »Viel zu früh«, raunt Frank über den Tisch. Und zu hell ebenfalls. Die Dämmerung lasse immer noch genug Streulicht übrig, die Augen hätten sich doch gerade erst an die beginnende Dunkelheit gewöhnt, empört sie sich. Aber über Straßenlaternen will sie sich heute Abend lieber nicht aufregen, denn ihre Lieblinge, die wirklich großen Lichtverschmutzer, seien andere. Und ja, Sabine Frank nimmt den Kampf ziemlich persönlich.
Sie sei kein Feind des Lichts, nur ein Feind der Lichtverschmutzung. Und ein Feind übertriebenen Sicherheitsdenkens. »Uns wird regelrecht Angst vor der Dunkelheit gemacht«, sagt sie, jede noch so abgelegene Straße werde bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet. Tag und Nacht verschwimmen, die Dunkelheit ist uns fremd geworden. Und schon aus den Kinderbüchern lernen wir: Die Finsternis ist ein Ort, wo das Böse wohnt, wo dunkle Mächte walten. Stattdessen wird das Licht glorifiziert, als das Wahre, Weise, Göttliche, als Quell der Erkenntnis und Vernunft.
»Was wir brauchen, ist endlich ein Lichtschutzgesetz«Sabine Frank
Vielleicht ist das aber gar nicht wahr. Dass das Kunstlicht überhandnimmt, bemerkte Sabine Frank erstmals vor zehn Jahren auf ihren Sternetouren durch die Nacht. Damals nahm sie an ihren bevorzugten Spots immer mehr Licht wahr. Die Sterne verblassten. Damit müsse nun endlich Schluss sein, sagt sie. Und mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Die Lichtverschmutzung müsse reduziert werden, sagt auch die Bundesregierung. Reicht das? Frank überlegt nicht lange: »Was wir brauchen, ist endlich ein Lichtschutzgesetz.« Sie möchte die Nacht retten, solange es diese noch gibt. Das ist ihre Mission.
Hat Sabine Frank Recht? Um diese Frage zu beantworten, muss man die Perspektive wechseln. Weg aus Fulda, empor zum amerikanischen Satelliten Suomi NPP. Aus 824 Kilometern Höhe tastet der Wetter- und Umweltsatellit die Erdoberfläche nicht nur nach Wolken und Regentropfen ab, sondern auch nach Lichtquellen. Der Späher wird stets häufiger fündig: Weltweit leuchten immer mehr Lichter in die Nacht. Jedes Jahr nimmt die beleuchtete Fläche hier zu Lande um 2,2 Prozent zu, so das Ergebnis einer Studie in »Science Advances« vor anderthalb Jahren, in manchen Regionen sogar um über 20 Prozent. Die hellen Flächen breiten sich weiter aus, und sie leuchten heller. In den Großstädten ist die Nacht praktisch abgeschafft, die Dämmerung meist ebenfalls. Die Lichter strahlen heute doppelt so hell wie noch vor dreißig Jahren – und um ein Vielfaches heller als zu Beginn der Industrialisierung. Es ist der helle Wahnsinn.
In den Großstädten ist die Nacht abgeschafft
Fulda ist nun die erste Stadt in Deutschland, die gegen jene Entwicklung vorgeht. Die Stadt am Fuße der Rhön darf sich offiziell als Sternenstadt bezeichnen. Diese Auszeichnung wurde ihr im Februar des Jahres von der International Dark Sky Association (IDA) verliehen. Die Organisation mit Sitz in Tucson, Arizona, kämpft seit 30 Jahren gegen die weltweite Lichtverschmutzung. Sie stellt Prädikate für Sternenparks und Sternenstädte aus, um besondere Anstrengungen für den Schutz der Dunkelheit zu prämieren.
Das Prädikat für Fulda befindet sich im Stadtschloss, das heute als Verwaltungsgebäude dient. Im ersten Stock sitzt Stadtbaurat Daniel Schreiner in seinem Büro und präsentiert die Urkunde voller Stolz. Der junge Beamte ist verantwortlich für das Beleuchtungskonzept der Stadt. Bei einem Rundgang am hellen Nachmittag möchte er erklären, wie Fulda die Nacht schützt.
Daniel Schreiner steigt die Treppen hinunter, öffnet die Tür zum Innenhof. Die Junisonne strahlt ihm ins Gesicht, er kneift die Augen zusammen. »Hier im Schloss werden nachts alle Leuchten ausgeschaltet«, sagt er. Warum solle man etwas beleuchten, wo nachts ohnehin niemand unterwegs sei? Die einfachste Maßnahme ist das Abschalten. Aber darum geht es Schreiner nicht, er möchte den Menschen nicht das Licht wegnehmen. Und Lichtpolizei möchte er auch nicht spielen. Die Maßnahmen für den Schutz der Nacht seien ganz einfach, sagt Schreiner. Am Ende seien es nur drei Änderungen, die jeder Bürger und jede Stadt selbst in die Hand nehmen könne. Erstens: weniger Lichtstärke. Zweitens: warmes Licht. Drittens: Lampen nicht nach oben ausrichten, Strahler herunterklappen. Licht, das in den Himmel strahlt, stört alle Lebewesen und ist reine Geldverschwendung.
Warmgelb statt kaltweiß
Wie einfach solche Maßnahmen umzusetzen sind, demonstriert der Stadtbaurat an einer Straßenlaterne vor dem Schloss. Fulda hat in der Altstadt bereits alle Leuchten auf LED umgerüstet. Die Lampenform ist dieselbe geblieben, nur das Licht hat sich geändert. In Fulda strahlt es nicht kaltweiß, sondern warmgelb, mit einer Lichttemperatur von weniger als 3000 Kelvin. »Die Farbe ist ganz entscheidend für ein modernes Lichtkonzept«, sagt Schreiner. Je weniger Blauanteil eine Lampe habe, desto besser sei das für die Tiere in der Stadt, vor allem für die Insekten.
Und auch der Mensch profitiert: Warmes Licht blendet nicht, es stört nicht so beim Schlafen, ist außerdem gemütlicher, und es streut weniger in den Nachthimmel als weißes. Einziger Nachteil: Es verbraucht minimal mehr Strom im Vergleich zu den kaltweißen LEDs. Das ist wohl der Hauptgrund, weshalb die meisten Städte in Deutschland ihre Lampen auf knallweiße Leuchtdioden mit einer Lichttemperatur von 4000 Kelvin umrüsten. Das Mantra allerorten heißt Energieeffizienz. An Ökologie denken die wenigsten.
Welche Folgen das für die Umwelt hat, das untersucht der Ökologe Franz Hölker am Leibnitz-Institut in Berlin, an dem eine Arbeitsgruppe über die Lichtverschmutzung und die Ökophysiologie eingerichtet wurde. Fast alle Lebewesen seien auf den natürlichen Wechsel von Hell und Dunkel eingestellt, erklärt der Forscher. Das Leben auf diesem Planeten hat einen Takt, das Licht bestimmt den Rhythmus. »Sie gleichen Körperfunktionen und Verhalten mit der Tages- und Jahreszeit ab«, sagt Hölker. Der Wechsel von Tag und Nacht beeinflusst bei Tieren den Herzschlag, die Körpertemperatur, den Hormonhaushalt sowie den Schlaf- und Wachzyklus. Außerdem bestimmt das Licht die Ruhe- und Aktivitätsphasen, Nahrungssuche und Fortpflanzung. Seit drei Milliarden Jahre geht das nun so, natürliches Licht synchronisiert und ordnet das Leben auf diesem Planeten. Und der Mensch hat nur Jahrzehnte gebraucht, um das alles durcheinanderzubringen.
Licht dringt zehn Meter tief in Wasser
Von der Lichtemission sind besonders die Gewässer betroffen, weil Licht an der Wasseroberfläche gestreut wird. Es dringt mehr als zehn Meter tief ins Wasser ein, verwirrt Käfer, Wanzen, Eintagsfliegen, Zuckmücken und Libellen. Das Kunstlicht bringt ihre innere Uhr aus dem Takt: Bei blauwelligem Licht nehmen sie fälschlicherweise an, es sei Tag.
In Binnengewässern gedeiht das Leben. Obwohl sie nur ein Prozent der Erdoberfläche bedecken, beherbergen sie etwa zehn Prozent aller bekannten Tierarten, darunter ein Drittel aller Wirbeltiere. Wasserinsekten sind durch Kunstlicht offenbar stark beeinträchtigt, das haben mehrere Studien gezeigt. Sie werden geblendet und von Straßenlaternen magisch angezogen. Dort werden sie leichte Beute von Spinnen und Fledermäusen oder sterben an Erschöpfung. Die Lichtinseln in der Nacht könnten Habitate regelrecht zergliedern, was die Verbreitung und die Fortpflanzung der Tiere erschwert. Der britische Ökologe Callum Macgregor von der University of York sagt sogar, die Lichtverschmutzung sei der Hauptgrund für das Insektensterben. Sollte das stimmen, muss die Politik schleunigst handeln.
Setzen Städte und Gemeinden kaltweiße Lampen aus Absicht ein? Nein, eher aus Unkenntnis, sagt Daniel Schreiner. Weil die meisten Behörden fälschlicherweise davon ausgingen, dass sie zu solchen LEDs verpflichtet seien. »Aber das stimmt nicht.« Wer sich wie Schreiner mit Lichtkonzepten beschäftigt, der kommt an Leuchtdioden, kurz LED, nicht vorbei. Die Dioden zerbrechen nicht, leuchten fünfzigmal länger als Glühbirnen und sparen mehr Energie als alle anderen Leuchtmittel. Doch der Stromverbrauch geht dadurch nicht zurück: Je billiger das Licht, desto mehr Lampen leuchten.
Schluss mit dem Strahler am Dom
Daniel Schreiner überquert eine Straße, dann steht er vor dem Domplatz. Er stoppt vor der Treppe und deutet zum Rand des Platzes: »Sehen Sie die Oschis da drüben?« Er meint die Riesenscheinwerfer, die nachts den Dom anstrahlen. Die kommen alle weg, zu grell, zu weiß – und zu teuer. Außerdem zielt der Lichtkegel an Jesus, dem Erlöser, und seiner Kirche teilweise vorbei. Mit den neuen Leuchten soll das bald anders werden: Die so genannte Gobo-Technik ermögliche es, nur die Silhouette eines Objekts zu beleuchten. Das spare Geld, schütze die Nacht und sehe am Ende besser aus.
Der Stadtbaurat geht weiter. Auf dem Weg in die Altstadt fallen ihm Leuchten auf, die unnötig Licht verschwenden. Mal ist ein Schaufensterstrahler auf den Gehweg ausgerichtet, mal strahlt eine Kugellampe ihr Licht nach oben ab. An der evangelischen Christuskirche tappt er mit dem Fuß auf eine Lichtleisten-LED, die in den Boden eingelassen ist. »Da lässt sich wenig machen«, sagt er. Das Grundstück gehört der Kirche, da hilft nur Aufklärung.
Aufklärung sei die Methode, durch die man Eigentümer am ehesten zu mehr Lichtschutz bewegen könne, davon ist Schreiner überzeugt. Nur wer einen Neubau plant, muss spezielle Auflagen erfüllen, sonst kann man niemanden zu mehr Lichtschutz zwingen. Die Behörden schulen und informieren, zudem geht man als Vorbild voran, tauscht in Fulda immer mehr Leuchten aus, dimmt Straßenzüge, schaltet manche Laternen nachts ganz aus. Zudem wird an Radwegen mit Lichtschranken experimentiert, so dass LEDs nur aufleuchten, wenn ein Radler daran vorbeifährt. Seit 2015 beschäftigt sich Daniel Schreiner mit solchen Lichtkonzepten, denn Fulda musste damals wie alle Gemeinden auch eine Entscheidung treffen: Was wird aus den alten Funzeln? Welche Lampen sollen künftig leuchten?
»Sie versauen der Rhön die Nacht«Sabine Frank
Damals bekam die Stadt Besuch von einer Frau, die schon einen Plan hatte. Sabine Frank wurde beim Oberbürgermeister vorstellig, so lautet die offizielle Version. Inoffiziell heißt es, Frank habe den OB überrumpelt und ihn aufgefordert, ein nachhaltiges Lichtkonzept zu erstellen. Sie soll ihn so lange bearbeitet haben, bis er gar nicht mehr anders konnte. Ihr stärkstes Argument trug sie maximal diplomatisch vor: »Sie versauen der Rhön die Nacht.«
Das Biosphärenreservat war im Jahr zuvor gerade erst als Sternenpark ausgewiesen worden, da die Stadt Fulda jedoch hineinleuchtet, hätte man irgendwann um den Titel bangen müssen. Die Verantwortlichen begriffen schnell: Nur zusammen lässt sich etwas erreichen; Fulda bewarb sich ebenfalls, darf sich jetzt mit dem Titel »Erste deutsche Sternenstadt« schmücken. Das dient natürlich auch dem Marketing.
Nach 23 Uhr in der Altstadt, die Sonne steht tief unter dem Horizont. Zu früh, um Sterne zu gucken, für einen ihrer Rundgänge ist es Sabine Frank aber dunkel genug. Sie geht oft durch Ortschaften und misst nach, was in die Nacht strahlt. Sie findet taghell erleuchtete Parkplätze, schrille Leuchtreklame und auch Bodenstrahler, die ins Nichts leuchten. Schick sind neuerdings kleine Scheinwerfer in den Gärten, um Bäume, Skulpturen oder Häuserfassaden anzustrahlen. Und fast überall finden sich billige LED-Fackeln aus dem Baumarkt.
Bäume im Licht verlieren ihr Laub später
Um Menschen von derlei Unsinn abzuhalten, klärt Frank über mögliche Folgen für die Gesundheit auf. Schlaf-, Herz- und Kreislaufstörungen werden diskutiert, Argumente genannt, etwa dass Schlafmangel durch Schichtarbeit als wahrscheinlich krebsgefährdend eingeschätzt wird. Falls das alles nicht verfängt, zeigt Sabine Frank Fotos: Bäume im Spätherbst, die fast völlig entlaubt sind – bis auf jene Stellen, auf die Licht fällt. »Dann erst kapieren viele, was sie mit Kunstlicht anrichten«, sagt Frank. Sie setzt auf Emotionen, die Ratio überlässt sie anderen.
»Das Licht soll uns nicht blenden, sondern uns beim Sehen helfen«Sabine Frank
Wie es vernünftig geht, möchte Frank beim regionalen Energieversorger am Stadtrand zeigen. Vor dem erleuchteten Eingangstor hält sie an und steigt aus dem Auto. Warum das hier so hell sei, will sie vom Wachmann wissen. Kurzer Wortwechsel, dann spaziert sie durch das Tor. Ihr Ziel: die Musterleuchtenstraße. 15 Straßenlaternen stehen hier zum Test nebeneinander, jede verbreitet ein anderes Licht in Weiß, Gelb oder Orange. Sabine Frank schreitet die Reihe ab, stoppt bei einer namens Nicole, ihrer Lieblingslampe. Im bernsteinfarbenen Lichtkegel rezitiert sie ihren Lieblingssatz: »Das Licht soll uns nicht blenden, sondern uns beim Sehen helfen.« Es geht nicht um Helligkeit, sondern um Kontrast, soll das heißen.
Kaltlichtjünger nennt Sabine Frank ihre Feinde im Kampf für die Dunkelheit. Und das seien immer Männer. Darunter technikaffine Landschaftsarchitekten, die kaltweißes Licht edel und brillant empfinden, als Statussymbol missverstehen. Eben solche Kaltlichtjünger sitzen auch in den Behörden und machen ihr das Leben schwer. Technokraten, deren letztes Argument meist ein juristisches sei, um grelle Leuchten durchzusetzen. Sie verweisen dann auf die DIN-Norm EN-13201, mit der die Straßenbeleuchtung festgelegt ist. Darauf wartet Frank in solchen Diskussionen fast sehnsüchtig, nur um zu kontern: »Man muss nicht nach DIN-Norm beleuchten. Die Norm ist politisch nicht legitimiert und nicht verbindlich.« Und dann führt sie einen Leitfaden der EU-Kommission ins Feld, der die Behörden dazu aufruft, die Umwelt mit Licht nicht zu stören.
Nach Mitternacht. Mit Tempo 30 schleicht Sabine Frank durchs Gelände. Sie bremst für alle Tiere, fährt deshalb am liebsten in der Mitte. Irgendwann stoppt sie auf einer Anhöhe. »Das da drüben ist Silges«, sagt sie, ein Örtchen mit 380 Einwohnern. Die Straßenzüge sind in ein fahles Gelb getaucht, nichts blendet, nichts strahlt in die Nacht. Nur die Leuchtreklame eines Autohauses. Die Sterne funkeln hier schon, aber noch nicht kräftig genug. Frank fährt weiter in die Rhön hinein, immer höher und biegt schließlich in einen Feldweg. Nach einer Weile hält sie wieder, stellt den Motor ab, steigt aus. Von dort geht es zu Fuß weiter, auf einer Wiese bleibt Sabine Frank stehen, legt den Kopf in den Nacken. Die Sterne funkeln, Sternenbilder sind mühelos zu erkennen, sogar die Milchstraße. Kein Mond, nur sie im Zentrum ihrer Mission: der Nacht.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.