Übersehene Hohlräume: Liegt Nofretete in Tutanchamuns Grab?
Bis zu den Wirren des "Arabischen Frühlings" wälzten sich täglich Tausende von Touristen durch die pharaonenzeitlichen Gräber Ägyptens und bedrohten mit ihren Ausdünstungen deren empfindliche Wandmalereien, weswegen die ägyptische Altertümerverwaltung schon seit Längerem plante, die besonders gefährdeten Gräber im Tal der Könige auf dem westlichen Nilufer gegenüber von Luxor durch exakte Kopien für die Besucher zu ersetzen.
Den Anfang machte jetzt das berühmteste der Königsgräber, dasjenige des um 1323 v. Chr. im Alter von etwa 18 Jahren verstorbenen Königs Tutanchamun. Es ist zwar mit Abstand das kleinste, hat aber seine besondere Bedeutung dadurch gewonnen, dass es der britische Forscher Howard Carter im Jahr 1922 im weitgehend ungeplünderten Originalzustand aufgefunden hatte – als bislang einzige Bestattung eines Pharaos des Neuen Reichs. Anders als die anderen königlichen Grabanlagen umfasst der Bau, der seinerzeit die Bezeichnung KV (für "Kings Valley") 62 erhielt, nur vier kleine Räume, von denen zwei heute unzugänglich sind. Lediglich einer davon, die königliche Sargkammer, weist Wandmalereien auf.
Durchgänge zu weiteren Räumen
Nun ist der britische Ägyptologe Nicholas Reeves mit einer spektakulären Behauptung an die Öffentlichkeit gegangen. Er ist der Ansicht, dass Howard Carter damals nur einen kleinen Teil des Grabs wiederentdeckt haben könnte. Hinter den Felswänden der Sargkammer, so argumentiert der Wissenschaftler von der University of Arizona, verbergen sich weitere Räume – ihre zugemauerten Eingänge unter Verputz und Wandgemälden getarnt. Und Reeves glaubt auch zu wissen, welche ebenfalls ungeplünderte Bestattung sich dort noch heute befindet: Keine andere als die der berühmten Nofretete soll es sein, der Gemahlin von Tutanchamuns mutmaßlichem Vater, Pharao Echnaton. Veröffentlicht hat Reeves all dies vor wenigen Tagen als "Occasional Paper No. 1" innerhalb der Schriftenreihe des "Amarna Royal Tombs Project".
Reeves stützt sich dabei vor allem auf Messungen, die die in Madrid beheimatete Spezialfirma Factum Arte für die originalgetreue Grabkopie von KV 62 anfertigte. Deren Spezialisten hatten die Wände der bemalten Sargkammer exakt mit Lasern abgescannt, so dass die seit wenigen Monaten unweit des Carter-Hauses zugängliche Replik nicht nur bezüglich der Farbgebung kaum noch vom Original zu unterscheiden ist, sondern auch deren exaktes Oberflächenrelief wiedergibt (die Aufnahmen der Firma kann man sich hier in Hochauflösung ansehen).
Als Reeves diese dreidimensionale Oberflächenstruktur genauer in Augenschein nahm, entdeckte er exakt waagrecht und senkrecht verlaufende, linienförmige Störungen an denjenigen beiden Wänden, die nach bisherigem Kenntnisstand eigentlich aus massivem Felsen bestehen. Reeves deutet nun diese Anomalien als sichtbar gewordene Fugen: Hier liegen seiner Meinung nach die Übergänge zwischen der geglätteten Felswand und den vermauerten Eingängen in dahinter befindliche, bislang unentdeckte Grabkammern.
Das Grab als Vorbau einer viel größeren Anlage
Die betreffenden Spuren in der Sargkammer befinden sich zum einen an der nach Westen zeigenden Schmalwand. Hier sind die Sonnenbarke und die zwölf Paviane dargestellt, die als Symbol für die zwölf Nachtstunden stehen. Zum anderen fand Reeves Spuren an der breiten Nordwand. Auf dieser Wand sind drei Szenen abgebildet, welche, von links nach rechts betrachtet, den Werdegang des Grabherrn nach seinem irdischen Ableben zeigen: Zunächst wird der verstorbene König in Mumiengestalt durch seinen Nachfolger rituell durch Vollzug der "Mundöffnung" wiederbelebt; in der Mitte der Wand wird der durch seinen Tod vergöttlichte Herrscher mit Kugelperücke und Herrscherdiadem von der Himmelsgöttin Nut begrüßt; links anschließend tritt der Pharao mit dem charakteristischen gold-blau gestreiften Königskopftuch, gefolgt von seinem "Ka", einer der Erscheinungsformen seiner Seele, vor den mumiengestaltigen Unterweltgott Osiris.
Auch auf der (vom Eingang in die "Schatzkammer" durchbrochenen) Ostwand und der Südwand finden sich Malereien. Kaum bekannt ist, dass sich auf Letzterer ursprünglich linker Hand noch ein weiteres Motiv anschloss, nämlich das der stehenden Göttin Isis in Begleitung dreier hinter ihr hockender mumiengestaltiger Gottheiten. Diese Malerei bedeckte einst die Lehmziegelwand, die den Eingang in die Sargkammer verschloss und von Howard Carter, drei Monate nach Entdeckung des Grabs und abgeschlossener Bergung der Objekte aus der Vorkammer, eingerissen wurde.
Der vermauerte Durchgang mit dem Isis-Motiv hatte sich ursprünglich deutlich zwischen den beiden lebensgroßen, mit schwarzem Bitumen überzogenen Holzfiguren Tutanchamuns in der Vorkammer abgezeichnet. Er musste aufgebrochen werden, um Platz für die Bergung der vier ineinandergeschachtelten quaderförmigen Schreine aus vergoldetem Holz zu schaffen, die die Sargkammer fast vollständig ausfüllten.
Mit anderen Worten: Das heutige, vierräumige Tutanchamun-Grab wäre lediglich der Zugangsbereich eines älteren Grabs
Die bemalten Verputzbrocken galten als verschollen und wurden erst in den 1980er Jahren im Grab der Königin Tausret (KV 14) wiederentdeckt, wo Carter sie offensichtlich deponiert hatte. Unglücklicherweise zerstörte eingedrungenes Regenwasser die Fragmente kurz nach ihrer Wiederentdeckung unwiederbringlich. Immerhin belegt dieser Befund, dass die Erbauer von Tutanchamuns Grab genau das taten, was Reeves jetzt für die "unversehrten" Wände annimmt: Sie verputzten die Übergänge zwischen Felswand und Lehmziegelvermauerung mit Stuck und bemalten sie. Seinerzeit ermöglichte es ein kleiner Durchlass in der rechten unteren Ecke der Lehmziegelmauer dem einstigen Künstler, die Sargkammer nach Vollendung seines Werks wieder zu verlassen. Auf den alten Grabungsfotografien von 1922 erscheint dieser Durchlass mit einem senkrecht aufgestellten großen flachen und runden Flechtkorb abgedeckt.
Entstanden die Malereien gleichzeitig – oder nacheinander?
Dass damals sämtliche Wände der Sargkammer noch feucht und die Malereien auf ihnen noch nicht getrocknet waren, lässt sich daran ersehen, dass sie rasch von Schimmel befallen wurden. Wie neuere Untersuchungen im Rahmen eines Restaurierungsprojekts ergeben haben, sind die Schimmelsporen, die heute alle Wände als dicht gesäte, kreisförmige dunkle Flecken überziehen, seit Jahrtausenden abgestorben, so dass sie zumindest heute keine weiteren Schäden mehr verursachen können.
Problematisch sind sie eher für die Beweiskette von Reeves. Die hohe Feuchtigkeit deutet nämlich darauf hin, dass die Malereien mehr oder weniger gleichzeitig entstanden. Und das wiederum verträgt sich vordergründig nicht mit einer seiner entscheidenden Annahmen. Reeves greift zum einen eine Beobachtung auf, die schon 1984 durch Gay Robins erfolgte. Diese hatte bemerkt, dass dem Proportionskanon der Figuren auf der breiten Nordwand der in 20 Einheiten unterteilte Maßstab der Amarna-Zeit zu Grunde liegt. Die Gestalten der übrigen drei Wände hingegen zeigen den in 18 Einheiten unterteilten Maßstab der Nach-Amarna-Zeit, wodurch sie etwas gedrungener wirken. Reeves sieht darin ein deutliches Indiz für eine zeitliche Lücke zwischen dem Entstehen der Wandmalereien in der Sargkammer. Die Nordwand müsste deutlich früher bemalt worden sein als die übrigen Flächen.
Zum anderen erbrachten Analysen des Paul-Getty-Instituts in Malibu, das mit Restaurierungsaufgaben an den Wandmalereien beauftragt worden war, den Befund, dass die Malereien der Nordwand zunächst direkt auf dem weißen Verputz aufgetragen worden waren, während die übrigen Wände vor Anbringung der Figuren erst noch eine gelbe Grundierung erfahren hatten. Dieses Gelb verkörpert in den Sargkammern (nicht nur bei Königen, sondern auch bei hohen Beamten wie im Grab des Maya, des Schatzmeisters Tutanchamuns, in Saqqara) die Farbe und das Material Gold, das "Fleisch der Götter". In einem weiteren Arbeitsschritt wurde die weiße Nordwand "vergoldet", indem man sie gelb bemalte, wobei die dunklen Umrisslinien der bereits vorhandenen Figuren durch unvorsichtiges Hantieren teils übermalt wurden. Die naheliegende Schlussfolgerung von Reeves lautet, dass offensichtlich ein Raum, der ursprünglich nur eine bemalte Wand enthielt, nämlich die heutige Nordwand der Sargkammer, nachträglich durch Anbringung weiterer funerärer Motive und durch rituelle "Vergoldung" in eine Sargkammer umgewandelt worden ist. Die ursprüngliche Aufgabe dieser Wand hätte hingegen lediglich darin bestanden, den Zugang in mindestens einen dahinterliegenden Raum zu kaschieren.
Aus dem Korridor wurde eine Grabkammer
Da sich die markanteste senkrechte Rille an der Mitte der Nordwand ziemlich genau dort befindet, wo eine gedachte Verlängerung der Vorkammerwestwand enden würde, nimmt Reeves an, dass es sich hier ursprünglich um einen Korridor handelte, der zu einem noch immer unberührten Grab gehörte und den die Erbauer schließlich am nördlichen Ende zumauerten. Der rückwärtige Teil – unmittelbar vor der Vermauerung – soll später nach Westen hin zu einem größeren Raum, nämlich der Sargkammer des zweiten, Tutanchamun gehörenden Grabs, erweitert worden sein. Im Zuge dieser Umbaumaßnahmen wurde die Wand dann auch mit den entsprechenden Malereien auf gelbem Grund versehen.
Mit anderen Worten: Das heutige, vierräumige Tutanchamun-Grab wäre lediglich der Zugangsbereich eines älteren Grabs, das am Ende des von außen hereinkommenden Zugangskorridors gleich einen Knick der Achse um 90 Grad nach rechts aufweist. Nachdem Reeves auch hinter der Westwand der Sargkammer, in etwa gegenüber dem Eingang in die Schatzkammer, von einem vermauerten Raum ausgeht, den er etwa gleich groß wie den von der Vorkammer aus zugänglichen so genannten Annex-Raum annimmt, erhält er eine von drei Nebenräumen flankierte Raumachse, bei der nur die Asymmetrie etwas befremdlich wirkt. Für sein Grundschema zitiert Reeves als Parallelen frühere Königinnengräber im Tal der Könige, vor allem aber das ursprünglich für Hatschepsut noch als Hauptgemahlin von Thutmosis II. vorgesehene Grab (WAD 2) im Wadi Sikket Tâquet el-Zaid, einem versteckten Seitental noch südlich vom Tal der Königinnen. Denn anders als die neuzeitlichen Bezeichnungen nahelegen, wurden im "Tal der Könige" während der 18. Dynastie, zu der auch Tutanchamun gehörte, sowohl Könige als auch Königinnen beigesetzt, und in einigen wenigen Ausnahmefällen sogar hohe Würdenträger, die nicht direkt mit dem Herrscherhaus verwandt waren.
Tutanchamuns Grab ist eine Zweitverwertung – aber von wem stammt sie?
Erst in der 19. Dynastie kamen im weiter südlich gelegenen "Tal der Königinnen" zu den überwiegenden Prinzenbestattungen auch die Gräber der Königsgemahlinnen hinzu. Allerdings weist im Tal der Könige bereits das erst im Jahr 2000 als Bestattungsort der Tiaa, einer Nebengemahlin Amenophis' II. und Mutter Thutmosis' IV., identifizierte und deswegen nach dem Hatschepsut-Grab entstandene Grab KV 32 dieses Schema mit dem Achsenknick nicht mehr auf. Sollte es sich bei KV 62 ursprünglich um ein Königinnengrab handeln, wäre sein Grundriss somit ein Rückschritt in der Entwicklungsgeschichte.
Dies spricht nun wieder eher für die Anhänger der "traditionellen" Sichtweise. Ihr zufolge gehörte die Anlage KV 62, in der Tutanchamun seine letzte Ruhe fand, zur Gruppe der Gräber, die ursprünglich für nichtkönigliche hohe Würdenträger angelegt worden waren. Dafür spricht neben der geringen Größe von gerade einmal 110 Quadratmeter Grundfläche noch die Tatsache, dass die Wände in den Felsenkammern dieser Kategorie nur geglättet und eventuell noch mit weißem Verputz, aber nie mit Wandmalereien versehen wurden. Auch die Lage seines Eingangs unten auf der Sohle des Tals der Könige legt dies nahe; die Zugänge in die Pharaonengräber befanden sich überschwemmungssicher höher am Hang. Am ehesten kommt als ursprünglicher Besitzer von KV 62 der Haushofmeister Eje in Frage, der, nachdem mit dem Ableben Tutanchamuns die Herrscherfamilie ausgestorben war, hochbetagt als dienstältester und erfahrenster Beamter dessen Nachfolge angetreten hatte. Eje könnte das für ihn vorgesehene Grab dem verstorbenen Regenten überlassen haben, da dessen geplante Grablege zum überraschend frühen Todeszeitpunkt des Pharaos noch nicht fertig gestellt war. Dem Einwand, dass das Grab KV 62 mit vier Räumen deutlich größer ausfällt als die übrigen, nur ein- oder zweiräumigen Beamtengräber im Tal der Könige lässt sich damit begegnen, dass sich Eje schon unter Pharao Echnaton in dessen damaliger Hauptstadt Amarna ein prunkvolles, von Säulen gestütztes Felsengrab hatte anlegen lassen, das die Bestattungsplätze der anderen Würdenträger an Größe und Ausstattung bei Weitem übertraf.
Ist Nofretete in KV 62 sogar abgebildet?
Ganz anders jedoch sieht dies Reeves. Er nimmt an, dass es sich bei der Besitzerin des ersten Grabs um Nofretete handelt, die Gemahlin König Echnatons. Nur sie komme aus chronologischen Gründen für eine entsprechende Anlage in Frage. Er geht sogar so weit, dass er in der Gestaltung des Gesichts der mumiengestaltigen Herrscherpersönlichkeit, an der ihr Nachfolger die rituelle Mundöffnung vornimmt, stilistische Elemente der Nofretete entdeckt haben will. Nach Reeves' Meinung ist hier also ursprünglich die Gemahlin Echnatons dargestellt, die von Tutanchamun wiederbelebt wird. Erst als dann Tutanchamun in diesem Grab beigesetzt wurde, sei die Szene umgewandelt worden: Nun vollzieht dessen Nachfolger Eje die Mundöffnung an der Mumie Tutanchamuns.
Die Chronologie der Ereignisse rekonstruiert der Ägyptologe wie folgt: Ursprünglich soll das Grab KV 62 für Nofretete als königliche Hauptgemahlin angelegt worden sein, das dann, als sie Mitregentin wurde, eine Erweiterung erfuhr, um nach Antritt ihrer Alleinherrschaft nach dem Tod ihres Mannes zu einem "Königsgrab" ausgebaut zu werden, das zu allerletzt von ihrem direkten Nachfolger Tutanchamum mitbenutzt wurde.
Dieses Konstrukt setzt nun allerdings eine Herrscherchronologie voraus, die bei Weitem nicht von allen Ägyptologen geteilt wird. Reeves vertritt die Annahme, dass Nofretete ihren Gemahl Echnaton überlebte. Das ist wahrscheinlicher geworden, seit vor wenigen Jahren in den Steinbrüchen von El-Berscheh durch niederländische Ägyptologen eine Inschrift entdeckt wurde, welche die Existenz der Nofretete immerhin noch im vorletzten Regierungsjahr ihres Gatten belegt. In der traditionellen Chronologie folgt jedoch auf Echnaton zunächst noch ein König mit dem Namen Semenchkare, von dem beispielsweise auch einige Objekte aus dem Grabschatz von Tutanchamun stammen. Sonst ist über ihn nur sehr wenig bekannt – nicht einmal sein Verwandtschaftsverhältnis zur regierenden Königsfamilie ist klar. Nach Ausweis eines Wandreliefs im Grab des Schatzhausvorstehers Merire II. in Amarna (Grab 2) war er mit Merit-Aton verheiratet, der ältesten der insgesamt sechs Töchter von Echnaton und Nofretete. Bis vor Kurzem galt die rätselhafte Mumie eines jungen Mannes aus dem bescheidenen, kleinformatigen Grab KV 55, die durch neue DNA-Tests als sterblicher Überrest des leiblichen Vaters von Tutanchamun identifiziert wurde, als diejenige des Semenchkare. Allerneuesten Untersuchungen zufolge, deren nachprüfbare wissenschaftliche Veröffentlichung jedoch noch nicht erfolgte, soll die Mumie nun doch von einem älteren Mann stammen, wodurch sie jetzt überwiegend für die Echnatons gehalten wird, zumal DNA-Analysen ergaben, dass die in KV 55 bestattete Person – wie für Echnaton gesichert, aber auch für Semenchkare nicht auszuschließen – aus der Ehe von Amenophis III. mit Teje hervorgegangen ist.
Altbekannte mit neuem Namen
Bei seiner Thronbesteigung wählte Semenchkare den Thronnamen "Anch-cheperu-Re", dessen weibliche Version "Anchet-cheperu-Re", mit der Femininendung "-t", zuvor offensichtlich schon Nofretete als Beinamen getragen hatte. Für Reeves und andere Ägyptologen ist diese Beinahenamensähnlichkeit kein Zufall, sondern Beleg dafür, dass Nofretete als Mitregentin Echnatons die weibliche Variante des Thronnamens, und nach ihrer Alleinregentschaft, da sie als Pharao eine männliche Rolle einnehmen musste, dessen grammatikalisch maskuline Variante annahm. Semenchkare ist also laut Reeves niemand anderes als Nofretete als Alleinregentin nach dem Tod ihres Mannes. Und in dieser Funktion soll sie auch mit KV 62 ein standesgemäßes Grab im Tal der Könige erhalten haben.
Warum sollte Nofretete ein derart anachronistisches Grab besitzen?
Man kann sich nur schwer vorstellen, dass demzufolge "Pharao" Nofretete als biologische Frau seine/ihre eigene Tochter geehelicht haben müsste. Und da es sich bei der Rekonstruktion des Grundrisses von KV 62 durch Reeves um ein Königinnengrab handelt, müsste Nofretete noch zu ihrer Zeit als Hauptgemahlin, spätestens als Koregentin Echnatons, mit dem Bau von KV 62 begonnen haben: wohlgemerkt in der Nekropole gegenüber von Theben, dem Hauptkultort des verfemten vormaligen Reichsgottes Amun, und dies auch noch, obwohl in der neuen Reichshauptstadt Echnatons, Achet-Aton (heute Tell el-Amarna), ein Familiengrab existierte. Auch das klingt nicht gerade plausibel.
Sollte im nur wenige Meter von KV 62 entfernten Grab KV 55 tatsächlich Echnaton beigesetzt worden sein, kann es sich nur um eine Umbettung aus diesem Familiengrab aus Amarna gehandelt haben. Diese Umbettung setzt man in der Regel unter Tutanchamun an, nachdem dieser in seinem dritten Regierungsjahr seinen ursprünglichen Namen Tutanchaton (nach dem unter Echnaton alleinig verehrten Sonnengott Aton) zu Gunsten des traditionellen Reichsgottes Amun abgeändert und Amarna aufgegeben hatte, so dass Theben wieder zum religiösen Mittelpunkt des Reichs wurde. KV 55 war vermutlich für Echnatons Mutter Teje angelegt worden, zumindest fand man ihren vergoldeten Sargschrein in diesem Grab. Ob sie je darin bestattet wurde, ist fraglich, denn sie wäre dann aus dem Grab entfernt worden, um ihrem Sohn Platz zu machen. Aufgefunden wurde ihre Mumie in einem Sammelversteck in KV 35. Doch warum wurde Echnaton, wenn er denn wirklich der Tote aus Grab KV 55 ist, in ein bescheidenes, wahrscheinlich unvollendet gebliebenes Einkammergrab mit einem kleinen Nebenraum ohne jegliche Wandmalereien umgebettet, während seine Gemahlin gleich nebenan in KV 62 ein prunkvolles Königinnengrab erhalten haben soll?
Kein Knick in der Grabkammer
Betrachtet man die Belegungsgeschichte des Tals der Könige, so verließ Amenophis III. für sein Grab das Haupttal, das jetzt bevorzugt die Grabstätten hoher Würdenträger (unter anderem der königlichen Schwiegereltern Juja und Tuja sowie deren Tochter Teje) aufnahm, und verlegte sein eigenes Grab in ein westliches Nebental. Im selben Seitental wurde ein weiteres Grab begonnen, das aber unvollendet blieb und von dem man vermutet, dass es für seinen Sohn und Nachfolger Echnaton begonnen wurde, als er noch unter seinem ursprünglichen Namen Amenophis IV. in Theben residierte. Dann wurde die Hauptstadt nach Amarna verlegt, wo ein Familiengrab mit einem völlig neuen Grundrisstyp entstand: Damit die Strahlen des Sonnengottes Aton bis in die rückwärtige Sargkammer vordringen konnten, knickte die Hauptachse des Grabs nicht mehr, wie bislang üblich, nach einer gewissen Distanz rechtwinklig ab, sondern verlief geradlinig nach hinten.
Dieser neue Grabgrundriss wurde, trotz der allgemeinen Abkehr vom monotheistischen Aton-Glauben, bei den späteren königlichen Bestattungen beibehalten, denn der Tutanchamun-Nachfolger Eje übernahm ihn auch für sein Grab, das im selben Seitental wie jenes von Amenophis III. entstand und möglicherweise für Tutanchamun begonnen worden war. Auch die künftigen Könige, beginnend mit Haremhab, ließen sich fortan in geradlinig in den Berg geschlagenen Anlagen beisetzen. Warum sollte Nofretete zeitlich dazwischen ein auch noch von der Typologie her anachronistisches Grab besitzen?
Äußerten sich Fachleute wie die beiden Museumsdirektoren Dietrich Wildung und Sylvia Schoske, etwa gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", fast enthusiastisch über die mögliche Neuentdeckung, scheint bei anderen Ägyptologen eher die Skepsis zu überwiegen. So rät der amerikanische Amarna-Experte Aidan Dodson zur Zurückhaltung: Er könne sich auch vorstellen, dass die senkrechten Rillen, die Reeves als Hinweise auf verborgene Eingänge sieht, als Folge der altägyptischen Steinmetztechniken entstanden. Unter Einsatz von einfachen Senkbleien, Libellen und rechtwinkligen Winkelhölzern mussten die Arbeiter damals mit Hartholzschlegeln und Bronzemeißeln – denn kulturgeschichtlich gehört Tutanchamun noch in die Spätbronzezeit! – glatte, senkrechte Felswände aus den Bergen herausstemmen.
Radarmessungen könnten über das Schicksal von Reeves Theorie entscheiden
Neben vielen anderen Experten verweist auch Kent Weeks, der Leiter des Theban Mapping Project, darauf, dass der Befund zunächst durch zerstörungsfreie Techniken wie Radar zweifelsfrei abgeklärt werden muss. Erst danach kann man sich Gedanken darüber machen, wie man mit den Wandmalereien verfährt, falls unter ihnen tatsächlich umfangreiche Hohlräume nachgewiesen werden.
Sollte Reeves wirklich Recht behalten, dürfte dies übrigens auch den Ägyptenesoterikern Auftrieb verleihen, denn er stellt seinem Beitrag eine Prophezeiung der unter ihrem Wahlnamen Umm Sethi (auch Omm Sety) bekannt gewordenen Engländerin Dorothy Eady voran, die sich für die Reinkarnation einer Tochter von Pharao Sethos hielt und deswegen bis zu ihrem Tod im April 1981 unweit von dessen Tempel in Abydos lebte. Nach ihren Worten soll ihr ihr einstiger königlicher Vater nach einigem Zögern verraten haben, dass sich das noch unversehrte Nofretete-Grab nahe bei demjenigen Tutanchamuns befinden soll, und zwar an einer Stelle, an der man nie darauf käme, danach zu suchen.
Nicholas Reeves war in den frühen 1990er Jahren schon einmal im Zusammenhang mit Tutanchamun mit einer recht spektakulären Theorie an die Öffentlichkeit getreten, ohne aber über die Fachwelt hinaus groß wahrgenommen zu werden. Damals äußerte er die Vermutung, dass sich die Totenbuchpapyri, die unabdingbar zu jeder Bestattung gehörten, aber im umfangreichen Grabschatz von KV 62 fehlten, in Hohlräumen in den Körpern der beiden lebensgroßen hölzernen Wächterstatuen befinden müssten, die in der Vorkammer des Tutanchamun-Grabs den zugemauerten Zugang in die anschließende Sargkammer flankierten.
Seinen damaligen Vorschlag, die Skulpturen zu röntgen, ignorierte die ägyptische Altertümerverwaltung seinerzeit einfach. Doch heute, nachdem sich Reeves, aktuell Lehrstuhlinhaber an der University of Arizona, durch zahlreiche Publikationen als Experte für die ausgehende 18. Dynastie ausweisen konnte und mit seiner neuen Theorie für weltweites Aufsehen sorgt, werden die ägyptischen Behörden in irgendeiner Weise Stellung dazu beziehen müssen. Und auf deren Reaktion kann man gespannt sein!
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