Innovationen: Neun Ideen, die die Welt verändern könnten
1. Umprogrammierbare Zellen
Könnten wir irgendwie unsere körpereigenen Zellen befehligen, so könnten wir sie vielleicht beauftragen, Insulin herzustellen, Tumoren anzugreifen oder uns auf andere Weise zu helfen. Allerdings ist die "Übernahme" einer Zelle gar nicht so einfach. Gängige Methoden beinhalten beispielsweise das gezielte Durchdringen der Zellwände mit einem Virus, das dann aber auch oft dauerhafte Schäden anrichtet.
2009 gelang Forschern des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zufällig, dieses Problem zu lösen. Die Forscher spielten mit einer Methode herum, bei der sie große Moleküle und Nanomaterialen mit Hilfe einer mikroskopischen Wasserpistole in Zellen einschleusten. Hauptsächlich versuchten sie, etwas in die Zelle zu bekommen – und zwar bestimmte Dinge, die das Zellverhalten verändern, aber dabei die Zelle am Leben lassen. Dem Chemieingenieur Armon Sharei fiel auf, dass einige der mit Wasser beschossenen Zellen vorübergehend deformiert wurden – und gleichzeitig Substanzen hineingelangten. "Wie sich gezeigt hat, kann man die Zellmembran für einige Zeit einreißen, wenn man die Zelle nur schnell genug deformiert", meint Sharei. Allerdings war die Wasserpistole ein zu grobes Werkzeug. Es bedurfte einer schonenden Methode, um die Zellen zusammenzupressen.
Sharei – der unter Klaves F. Jensen, einer der Gründerfiguren der Mikrofluidikforschung, sowie dem Biotech-Pionier Robert S. Langer arbeitet – entwickelte einen so genannten Silizium-Glas-Mikrochip, in den Nanokanäle geätzt sind, durch die dann die Zellen strömen. Diese Kanäle verengen sich allmählich und immer weiter kegelförmig, bis der Spalt schmaler als die Zellen selbst ist. Die gepressten Zellen werden im Verlauf aufgeweicht und drängen sich durch die Öffnung. Während des Prozesses bilden sich vorübergehend Löcher in der Zellmembran. Sie sind sehr winzig, jedoch breit genug, um eine Vielzahl an verhaltensändernden Stoffen wie Proteine, Nukleinsäuren und Kohlenstoffnanoröhrchen durchzulassen. Die Technik lässt sich sogar bei Stamm- und Immunzellen anwenden, die sich in zuvor erprobten Manipulationsverfahren als viel zu empfindlich erwiesen hatten. "Wir waren überrascht, auf wie viele Zellen sich dieser Ansatz anwenden lassen könnte", so Sharei.
Seit der ursprünglichen Entdeckung entwickelte die Forschungsgruppe 16 unterschiedliche Mikrochips mit feinen Kanalsystemen, die jeweils dafür konzipiert sind, verschiedenartige Zellen zusammenzupressen. Es gibt bald weitere Mikrochips dieser Art, und der Apparat, der schon 500 000 Zellen abwickeln kann, wird stetig schneller und leistungsfähiger. Die Forschergruppe hat bereits ein Start-up namens SQZ Biotech gegründet, um ihre Technologie zu kommerzialisieren – Wissenschaftler aus Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien werden demnächst deren Produkte einsetzen. (Ryan Bradley)
2. Transparente Lebewesen
Vor fünf Jahren schnitt Viviana Gradinaru in einem Neurobiologielabor Mäusehirne in dünne Stücke und trug mühsam Abbildungen der zweidimensionalen Scheibchen für eine dreidimensionale Darstellung auf dem Computer zusammen. In ihrer freien Zeit sah sie sich allerdings die Körperweltenausstellung an. Besonders faszinierten sie die ausgestellten "plastinierten" Überbleibsel des menschlichen Blutkreislaufs. So kam ihr in den Sinn, dass sie vieles von dem, was sie im Labor machte, mit einem ähnlichen Verfahren eigentlich viel besser erreichen könnte.
"Klares Gewebe" gibt es seit mehr als einem Jahrhundert, jedoch muss man bei den meisten Methoden Gewebeproben in Lösungsmitteln einweichen. Das verläuft sehr schleppend und zerstört normalerweise die fluoreszierenden Proteine, die zum Markieren der interessanten Zellen unabdingbar sind. Für die Verbesserung konzentrierten sich Gradinaru, zu jener Zeit Doktorandin, und ihre Kollegen des Neuroimmunologielabors von Paul Patterson darauf, die Fettmoleküle des Gewebes zu ersetzen, die diese undurchsichtig machen. Um das Gewebe jedoch vor dem drohenden Kollaps zu bewahren, muss ihm das Ersatzmaterial eine neue Struktur verpassen, wie es sonst die Lipide tun.
Zuerst schläferten sie einen Nager ein und pumpten ihm durch sein Herz Formaldehyd in den Körper. Als Nächstes entfernten sie die Haut und füllten die Blutgefäße mit Acrylamid, einem weißen, geruchlosen und kristallinen Pulver, das leicht zu einem Gel gemacht werden kann. Dessen Monomere schufen ein stützendes Hydrogelnetz, das die Fette ersetzte und das Gewebe wieder durchsichtig werden ließ. So gelang es ihnen, einen ganzen Mäusekörper in nur zwei Wochen transparent zu machen.
Binnen kürzester Zeit benutzten sie durchsichtige Mäuse, um die kompletten Nervensysteme der Tiere abzubilden. Die Durchsichtigkeit ermöglichte es ihnen, periphere Nerven zu identifizieren – kleine Nervenstrangbündel, die weit gehend unerforscht sind – und die Verbreitung von Viren über die Blut-Hirn-Schranke der Maus zu kartieren. Dies gelang ihnen, indem sie das Virus mit einem fluoreszierenden Wirkstoff markierten, es dann in den Schwanz der Maus injizierten und dabei beobachteten, wie es sich seinen Weg ins Gehirn bahnte. "Das ist in etwa so, als würde man die ganze Welt betrachten statt nur kleiner Ausschnitte davon", meint Gradinaru. Das Verfahren mindert die Möglichkeiten für menschliche Fehler, beschleunigt die Laborarbeit, produziert mehr Daten und benötigt weniger Labortiere. Gradinaru bietet jedem anfragenden Labor das Rezept für ihr Hydrogelkonzept an. Im nächsten Schritt will sie die Technik anwenden, um Krebs- und Stammzellen ausfindig zu machen, diese abzubilden und so mehr darüber zu lernen. (Ryan Bradley)
3. Mit Spucke angetriebene Brennstoffzellen
Muhammad Mustafa Hussain, Professor der Elektrotechnik an der King Abdullah University of Science and Technology in Saudi-Arabien, widmet fast seine gesamte Zeit dem Bau von extrem kleinen Apparaten. "Macht man die Dinge ganz klein, bekommt man schnelle Resultate", sagt er. Als er 2010 damit begann, eine reichlich vorhandene, erneuerbare Energiequelle zu erschließen, die an abgelegenen Orten für Maschinen zur Wasseraufbereitung oder die Diagnose von Krankheiten eingesetzt werden könnte, musste er zwangsläufig klein anfangen. Eine winzige mikrobielle Brennstoffzelle zum Beispiel wäre dafür ein natürlicher Ausgangspunkt. Es war allerdings nicht zwangsläufig klar, dass er diese Brennstoffzelle mit Speichelflüssigkeit betreiben würde.
Den Einfall, Spucke zu benutzen, hatte Hussains Kollegin Justine E. Mink, damals noch Doktorandin in seinem Labor und jetzt bei Dow Chemical. Damals versuchte Mink gerade, für Diabetiker Geräte zur Blutzuckerkontrolle zu konstruieren – mit Energiequellen, die klein genug sind, um sie neben die Bauchspeicheldrüse ins Körperinnere zu bauen. Eine mikrobielle Brennstoffzelle – diese erzeugt Energie, indem man organisches Material (im Speichel reichlich vorhanden) an Bakterien verfüttert, die dann Elektronen produzieren – war ein natürlicher Kandidat für ihre und Hussains Projekte. Deshalb nahm sie zwei besonders gut leitende Graphenelektroden, belud diese mit Speichel umsetzenden Bakterien, und innerhalb weniger Wochen produzierten sie beinahe ein Mikrowatt, ein millionstel Watt Leistung.
Ein Mikrowatt liefert zwar nur eine sehr geringe Energiemenge, reicht aber für "Labor-auf-dem-Chip"-Geräte, Diagnosewerkzeuge und Überwachungsinstrumente wie Minks Diabetessonde vollkommen aus. Hussain arbeitet eng mit Firmen zusammen, die künstliche Organe per 3-D-Druck herstellen, um seine Brennstoffzelle in eine künstliche Niere zu integrieren, wo dann eine ganze Bandbreite an Körperflüssigkeiten Brennmaterial liefern könnte. Dies stelle den ersten Schritt einer Aufskalierung dar, so der Forscher: Sein Langzeitziel besteht darin, Elektrizität aus Biomüll zu erzeugen, um Entsalzungsanlagen in armen Ländern zu betreiben. (Ryan Bradley)
4. Displays zur Verbesserung des Sehvermögens
In den USA benötigen mehr als 40 Prozent der 40-Jährigen Lesebrillen – und dieser Wert erhöht sich sogar auf 70 Prozent bei den 80-Jährigen und Älteren. "Wenn wir älter werden, spielen Brechungsfehler eine größere Rolle in unserem Leben", erklärt Gordon Wetzstein, Assistenzprofessor der Elektrotechnik in Stanford. Doch Brillen und Kontaktlinsen zu deren Korrektur sind keinesfalls immer ideal. Wenn man zum Beispiel weitsichtig ist, braucht man keine Brille, um während des Autofahrens den Verkehr zu betrachten, sondern man benötigt sie, um die Geschwindigkeitsanzeige oder das Navigationssystem zu sehen. Die beste Lösung in solchen Fällen, so Wetzstein, wären selbstkorrigierende Darstellungen – also Bildschirme, die praktisch die Brille für einen tragen.
Wetzstein und seine früheren Kollegen vom MIT und der University of California in Berkeley haben genau diesen Bildschirm entwickelt. Das selbstkorrigierende Display macht ein Smartphone oder einen Tablet-Bildschirm mit nur zwei Anpassungen zu hochauflösenden Geräten. Die erste ist eine preiswerte, mit Nadelstichlöchern überzogene Folie, die den Bildschirm abdeckt. Die zweite besteht aus Algorithmen, die in das Smartphone oder das Tablet programmiert werden und die die Position des Sehenden im Verhältnis zum Bildschirm bestimmen. Dann verziehen sie die projizierte Darstellung je nach ärztlicher Sehvorgabe. Sobald das verzerrte Bild durch die Matrix aus Nadelstichen in der durchsichtigen Bildschirmfolie geschleust wird, erstellt die Hardware-Software-Kombination Fehler auf dem Bildschirm, die wiederum Fehler im Auge ausgleichen: Es entsteht ein klares Bild für den Betrachter. Der Bildschirm kann Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit, Hornhautverkrümmung und weitere komplizierte Sehprobleme korrigieren. Das Team präsentierte seine Arbeit im August 2014 auf der SIGGRAPH-Konferenz in Vancouver.
Informelle Versuche mit einigen wenigen Benutzern bewiesen, dass die Technologie funktioniere, erklärt Wetzstein, aber es würden noch groß angelegte Studien benötigt, diese weiterzuentwickeln. Dabei planen die Forscher auch die Entwicklung eines Schiebers, der zur manuellen Anpassung der Bildschärfe genutzt werden kann. Wetzstein betont, dass die Technologie ein Segen für Menschen in Entwicklungsländern sein könnte, da diese eher Zugang zu Mobilgeräten als zu verschreibungspflichtigen Brillen und Kontaktlinsen hätten. (Rachel Nuwer)
5. Ultraharter, wiederverwertbarer Kunststoff
Als die Chemikerin Jeannette Garcia einen kleinen Klumpen einer weißen Substanz, nicht größer als ein Bonbon, in einem kurz zuvor benutzten Kolben fand, hatte sie keine Ahnung, was sie da erschaffen hatte. Das Material klebte so fest am Glas, dass sie es mit einem Hammer befreien wollte. Aber als sie mit ihrem Werkzeug gegen das Material schlug, wollte es einfach nicht zerbröseln. "Als ich seine wahre Härte erkannte, wollte ich unbedingt herausfinden, was ich da erschaffen hatte", erklärt Garcia.
Garcia, eine Wissenschaftlerin bei IBM Research-Almaden, ersuchte einige ihrer Kollegen um Hilfe, damit sie mit ihr das Rätsel lösten. Sie waren auf eine neue Familie von Duroplast-Polymeren gestoßen: außerordentlich stabile Kunststoffe, die für viele Produkte, von Smartphones bis zu Flugzeugflügeln, verwendet werden. Duroplaste machen rund ein Drittel aller weltweit produzierten Polymere aus, aber sie lassen sich schlecht recyceln. Garcias neuartiges Material, mit dem Spitznamen Titan, ist der erste wiederverwertbare, industriell produktionsfähige Hartkunststoff, der je entdeckt wurde.
Im Unterschied zu herkömmlichen Duroplasten, die sich der Wiederverwertung größtenteils entziehen, kann das neue Polymer durch eine chemische Reaktion neu aufbereitet werden. Garcia und Kollegen veröffentlichten ihre Entdeckung im Mai in "Science". Die globale Nachfrage nach strapazierfähigen, recycelbaren Kunststoffen dürfte rasch steigen. Bis 2015 sollen beispielsweise in Europa und Japan 95 Prozent aller produzierten Autoteile wiederverwertbar sein. "Es ist das perfekte Beispiel für ein taugliches Material", meint Garcia. Sie denkt, dass ihr neuartiges Duroplast sogar noch für eine ganze Reihe zusätzlicher Anwendungen weiterentwickelt wird, etwa Korrosionsschutz, antimikrobielle Beschichtungen, Medikamentenverabreichung, Klebstoffe, 3-D-Druck oder die Wasseraufbereitung.
Titan lieferte zudem gleich einen Bonus mit. Garcia und Kollegen spürten noch eine zweite Form des Materials auf – eine selbstheilende, gelartige Substanz, die sie Hydro tauften und die sich bei niedrigeren Temperaturen bildet. "Wenn man es zweiteilt und dann wieder zusammenfügt, verbindet es sich sofort", erklärt Garcia. Man könnte es als Klebstoff nutzen oder auch als selbstheilenden Lack, merkt sie an. Ähnliche Verbindungen könnten folgen. "Es ist nicht nur dieses eine neue Polymer, sondern eine ganze Reaktion, die Polymere bildet." (Rachel Nuwer)
6. Drahtloses Aufladen mit Schallwellen
Im Jahr 2011 griff Meredith Perry, damals Studentin der Paläobiologie an der University of Pennsylvania, nach ihrem Laptop-Ladegerät und fragte sich gleich, ob dieses doch recht sperrige Kabel wohl eines Tages überflüssig würde – und machte sich auf die Suche, wie man diese Idee verwirklichen könnte. Perry lernte, dass bereits kabellose Stromtransmitter existierten, die auf elektromagnetischer Resonanz und Induktion basierten. Allerdings funktionieren sie nur bei geringer Reichweite – ein "Fluch" des Abstandsgesetzes, nach welchem die Intensität elektromagnetischer Strahlung umgekehrt proportional zur Distanz der aussendenden Quelle ist: Die Intensität fällt etwa bei verdoppelter Entfernung auf ein Viertel des Anfangswerts.
Mechanische Vibrationen hingegen kämpften mit diesem Problem nicht. Es schien daher eine bessere Idee, sich die Schwingungen der Luft mittels piezoelektrischer Wandler zu Nutze zu machen, so dass die mechanische Energie in Elektrizität überführt würde. Weil Schall nur aus vibrierenden Luftmolekülen besteht, könnte er also zumindest theoretisch Energie übertragen. Ultraschall wäre diesbezüglich perfekt, da er harmlos, für menschliche Ohren nicht hörbar und hochenergetisch ist.
Als Perry diese Idee mit anderen Forschern diskutierte, prophezeiten ihr viele, dass das niemals funktionieren würde – es sei unmöglich, aus Ultraschall genügend Energie zum Aufladen elektronischer Geräte zu gewinnen. Und sollte sie das versuchen, werde sie auf eine ganze Reihe von elektrischen und akustischen Problemen stoßen. "Ich wusste aber, dass die Mathematik stimmte", sagt sie. "Und keiner konnte mich mit ausreichenden Belegen überzeugen, dass es wirklich unmöglich ist." Folglich gründete Perry ein Unternehmen namens uBeam, um die Technologie zu entwickeln. Der uBeam-Transmitter fungiert als direktionaler Lautsprecher und befindet sich zurzeit in der Prototypphase. Er konzentriert den Ultraschall, um einen Energie-Hotspot zu schaffen; ein Empfänger, der an ein elektronisches Gerät angeschlossen ist, nimmt diese Energie auf und wandelt sie in Elektrizität um. Perry plant, die erste Produktserie innerhalb der nächsten zwei Jahre auszuliefern.
Ein allgemeines, kabelloses Ladesystem würde die Vielzahl an inkompatiblen Kabeln und Ladegeräten beseitigen, die wir derzeitig herumschleppen, und Mobilgeräten Strom fressende Aufgaben ermöglichen, ohne dass sich dabei rasch die Batterien entladen. Der Wegfall der Kabel könnte zudem Alternativen für die Innenraumgestaltung schaffen und Gewicht in Flugzeugen, Autos, Raumschiffen oder anderen Fahrzeugen reduzieren, die heute alle mit schweren Kabelnetzen beladen sind. "Im Großen und Ganzen würde uns kabelloses Aufladen von Zwängen befreien, mit denen wir uns heute noch herumschlagen", erklärt Perry. "Es löst uns von der Wand ab." (Rachel Nuwer)
7. Batterien, die geringwertige Abwärme einfangen
Jährlich vergeuden wir zehn Gigawatt potenzieller Energie in Form von industrieller Abwärme – genügend, um zehn Millionen Häuser zu beleuchten. Der thermoelektrische Effekt, bei dem Ladungen durch Temperaturunterschiede entstehen, liefert eine Möglichkeit, Wärme in Strom umzuwandeln – allerdings nicht alles davon. Jahrzehntelang musste der Temperaturunterschied 500 Grad Celsius oder mehr betragen, um auch nur irgendeine nutzbare Menge an Energie zu gewinnen, erklärt Yuan Yang, ein Postdoc am MIT. Das ist natürlich ungünstig, denn die US-Umweltschutzbehörde schätzt, dass etwa ein Drittel der jährlich in den USA verschwendeten Wärmeenergie bei Temperaturen unter 100 Grad Celsius verloren geht.
Yang und seine Kollegen von der Stanford University entwickelten daher eine Technik, die Wärme bei zehnmal niedrigeren Temperaturen einsammelt – und zwar schon ab 50 Grad Celsius. Die ganze Kunst bestand darin, den thermogalvanischen Effekt auszunutzen – ein Cousin des thermoelektrischen Effekts –, bei dem sich sowohl die Temperatur des gesamten Materials als auch dessen Spannung ändert, an Stelle eines Gradienten innerhalb der Batterie. Die Gruppe nahm ungeladene Batterien mit kupferbasierten Elektroden, luden die Zellen auf, während sie heiß waren, und kühlten sie danach ab. Und tatsächlich: Die Batterien lieferten eine höhere Spannung, als zum Laden benötigt worden war. Mit anderen Worten: Die Energie, die zum Erhitzen der Batterie aufgewendet wurde, ließ sich als elektrischer Strom einfangen.
Erst in den letzten beiden Jahren wurden Batterieelektroden ausreichend leistungsstark, um derartige Unterschiede zwischen niedrigen Temperaturen in Elektrizität umzuwandeln. Und bevor das Verfahren marktreif ist, bedürfe es noch einiger Entwicklungsarbeit, erklärt Yang. Aber mit der Zeit könnten Batterien in Serie die Mauern von Fabrikschornsteinen oder Kraftwerken schmücken und dabei minderwertige Abwärme in Strom verwandeln. "Das ist interessant, weil es diese bislang minderwertige Wärme überall gibt", schließt Yang. (Ryan Bradley)
8. Videokameras für Nanopartikel
Elektronenmikroskope mit Nanometerauflösung sind weit verbreitet, aber sie kosten Millionen Dollar, und die Vorbereitung einer Ansichtsprobe ist mühsam. Dieser Ist-Zustand reicht zwar für ein Labor aus, macht aber industrielle Anwendungen unpraktikabel – zum Beispiel das schnelle Abscannen von Produktproben, um eingebettete mikroskopische Wasserzeichen zu suchen. Eine neue Art holografischer Mikroskopie, die von David Grier von der New York University und seinen Kollegen entwickelt wurde, könnte eine Lösung bieten. Das Team ersetzte die hell leuchtende Lichtquelle eines handelsüblichen Zeiss-Mikroskops mit einem Laser und beleuchtete damit das Untersuchungsobjekt: Licht streut von der Probe aus und erstellt ein dreidimensionales Interferenzmuster zwischen dem Laserstrahl und dem gestreuten Licht – ein Hologramm, das dann eine Videokamera aufzeichnet.
Wissenschaftler erstellen bereits seit Jahrzehnten Hologramme von mikroskopischen Objekten, aber es gestaltete sich schon immer schwierig, daraus nützliche Informationen zu ziehen. Und genau hier gewinnt Griers Erfindung an Wert. Sein Forscherteam erstellte eine Software, die dazu im Stande war, auf schnellstem Weg Gleichungen nach unbekannten Parametern aufzulösen, etwa wie Licht von einem kugelförmigen Objekt ausstreut. Diese Parameter enthalten alle möglichen brauchbaren Informationen über das Objekt, das die Streuung verursacht. Die mikroskopische Auflösung im Nanometerbereich ermöglicht den Forschern, Partikel aufzuspüren, die in kolloidalen Lösungen (zum Beispiel nanoskalige Kügelchen, die in einer Farbprobe schwimmen) treiben. Dazu nutzen sie Geräte, die nur ein Zehntel der Kosten für ein Elektronenmikroskop betragen.
Grier erhofft sich von seinem Apparat, dass er die erste schnelle und bezahlbare Anwendung wird, mit der man auf einzelne Teilchen im Kern moderner Produkte blicken kann. Man stelle sich beispielsweise einen Farbeimer oder eine Shampooflasche vor, in der jeder Tropfen Teilchen enthält, die mit der Herstellungsgeschichte des Produkts verschlüsselt sind – wie es hergestellt wurde, in welcher Fabrik und wann. "Ungefähr wie ein Fingerabdruck", meint Grier und fügt hinzu, dass das Mikroskop ebenso einfach eine molekulare Nachricht lesen könne, die in Medikamente, Sprengstoffe oder andere Güter geprägt wurde. (Ben Fogelson )
9. Bausteine in Atomgröße
Generationen von klugen Köpfen wurden von Legosteinen inspiriert, den kleinen Plastikklötzen, die man ineinanderstecken kann. Diese Bausteine wurden zu fantastischen Autos, aufwändigen Schlössern und vielen anderen Gebilden, die größer als die Summe ihrer Einzelteile sind. Heute lässt sich eine ganze Generation von Materialwissenschaftlern von einem neuen Typ Lego inspirieren: Klötze bauen auf atomarer Ebene.
Diese neuen Bauteile bestehen aus Platten eines Materials, das dünn sein kann wie eine einzige Atomschicht. Man kann sie in eine festgelegte saubere Reihenfolge übereinanderstapeln. Diese beispiellose Feinkontrolle kann Dinge mit bislang nicht gekannten elektrischen und optischen Eigenschaften herstellen. Und sie erlaubt Wissenschaftlern, sich Geräte aus Materialien vorzustellen, die Strom mit sehr wenig Widerstand leiten, schnellere und leistungsfähigere Computer, kleidungsartige elektronische Anwendungen, die extrem biegsam, faltbar und leichtgewichtig sind.
Dieser Durchbruch folgt der Entwicklung von Graphen, diesem einzelnen Gitter aus Kohlenstoffatomen, das meine Kollegen und ich 2004 an der University of Manchester in England aus einem massigen Graphitklotz isolierten. Wir bauten diese Platte aus sich wiederholenden sechsseitigen Kristallen – die Atomstruktur gleicht einem Maschendrahtzaun –, indem wir mit Klebeband Schichten von der Mächtigkeit nur eines Atoms vom oberen Teil des Klotzes ablösten. In den vergangenen zehn Jahren fanden Forscher mehrere Dutzend anderer Kristallstrukturen, die auf diese Art und Weise auseinandergezogen werden können – und ihre Zahl steigt schnell und stetig weiter. Beispiele sind Glimmer und Materialien mit exotischen Namen wie hexagonales Bornitrid und Molybdändisulfid.
Diese Kristalllagen gelten als zweidimensional, da ein einzelnes Atom die kleinstmögliche Schichtdicke für jedes Material darstellt; etwas dichtere Kristalle aus drei oder mehr Atomen können ebenfalls genutzt werden. Ihre anderen Dimensionen wie Breite und Länge können um einiges größer ausfallen, je nach den Vorlieben des Herstellers. In den vergangenen Jahren wurden die zweidimensionalen Kristalle zu einem aktuellen Thema in Materialwissenschaft und Festkörperphysik, da sie viele einzigartige Eigenschaften aufweisen.
Man kann die Schichten auf ziemlich stabile Weise stapeln. Sie verbinden sich nicht auf dem üblichen Weg miteinander, etwa über kovalente Bindungen, um Elektronen zu teilen. Aber die Atome ziehen sich gegenseitig an, wenn sie sich in unmittelbarer Nähe zueinander befinden, und zwar durch eine schwache Anziehung namens Van-der-Waals-Kraft. Diese Anziehungskraft ist für gewöhnlich nicht stark genug, um Atome und Moleküle zusammenzuhalten. Da die zweidimensionalen Schichten jedoch so dicht mit Atomen gepackt sind und so eng beisammenliegen, wirkt die geballte Kraft doch beachtlich.
Um die verlockenden Möglichkeiten, die durch diese Art der Werkstofftechnik geboten werden, zu begreifen, denke man nur an die Raumtemperatur-Supraleitfähigkeit. Die Idee, Strom ohne Energieverlust zu leiten und ohne die Leitungen dafür extrem zu kühlen, war über Generationen hinweg ein Ziel von Wissenschaftlern. Wenn es gelingt, derart leitfähige Materialien zu finden, bringt das unsere Zivilisation voran. Es herrscht Konsens, dass dieses Ziel prinzipiell zu erreichen ist, jedoch weiß niemand, wie genau. Heute ist die höchste Temperatur, bei der Materialien supraleitend werden, noch immer unheimlich kalt – jenseits von minus 100 Grad Celsius. Während der letzten beiden Jahrzehnte wurden kaum Fortschritte erreicht.
Erst kürzlich lernten wir, dass einige Supraleiter aus Oxiden ebenso in einzelne Schichten zerlegt werden können. Was würde passieren, wenn man sie wieder in einer anderen Reihenfolge zusammenfügt und zusätzliche Kristallebenen einbaut? Wir wissen bereits, dass die Supraleitfähigkeit innerhalb von Oxiden von einer Trennung der Zwischenschicht abhängt und dass zusätzliche Schichten zwischen den Kristallebenen einige schwach leitende und sogar isolierende Materialien in Supraleiter verwandeln können.
Das eigentliche Experiment zur Prüfung dieses Konzepts wurde bis jetzt allerdings noch nicht durchgeführt, hauptsächlich weil die Technologie zur Herstellung von Legomaterialien auf atomarem Level noch immer in den Kinderschuhen steckt und weil es schwierig ist, komplexe, mehrschichtige Strukturen zusammenzufügen. Vorerst enthalten diese Strukturen kaum mehr als fünf verschiedene Schichten und nutzen für gewöhnlich nur zwei oder drei unterschiedliche Legobausteine: meistens Graphen in Kombination mit zweidimensionalen Kristallen aus nichtleitendem Bornitrid und halbleitenden Materialien wie Molybdändisulfid und Wolframdiselenid. Da die neu geschaffenen Stapel aus einer Vielzahl verschiedener Werkstoffe bestehen, nennt man sie oft auch Heterostrukturen. Zurzeit sind sie ziemlich klein, typischerweise nur um die zehn Quadratmikrometer und damit weniger als der Querschnitt eines menschlichen Haars.
Wenn wir diese Stapel verwenden, können wir Experimente durchführen, mit denen wir nach neuartigen elektrischen oder optischen Eigenschaften und neuen Anwendungen suchen. Ein faszinierender Aspekt: So dünn diese Platten sind, so vollkommen flexibel und transparent sind sie auch. Das eröffnet Möglichkeiten für Licht abstrahlende Geräte, die auf verschiedenste Art und Weise geformt werden können – etwa in Bildschirme, die ge- oder entfaltet werden können, sobald der Benutzer ein größeres Format benötigt. Computerchips, die weniger Energie als gegenwärtige Mikrobausteine verlieren, gehören ebenfalls zu den Möglichkeiten.
Wir gehen davon aus, dass viele der gesuchten Strukturen für die industrielle Anwendung vergrößert werden können, wie es bereits mit Graphen sowie einigen anderen zweidimensionalen Kristallen geschehen ist. Anfänglich stieß man ja ebenfalls nur auf winzige Kristallite von wenigen Mikrometern Länge, aber heute kann man sie in hunderte Quadratmeter großen Platten herstellen. Noch gibt es kein Zaubermittel, um die Welt zu verändern. Dennoch begeistern unsere Erkenntnisse. Zivilisatorischer Fortschritt folgte der Entdeckung neuer Werkstoffe schon immer dicht auf den Fersen: von der Steinzeit über die Bronze- und Eisenzeit bis in die Ära des Siliziums. Nanoskalige Legosteine verkörpern etwas, was es noch nie zuvor gegeben hat. Die Möglichkeiten könnten endlos sein. (Andre K. Geim. Der Autor ist Physiker an der University of Manchester in England. Im Jahr 2010 wurde er für seine Arbeit an Graphen mit einem Teil des Nobelpreises für Physik ausgezeichnet.)
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